Religionspädagogik

Werkserschließung

Biblisch-talmudisch-chassidische Schriften

Elie Wiesel gliedert seine Jüdischen Werke stricto sensu in drei Teile: Nacherzählungen erstens biblischer, zweitens rabbinischer und drittens chassidischer Geschichten. Er nennt diese Nacherzählungen Célébrations, so der 1994 bei Seuil erschienene Band, der Wiesels Célébration biblique (1975), die Célébration talmudique (1991) und Célébration hassidique I und II (1972 u. 1981) umfasst. Eine „Célébration“ besteht in der Regel aus einer Reihe von Einzel-, Doppel- oder Gruppenportraits von biblischen Heldinnen und Helden, rabbinischen oder chassidischen Meistern.

Zu Lebzeiten hat Wiesel sieben derartige „Portraitgalerien“ mit Untertiteln wie „Biblical, Talmudic, and Hassidic Portraits and Legends“ sowie über 90 Portraits veröffentlicht (s. Liste unten). Eine solche Feier ist aber nichts für einen trockenen Philologenverein; die historisch-kritischen Maßstäbe greifen zu kurz. Eher denkt man bei diesen panegyrischen Doxo- bzw. Hagiographien an weinselige traditionelle Erzählrituale. Das heißt aber nicht, dass Wiesels Célébrations nicht auf zuverlässiger Quellenkunde gründen. Schließlich besaß Elie Wiesel nicht nur eine umfassende traditionelle Kenntnis der biblischen, rabbinischen und chassidischen Literatur. Er „lernte“, wie er in einer vorangestellten Bemerkung zur Célébration talmudique angibt, regelmäßig mit Meistern der historischen Kritik wie Saul Liebermann und David Weiss-Halivni und war seit 1972 selber Professor für Jüdische Studien, zuerst an der City University of New York und seit 1978 an der Boston University.

Seine Célébrations hat er in diesem akademischen Rahmen und für seine Lehrtätigkeit verfasst. Jedenfalls muss man seine Célébrations, die durchaus auch einen historischen Wahrheitsanspruch erheben und mit Landkarten und chronologischen Tabellen arbeiten, von ausgesprochen legendarischen Stoffen unterscheiden, die er mit Illustrationen von Mark Podwal veröffentlicht hat, so: The Golem. The Story of a Legend (1983), The Six Days of Destruction: Meditations towards Hope (1988), King Solomon and his Magic Ring (1999), The Tale of a Niggun (1978/2020). Es ist daher möglich und wünschenswert, seine Portraits mit einem wissenschaftlichen Quellennachweis auszustatten und mit Hinweisen auf Wiesels Quellenbearbeitung zu begleiten, wie schon probeweise im Band Raschi. Ein Portrait (2015) geschehen.

Die Kommentierung muss aber noch tiefer greifen, weil der Begriff „Nacherzählung“ dem Ehrgeiz des Porträtisten keineswegs gerecht wird. Wiesel verstand sich nicht als Anthologe erbaulicher und unterhaltsamer Majsse-Bücher. Er suchte vielmehr aus den verstreuten Erzählungen über einen Ur- oder Erzvater, über einen Rabbi oder Rebben ein scharfes psychologisches Profil, ein historisches Problem oder ein religiöses Programm herauszuarbeiten. In diesem Sinn sind die portraitierten Personen allgemeine Exempel und seine Überschriften lauten demgemäß: „X oder x“: „Rabbi Akiwa ben Josef oder die Liebe des Absoluten“, „Elischa ben Abuja. Rebell oder Häretiker“. Man könnte auch sagen, dass seine Portraitgalerie eine Typologie und Topologie des Judentums versucht, eine Aneinanderreihung von Wesen und Begriffen, deren Summe das Phänomen erschöpfend beschreiben.

So stehen etwa die neun Portraits im Buch über die chassidischen Meister Célébration hassidique II (1981) für jeweils einen besonderen Aspekt der chassidischen Spiritualität, die zusammengenommen das ganze Spektrum der chassidischen Einstellungen und Haltungen abdecken sollen: „Rabbi Pinhas de Koretz ou la sagesse hassidique“, „Rabbi Aharon von Karlin ou la ferveur hassidique“, „Rabbi Wolfe de Zbarazh ou l’hummilité hassidique“ usw. Dass seine Portraits dabei nie zu unlebendigen Allegorien werden, ist dem Umstand geschuldet, dass der Reteller als Novellist und Reporter ein feines Gespür für den religiösen Skandal hat und mit pikanten Details würzt.  Eine genauere Charakteristik von Elie Wiesel als Erzähler bleibt einer ergänzenden Studie vorbehalten.

Elie Wiesels Vision des Judentums ist geprägt von seinen französischen Lehrjahren. Seine entscheidenden philosophischen und literarischen Eindrücke empfing er im Nachkriegsfrankreich und Französisch blieb zeitlebens seine Dichtersprache. Im Renouveau Juif nach der Libération existierte eine Art Arbeitsteilung: Léon Askénazi war für die Pensée juive, André Neher für die Leçon biblique, Emmanuel Lévinas für die Lecture talmudique und Elie Wiesel für die Légende hassidique zuständig. Die Meisterdenker des Renouveau Juif kannten sich und teilten wesentliche Voraussetzungen. Sie waren alle Überlebende dessen, was man in ihrem Kreis schon damals „Shoa“ nannte, womit im Gegensatz zu „Churban“ eine nicht wiedergutzumachende Zerstörung ausgedrückt wird. Sie waren in der „Stunde Null“, teilweise noch während der deutschen Besatzung und Vernichtung, zum geistigen Wiederaufbau des jüdischen Lebens angetreten. Dabei standen sie nicht nur vor den Aschehaufen des europäischen Judentums, sondern auch vor den Ruinen der abendländischen Zivilisationen mit ihren gebrochenen Versprechen von Fortschritt, Emanzipation und Assimilation.

Nach dieser Katastrophe war eine vollständige Revision ihrer jüdischen wie ihrer europäischen Identität fällig. Es kam nicht mehr in Frage, das jüdische Denken wie in der Academia vordem allgemein üblich als Fußnote zum griechischen, arabischen oder deutschen Denken zu behandeln; für sie war das jüdische Denken und das durch das Martyrium geadelte jüdische Schicksal eine Botschaft von universaler Tragweite. Léon Askénazi hat es einmal so ausgedrückt: „D’emblée, la ‚pensée juive‘ se formulait comme universelle à sa manière.“ Anstelle der liberalen Apologetik, die sich in den Jahren der Verfolgung als vollkommen wirkungslos erwiesen hatte, sollte eine stolze Selbstbehauptung und eine Beweislastumkehr treten. „C’est un renversement radical de cette attitude que nous avons connu. Subitement nos livres devenaient de grands livres. C’était la pensée dite universelle qui, à son tour, devait être évaluée aux critères de la conscience juive“ (Jacob Gordin, Écrits. Le renouveau de la pensée juive en France, Paris 1995, S. 15).

Kürzlich hat Frau Dr. Sandrine Swarcz in ihrem Buch Fascinant Chouchani (2022), mit Chouchani, dem Talmudlehrer von Lévinas und Wiesel, dieses geistige Milieu, wieder aufleben lassen. Frau Dr. Carina Brankovic erforscht an der Elie-Wiesel-Forschungsstelle, Zweigstelle Potsdam, darüber hinaus die allgemeinen philosophischen und literarischen Einflüsse auf den jungen Elie Wiesel im Nachkriegsfrankreich. Das war der geistige Anspruch mit dem der reife und späte Wiesel seine Portraits entworfen hat, nun freilich auf allen Feldern, den biblischen, talmudischen und chassidischen. Da die drei Teile im jüdischen Werk Elie Wiesels drei besondere Disziplinen in den Jüdischen Studien zugeordnet sind, wird die Bandbearbeitung von entsprechend ausgewiesenen ExpertInnen übernommen.