Das literarische Werk von Elie Wiesel erstreckt sich über ein halbes Jahrhundert: Von L’Aube, 1961 bei Seuil veröffentlicht (dt. Morgengrauen), bis zu Otage, 2010 bei Grasset erschienen (bisher keine dt. Übersetzung) hat der Autor siebzehn Romane und zwei kurze Theaterstücke geschrieben. Die meisten dieser Texte sind heute in mehrere Sprachen übersetzt, und einige von ihnen wurden mit renommierten Preisen ausgezeichnet: dem Prix Rivarol für La Ville de la chance (1962) (dt. Gezeiten des Schweigens), dem Prix Médicis für Le Mendiant de Jérusalem (1968) (dt. Der Bettler von Jerusalem) und dem Grand Prix du roman de la Ville de Paris für Le Cinquième Fils (1983) (dt- Der fünfte Sohn). Im Laufe dieses umfangreichen und vielfältigen Werks tauchen eine ganze Reihe von Themen auf, die der Schriftsteller immer wieder neu bearbeitet: Jüdische Kultur und Religion, Erinnerung und Spuk (mit einer oftmals fantastischen Dimension), die Vergangenheit des Konzentrationslagers als Hindernis für das gegenwärtige Leben, das Motiv des eingesperrt seins und der Gefangenschaft, die Frage des Zeugnisses, der Verantwortung und des Urteils, die Figur des jüdischen Vordenkers, der Platz Gottes nach Auschwitz, etc.. Die Kohärenz des Werkes, das immer wieder dieselben Motiven erforscht – ohne jemals in eine bloße Wiederholung zu verfallen – erklärt sich zum Teil dadurch, dass es von ein und demselben Ursprung ausstrahlt: La Nuit (1956). Dieser autobiografische Text ist sowohl der Grundstein als auch das energetische Herz von Wiesels fiktionalem Werk, als ob die Literatur das Zeugnis mit anderen Mitteln fortsetzen würde.
In den Romanen und Theaterstücken studieren wir unter anderem die besondere Art und Weise, in der Elie Wiesel Fiktion und Spiritualität miteinander verknüpft. So fragen wir beispielsweise: Wie betrachtet er die Suche nach Gott und den Platz des Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Shoah? Wie schreibt er die Religion als bedeutungsvolle und „humanisierende“ Beziehung wieder in die Gesellschaft seiner Zeit ein? Außerdem soll untersucht werden, inwiefern Wiesels Werk in einer Zeit des wieder aufkeimenden Antisemitismus die Erinnerungskultur fördert und gleichzeitig in Frage stellt. Es wird einerseits darum gehen, das Werk in die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Lagerliteratur, einzuordnen, und andererseits, die komplexen Beziehungen zwischen Fiktion und Zeugnis, die ethische Dimension des Schreibens und die Verflechtung des Philosophischen und des Literarischen zu hinterfragen.