Am Donnerstag der vergangenen Woche hat es die beim deutschen Caritasverband für kollektives Arbeitsrecht und für Tariffragen zuständige Arbeitsrechtliche Kommission (Bundeskommission) abgelehnt, der Allgemeinverbindlicherklärung des von der Gewerkschaft Ver.di mit dem Arbeitgeberverband BVAP ausgehandelten Tarifvertrags Altenpflege zuzustimmen. Mit diesem Beschluss scheitert das Vorhaben, den Tarifvertrag Altenpflege per Rechtsverordnung für die gesamte Branche allgemein verbindlich zu setzen und so die bundesweit geltenden Mindestbedingungen für die Altenpflege anzuheben.
Diesen Beschluss kritisieren katholische Sozialethikerinnen und Sozialethiker, ProfessorInnen an Fakultäten oder Instituten für Katholische Theologie, in einer gemeinsamen Stellungnahme. Dadurch, dass ein Teil der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas eine Rechtsverordnung auf der Grundlage des Tarifvertrags Altenpflege verhindert hat, würden die Caritasverbände und deren Einrichtungen der dringend notwendigen Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Altenpflege im Wege stehen. Dadurch würden sie die Gemeinwohlorientierung der gesamten Caritas und all ihrer Einrichtungen untergraben. Zugleich würden sie die Caritas in einen eklatanten Widerspruch zu grundlegenden Maßstäben der kirchlichen Sozialverkündigung setzen. Dem sowieso ramponierten gesellschaftlichen Ansehen der katholischen Kirche würden sie weiteren Schaden zufügen.
Sich für einen einheitlichen Tarifvertrag einzusetzen, sei für die Caritas vor allem eine Frage der Solidarität mit den Pflegepersonen, die zumeist in privat-gewinnwirtschaftlicher Träger zu schlechten Arbeitsbedingungen und geringen Löhnen beschäftigt sind. Mit der Ablehnung des einheitlichen Tarifvertrags Pflege würde, so urteilen die SozialethikerInnen, die Arbeitsrechtliche Kommission und in deren Folge die gesamte Caritas diese Solidarität verweigern. Dass der Caritasverband vor diesem Hintergrund noch glaubwürdig als Anwalt für die Interessen von Benachteiligten auftreten könne,
sei unwahrscheinlich. Er werde öffentlich an diese Solidaritätsverweigerung erinnert und von daher beurteilt.
Mit dem Beschluss mache es bis auf Weiteres unmöglich, mit einem für alle Anbieter verbindlichen Tarifvertrag dem Preiswettbewerb der Anbieter um möglichst geringe Arbeitskosten und d.h. möglichst schlechte Entlohnung verlässlich entgegenzutreten. Auf die Dauer wird sich dies auf die Arbeitsbedingungen und -einkommen aller Erwerbstätigen der Pflegebranche negativ auswirken und auch die Arbeitgeber der Caritas selbst unter Druck setzen, Arbeitskosten zu sparen. Insofern zeuge es von betriebswirtschaftlicher Kurzsichtigkeit und einem Mangel an ökonomischen Sachverstand, nebenbei auch von Missachtung der kirchlichen Sozialverkündigung, wenn die Arbeitgeber der Caritas als Begründung für ihre Ablehnung erklären, sie setzten auf den »Wettbewerb von Tarifwerken«.
Das abschließende Urteil der SozialethikerInnen: Eine Caritas, die sich einheitlichen Tarifverträgen für die öffentliche Daseinsvorsorge widersetzt, setze sich in Widerspruch zu dem eigenen Anspruch, ein verantwortlicher Sachwalter der öffentlichen Daseinsvorsorge zu sein. Die Weigerung, dem Tarifvertrag Altenpflege zuzustimmen, dürfe nicht das »letzte Wort« der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas gewesen sein. Die SozialethikerInnen fordern die Kommission und darin vor allem die Arbeitgeberseite auf, ihre Entscheidung zu revidieren. Sie empfehlen den bei der Caritas und ihren Einrichtungen Beschäftigten, ihren »Dienstgebern« machtvoll entgegenzutreten und die Unterstützung ihrer Caritas für einen einheitlichen Tarifvertrag Altenpflege zu erstreiten.
Stellungnahme von Sozialethikerinnen und Sozialethikern an Fakultäten und Instituten für Katholische Theologie »Sozialethische Stellungnahme zur Weigerung der Caritas, einem einheitlichen Tarifvertrag Altenpflege zuzustimmen« vom 4. März 2021.
Zur Begründug für die Ablehnung des Tarifvertrags Altenpflege wurde angeführt, dass bei einer Allgemeinverbindlichkeit dieses Tarifvertrags die Einrichtungen der Caritas in Pflegesatzverhanmdlungen wegen ihrer höheren Tarife unter Druck geraten würden. In der Erklärung der SozialethikerInnen wurde dies mit Hinweis auf § 84 Abs. 2 SGB XI bestritten.
Um den Schaden der Ablehnung – zumindest in der Öffentlichkeit – abzuwehren, hat die Caritas seither in ihren Verlautbarungen und Interviews eine Pflegereform gefordert, in der die Tarifbindung eines Pflegedienstleisters zur Bedignung für einen Versorgungsvertrag gemacht wird. Das hätte zwar kein einheitliches Tarifsystem zur Folge, aber eine durchgängige Tarifbindung. Statt die eigene Arbeitsrechtliche Kommission zu kritisieren, hat man auf das »Haus Spahn« gesetzt.
Das »Haus Spahn« hat inzwischen geliefert – und einen Arbeitsentwurf für die Pflegereform vorgelegt. In seinem Blog hat Stefan Seil diesen Entwurf auf diese Frage hin durchgesehen - und macht diese Entdeckung: Zwar wird die allgemeine Tarifbindung vorgesehen, wenn auch nicht so eindeutig, wie man sich das (nicht nur) vonseiten der Caritas gewünscht hat. Zugleich wird eine Wirtschaftlichkeitprüfung für die Tarifverträge eingeführt: In Pflegesatzverhandlungen sollen nicht Tarife per se als wirtschaftlich gelten, sondern nur dann, »wenn der Tarifvertrag oder die kirchliche Arbeitsrechtsregelung, nach der oder nach dem entlohnt wird, eine nach ortsüblichen Maßstäben wirtschaftliche Entlohnungsstruktur vorsieht.« Tarifverträge sollen also in Pflegesatzverhandlungen auf ihre Wirtschaftlichkeit nach dem Pinzip der ortsüblichen Entlohnung geprüft werden.
Wenn der Arbeitsentwurf so als Gesetz kommen würde, käme tatsächlich das von der Caritas befürchtete Ende höherer Tarife in Pflegesatzverhandlungen – nun aber nicht nur den von der Caritas abgelehnten einheitlichen Tarifvertrag Altenpflege, sondern durch die von der Caritas beschworene Pflegereform. Zurecht kommentiert Stefan Seil: »Das wäre aus Sicht der kirchlichen Verbände ein wirklich ›tolles Ergebnis‹ – man hätte sich doppelt ins Knie geschossen, einmal wegen des enormen Image-Schadens, den man sich durch die Ablehnung des Tarifvertrags eingehandelt hat und dann auch noch durch eine die heutige beklagte Situation sogar noch verschlechternde Regelung seitens des Gesetzgebers.«
Stefan Sell (2021): Von einem „schlechten Tag für die Pflege« über die absehbare Festschreibung eines weitgehend tariffreien Geländes bis hin zu den gefährlichen Untiefen »ortsüblicher Löhne«. Anmerkungen zum Arbeitsentwurf für ein Pflegereformgesetz, in: Aktuelle Sozialpolitik, 19.03.2021, online.