In der Rückschau erscheint die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wie ein Rausch des Fortschritts: Mit der Entschlüsselung der DNA schien der Traum greifbar, einen Großteil der Krankheiten besiegen zu können. Das bis in die 70er Jahre anhaltende starke Wirtschaftswachstum, war so überwältigend, dass diesem Phänomen der Begriff des „Wunders“ zugeordnet wurde. Die heutige Generation wächst hingegen in einer anderen Welt auf, einer, in der der Begriff „Krise“ im Mittelpunkt steht: Klimakrise, Krise der Gesundheitsversorgung, Krise der Rentenversorgung.
„Wunder“ und „Krise“ stehen dabei nicht unabhängig nebeneinander. Das „Wunder“ hat in gewissem Maße die „Krise“ mitbedingt, sodass Fortschritt heute auch bedeutet, dem Fortschritt entgegenzuwirken: Eine Mäßigung der Industrie und ein vorsichtiger Umgang mit „künstlicher Intelligenz“. Fortschritt ist also ein normativer Begriff. Er ist stets mit Erwartungen und Zielen verbunden, die kontext- und zeitabhängig variieren. Entsprechend vielfältig sind die Kriterien, an denen er gemessen wird. Für die Wissenschaft bedeutet das: Wenn wir ihre Entwicklung und ihren Fortgang betrachten, müssen wir klären, was denn eigentlich als wissenschaftlicher Fortschritt angesehen werden soll – und was nicht.
Direkt verbunden mit dem wissenschaftlichen Fortschritt sind Scheitern und Misserfolg in den Wissenschaften. Gerne werden diese Momente im Diskurs ausgeblendet, doch wer über den Fortschritt spricht, darf auch vom Scheitern nicht schweigen. „Scientific error“ werfen die Frage nach den richtigen Formen wissenschaftlichen Schließens (etwa Replikationskrise) und zur Zuverlässigkeit der Wissenschaft als Wissensquelle auf, wodurch auch ihre epistemische Autorität in der Gesellschaft und bei politischen Entscheidungsprozessen gefährdet wird.
Rückwirkend hat dies wiederum Auswirkungen auf die Gesellschaft: Der Glaube über Fortschritt und Scheitern bestimmter Forschungsfelder prägt deren Zukunft. Wie eine selbst erfüllende Prophezeiung entscheidet der Fortschrittsglaube über die Finanzierung und Ausstattung eines Forschungsfeldes und damit über deren Einfluss auf die zukünftige Gesellschaft.
Im Studienkolleg wollen wir u.a. folgenden Fragen gemeinsam nachgehen:
• Wie charakterisieren wir wissenschaftlichen Fortschritt? Lassen sich objektive Kriterien ausmachen? Gibt es verschiedene Typen von Fortschritt?
• Welche Rolle spielen Umbrüche für die Vorstellung von einem linearen und kumulativen Fortschritt in den Wissenschaften?
• Welche Rolle spielt Scheitern und wissenschaftlicher Irrtum, historisch und systematisch, für die Wissenschaften? Variieren die Mechanismen, Formen und Zuschreibungen des Scheiterns in unterschiedlichen Disziplinen und Wissenschaftskulturen?
• Wie fällt die Wahrnehmung und Bewertung von Fortschritt und Scheitern in den einzelnen Disziplinen aus?
• Was sind Wechselwirkungen von Fortschritt in den Wissenschaften und in der Gesellschaft?