Prof. Dr. Möhring-Hesse & Manuela Wannenmacher
›Kontingenz‹ – das klingt nach einem hochabstrakten, nein: allzu abstrakten Thema. Stinklangweilig und daher nichts, womit man sich ein ganzes Semester freiwillig beschäftigen möchte. Wenn man sich dennoch ein wenig damit beschäftigt, dann merkt man schnell, wie spannend dieses Thema und wie relevant es ist: Politik kann es nur dort geben, wo gesellschaftliche Verhältnisse nicht so sind, wie sie notwendigerweise sein müssen. Nur dort, wo gesellschaftliche Verhältnisse kontingent sind, also nicht notwendig so sind, wie sie sind, können Menschen sinnvoll darüber streiten, wie sie denn sein sollen, und sie können ihre Verhältnisse auch so ›machen‹, wie sie sein sollen. Wenn wir uns unsere gesellschaftlichen Verhältnisse erklären, dann sind wir dennoch auf Notwendigkeiten aus. Wir wollen wissen, warum etwas genau so ist, genau so wurde oder wie es denn werden wird. Sozialwissenschaften bedienen diese Erwartungen – und erzeugen durch ihre Erklärungen Notwendigkeiten. Sie treiben den gesellschaftlichen Verhältnissen ihre Kontingenz aus. In diesem Seminar wollen wir den Geheimnissen von ›Kontingenz und Gesellschaft‹ auf die Spur kommen. Wir wollen klären, wie sich die Kontingenz gesellschaftlicher Verhältnisse ›verteidigen‹ lässt, ohne deswegen auf deren Erklärung verzichten zu müssen. Dass wir uns dazu durch Theorien ›hindurcharbeiten‹ müssen, sei zugestanden. Dies als Warnung für alle Studierenden, die ›Theorie‹ stinklangweilig finden.
Literatur
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Vogt, Peter (2011): Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin: Akademie Verlag.