Osteuropäische Geschichte und Landeskunde

Exkursionsbericht

(von Sophie Nübling und Antonia Wegner)

Im Juni 2016 veranstaltete das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen eine einwöchige Exkursion in die ukrainische Hauptstadt Kiev (ukr. Kyiv). Die 22 Exkursionsteilnehmer*innen bereiteten sich im Wintersemester 2015/16 intensiv im Rahmen einer universitären Übung auf diese Studienreise vor. Anknüpfungspunkt für unsere Beschäftigung mit der ukrainischen Geschichte bildeten die jüngsten Ereignisse auf dem Maidan, der Krim und in der Ostukraine.

So steuerten wir in Kiev als erstes den Maidan an, auf dem an mehreren Stellen den Opfern der Revolution gedacht wird. Aber wir wurden nicht nur am Maidan, der v.a. in der Wahrnehmung des Auslands Symbol und Namensgeber für die Revolution geworden ist, sondern auch an vielen weiteren Stellen der Stadt mit den Folgen der Revolution und dem Krieg in der Ostukraine konfrontiert. Die Problematik der jüngeren Ereignisse war während der gesamten Exkursion präsent wie auch der Konflikt der Deutung der ukrainischen Geschichte.

Kiev blickt auf eine Jahrhunderte alte Geschichte zurück, die u.a. an der architektonischen Vielfalt ablesen lässt. Die beiden ältesten Bauwerke der Stadt stammen aus dem elften Jahrhundert: das Goldene Tor und die Sophienkathedrale. Das Goldene Tor ist heute nur noch in einer Rekonstruktion erhalten und fügt sich harmonisch in die moderne Metropole ein. Durch die Sophienkathedrale wurden wir von der wissenschaftlichen Leiterin der Exkursionsabteilung dieses UNESCO-Weltkulturerbes, geführt. Sie zeigte uns Bereiche, die normalerweise Besuchern nicht zugänglich sind, und wies uns auf allerlei interessante Details dieses beeindruckenden Bauwerks hin. Durch ihre informativen Erläuterungen machte sie deutlich, welche Herausforderung der Erhalt und die Pflege eines derart geschichtsträchtigen Gebäudes stellt und zu welchen neuen und zum Teil erstaunlichen Erkenntnissen man bei der damit verbundenen wissenschaftlichen Arbeit gelangen kann. Ein weiterer Höhepunkt bei der Besichtigung des geistlichen Kievs war der Besuch des Höhlenklosters, durch das wir auf deutsch von Dr. Sergeij Bortnyk, Dozent der Kiever Theologischen Akademie, geführt wurden. Er zeigte uns nicht nur das Klostergelände mit seinen Kirchen, sondern führte uns in einen Teil des Höhlensystems dieses ältesten Klosters der Kiever Rus’ (vermutliche Gründung 1051). Außerdem besichtigten wir noch die Andreaskirche (Mitte des 18. Jahrhunderts), das rekonstruierte Michaelskloster und die Vladimirkathedrale (19. Jahrhundert), die als wichtigste Kirche des Kiever Patriachats gilt. Insgesamt erhielten wir durch die Besichtigung dieser verschiedenen geistigen Stätten einen spannenden Einblick in orthodoxe Glaubenspraktiken sowie die Bedeutung der Orthodoxie für die Geschichte und Identität der Ukraine (besonders im Konflikt mit anderen Religionen, z.B. dem polnischen Katholizismus und der russischen Orthodoxie).

Die Führung durch das Stadtmuseum Kievs von Oleksa Gajda, eine Doktorandin und Mitarbeiterin des Museums, frischte bei uns die Geschichte von den Anfängen der Stadt bis zur Gegenwart wieder auf. Die vielfältigen Objekte veranschaulichten den Aufbruch Kievs in die „Moderne“. Im 19. Jahrhundert erlebte Kiev einen gewaltigen Modernisierungsschub, der Wohlstand einiger Unternehmer schlug sich in dem Bau repräsentativer Gebäude nieder: Bei unseren ausgedehnten Spaziergängen durch die Stadt kamen wir an vielen Gebäuden des Historismus und Jugendstils vorbei. Besonders eindrücklich war der Besuch des Schokoladenhauses, dessen Zimmer in jeweils unterschiedlichen Stilen gestaltet sind (maurischer, barocker, japanischer Stil, Renaissance- und Jugendstil). Ein Beispiel für besonders expressiven Jugendstil ist das Haus der Chimären, das heute als Gästehaus der Regierung genutzt wird.

Dem kulturellen Leben Kievs zu Beginn des 20. Jahrhunderts näherten wir uns durch den Besuch des Bulgakov-Museums und die Lektüre von Michail Bulgakovs Roman „Die weiße Garde“, welcher von den Revolutionswirren in Kiev handelt. Das zunächst etwas ungewöhnlich erscheinende Museumskonzept gewährte in seiner liebevollen Gestaltung lebhafte Einblicke in das Leben der Familie Bulgakov.

Über Bulgakov kommen wir im sowjetischen Kiev an, das eine Vielzahl an charakteristischen Denkmälern und Gebäuden hervorgebracht hat, die auch auf die konfliktreichen Erinnerungsnarrative verweisen. Wohl als das imposanteste Bauprojekt kann die Neugestaltung der Kiever Prachtstraße Chreščatik gelten. Die ursprünglichen Pläne einer sowjetischen Parade- und Aufmarschstraße konnten wegen des Zweiten Weltkrieges nicht umgesetzt werden. Nachdem sowjetische Kräfte während der deutschen Besatzung einige Gebäude der Hauptstraße gesprengt hatten, wurde der Chreščatik nach Kriegsende im Moskauer Stil wiederaufgebaut. Für die Straße ist der einheitliche sowjetische Prachtstil charakteristisch. Außerdem lassen sich überall in der Stadt sowjetische Bauwerke finden, so z.B. Metrostationen, Theatergebäude, Arbeiterclubs und Wohnsiedlungen. Der sowjetische Stil zeigt sich jedoch nicht nur in Gebäuden, sondern auch in Denkmälern. Am auffälligsten ist natürlich die Mutter Heimat-Statue, die über der Stadt thront. Sie ist Teil der großen Anlage rund um das „Nationale Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg“, das bis vor kurzem noch „Nationales Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ hieß. Allein diese Umbenennung verdeutlicht den Streit um Erinnerung und Deutung in der Ukraine als ehemalige Sowjetrepublik.

Die gesamte Eingangshalle des Museums widmet sich in fast schon verstörender Weise dem gegenwärtigen Krieg in der Ostukraine, was abermals auf die enge Verknüpfung von Geschichtsdeutung und aktueller Sinnstiftung verweist. Die 16 Ausstellungshallen, die chronologisch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs behandeln, sind mit Objekten überladen und mystifizieren ukrainisches Heldentum. Erstaunlich wenig Raum wird dem Holocaust gewidmet, der direkt nach dem Zweiten Weltkrieg ein Tabuthema der Sowjetunion war. Diese Tabuisierung zeigte sich besonders eindrücklich auch an der heutigen Parkanlage in Babyn Jar, wo bis heute noch keine gemeinsame Gedenkform für die Opfer des Massakers 1941–1943 gefunden wurde. Das erste Mahnmal wurde erst 1976 im sowjetischen Stil errichtet und benennt nicht die Juden als größte Opfergruppe, sondern spricht ausschließlich von sowjetischen Bürgern. Bis heute wurden zahlreiche weitere Denkmäler im Park verteilt errichtet, die jeweils einzelnen Opfergruppen gewidmet sind, unter anderem 1991 eine Menora.

Einen zentralen Platz im ukrainischen Gedächtnis nimmt der Holodomor, die große Hungersnot von 1932 und 1933, ein. Zusammen mit Sergej Bortnyk besuchten wir das postsowjetische Holodomor-Denkmal und das dazugehörige Museum. Interessant ist, dass diese Hungernöte von der ukrainischen Regierung mittlerweile als Genozid an der ukrainischen Bevölkerung bezeichnet werden, die durch das sowjetische Stalinregime planmäßig initiiert wurden. Auch wenn in diesem Fall zweifellos Hunger zur Vernichtung großer Bevölkerungsteile eingesetzt wurde, ist die Bezeichnung als Genozid fragwürdig bzw. problematisch. Die Maßnahmen richteten sich hauptsächlich gegen bäuerliche Bevölkerungsteile und nicht gegen die ukrainische Gesamtbevölkerung. Die Bezeichnung als Genozid jedoch ist eine geschichtspolitische Entscheidung zur Abgrenzung von Russland.

Eine weitere Katastrophe der ukrainisch-sowjetischen Geschichte, mit der wir uns eingehend beschäftigten, war die Tragödie von Čornobilʾ 1986. Zunächst besichtigten wir das Čornobilʾ-Museum in Kiev, dessen Museumskonzept bei uns auf Kritik stieß: Die Fülle an Objekten, die häufig unkommentiert blieben, dramatische Lichtinstallationen und die Glorifizierung der Liquidatoren erschienen uns fraglich, vor allem, weil für Grundschulklassen der Besuch des Museums verpflichtend ist. Bei unserem Ausflug in die letzte sowjetische Planstadt, Slavutič, beschäftigten wir uns abermals mit dem Unglück: Slavutič wurde binnen zweier Jahre nach der Katastrophe errichtet, um den evakuierten Bewohnern der Atomstadt Pripjatʾ ein neues Zuhause zu geben. Die Stadt entstand als Gemeinschaftsprojekt von acht Sowjetrepubliken, die sich jeweils für die Errichtung eines Stadtviertels verantwortlich zeigten. Hier wurden wir von dem Direktor und Gründer des örtlichen Museums zunächst durch das Museum und anschließend durch die Stadt geführt. Die Stadt ist sehr grün und großzügig angelegt; auffallend war die sehr junge Bevölkerung. Dennoch wirkten die Gebäude auf einige der Studierenden trist und die Stadt recht ausgestorben.

Auf dem Rückweg von Slavutič nach Kiev legten wir einen Zwischenhalt im schönen Černihiv, der Hauptstadt des gleichnamigen Fürstentums vom 11.–13. Jahrhundert, ein. Ein wichtiger und schöner Programmpunkt der Exkursion war das Treffen mit ukrainischen Studierenden der Mohyla-Akademie. Nachdem uns die Studierenden ihre Universität gezeigt hatten, hörten wir zwei Vorträge: den ersten über deutsche Erinnerungskultur von einer deutschen Studentin, den zweiten über ukrainische Erinnerungspolitik von einer ukrainischen Studierendengruppe. Anschließend diskutierten wir die aufgekommenen Fragen und Thesen und führten die Gespräche mit den ukrainischen Studierenden im informellen Rahmen beim Abendessen fort. Wir freuten uns sehr über die Aufgeschlossenheit und Kontaktfreude unserer ukrainischen Kommilitonen.

Kiev hat uns allen sehr gut gefallen. Wir haben das lebendige, entspannte Flair der Stadt genossen. Ihre architektonische Vielfalt, ihre vielen Parkanlagen, ihr südländischer Charakter mit den langen Uferpromenaden am Dnjepr, ihr kulturelles wie auch kulinarisches Angebot sowie das durchweg gute Wetter haben für eine abwechslungsreiche Woche gesorgt, was sich sicherlich auch auf die außerordentlich gute Gruppendynamik ausgewirkt hat. Die Atmosphäre zwischen den Studierenden und Dozenten war locker, zwanglos und harmonisch, sodass die Exkursion zu einem einmaligen und unvergesslichen Erlebnis für uns alle wurde. Unser Dank gilt deswegen auch Frau Schierle, Frau Kucher und Herrn Gestwa für die sorgfältige Organisation, den reibungslosen Ablauf und die kompetente Einführung in die Thematik!