Medizinische Fakultät - Tropenmedizin und Tropeninstitut

Bereits im 19. Jahrhundert wurden tropenmedizinische Erkrankungen in Tübingen untersucht – u.a. von der herausragenden Tübinger Persönlichkeit Ferdinand Gottlieb von Gmelin (1782-1848) – und erste Forschungsnachweise reichen bis ins Jahr 1851 zurück. Trotz dieser frühen Erkenntnisse wurde die erste offizielle Professur für Tropenmedizin erst im Jahr 1917 an Gottlieb Olpp verliehen und die formale Gründung eines eigenständigen tropenmedizinischen Instituts erfolgte sogar erst 1956 (Krisch 2017).

Obwohl die Adresse des ersten formal gegründeten tropenmedizinischen Instituts die Wilhelmstraße 27 ist, stellt der Hauptsitz des „Deutschen Instituts für Ärztliche Mission“ (Difäm) in der Nauklerstraße 47 – in Bezug auf die koloniale Vergangenheit der Tübinger tropenmedizinischen Fachrichtung – die wesentlich relevantere Adresse dar. Das Gebäude, welches zugleich als Wohn- und Studienheim angehender Missionsärzte diente, wurde am 01. April 1909 offiziell eröffnet Aktuell fungiert es als Sitz der universitären Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (Zauner 2002: 166).

Geschichte der kolonialen Tropenmedizin

Zu Zeiten des aktiven deutschen Kolonialismus (1884-1919) stellte die Tropenmedizin „eine tropenhygienisch ausgerichtete Kolonialmedizin“ dar, was bedeutet, sie gewährleistete die „medizinische Versorgung“ und „gesundheitliche Betreuung“ von in den Tropen lebenden und arbeitenden Europäern, wofür sie auch „präventiv-medizinische“ Untersuchungen, wie beispielsweise Tropentauglichkeitsprüfungen, anbot. Praktiziert wurde diese Medizin hauptsächlich von Marinesanitätsoffizieren, welche ihren Dienst in deutschen Schutzgebieten ableisteten, um „die Gesundheit der Kolonisatoren zu bewahren“ (Hulverscheidt 2016: 71). Parallel hierzu – bedingt durch den Aufschwung der Bakteriologie, welche im Gegensatz zur bis dato verbreiteten „Miasmalehre“ nicht mehr klimatischen Bedingungen oder mangelnde Luftqualität als Ursache für Krankheiten ansieht (Diercks 2019) – entwickelte sich ein zweites großes Aufgabengebiet der Tropenmedizin: Die Erforschung von „erregerausgelösten, vektorbedingten Krankheiten wie Malaria, Schlafkrankheit und Gelbfieber“ (Hulverscheidt 2016: 71). Das „koloniale“ an dieser tropenmedizinischen Spielart lag in der Art und Weise, wie „Laborbedingungen“ für diese Forschung geschaffen und Kolonisierte hierfür systematisch „missbraucht“ wurden (Ehlers 2019: 18). Ein prominentes Beispiel gefährlicher Humanexperimente, welche aufgrund einer erstarkenden deutschen Öffentlichkeit ausschließlich in Kolonien an der indigenen Bevölkerung – oftmals unter Anwendung von Gewalt in hierfür eingerichteten Internierungslagern – stattfand, bildet die von Robert Koch mitinitiierte Erforschung der Schlafkrankheit in Deutsch-Ostafrika.

Trotz des im Versailler Vertrag geregelten Verlusts der deutschen Kolonien, wodurch die Subdisziplin neben ihrem Versorgungs- auch ihr wichtiges Erprobungsfeld verlor, gelang es der Tropenmedizin dennoch bis in die postkoloniale Phase zu bestehen. In der Hoffnung auf die Wiedererlangung der Kolonien im Zuge der geplanten Expansion des nationalsozialistischen Deutschlands, erfreute sich die Tropenmedizin ab 1937 einer erneuten starken Aufmerksamkeit (Hulverscheidt 2016: 72). In der Folge fanden erneut  „menschenverachtende und todbringende Versuche an Häftlingen in Konzentrationslagern“ (Hulverscheidt 2016: 72) auf dem Gebiet der Malarialogie und Fleckenfieberforschung statt, um eine bevorstehende Kolonisation vorzubereiten. Erst nach der Befreiung des nationalsozialistischen Deutschlands wandte sich die Tropenmedizin ihrem heutigen Forschungsbiet zu, der Vorbeugung und Bekämpfung von Epidemiologien in (sub-)tropischen Klimazonen (DTG 2022).

Tropenmedizin in Tübingen
Dass der erste tropenmedizinische Professor Tübingens Gottlieb Olpp gleichzeitig auch die Position des Direktors des Tübinger Difäm begleitete (Engels 2018: 1), ist keineswegs Zufall und unterstreicht die Nähe von Tropenmedizin und Mission zu wilhelminischen Kolonialzeiten. Ausgangspunkt dieser Verflechtung bildete der ganzheitliche Missionsansatz des 1906 von Paul Lechler in Stuttgart gegründeten Missionsvereins. Obwohl Lechler zusätzlich zum missionsärztlichen Ausbildungsbetrieb größere Ziele verfolgte – wie die Errichtung einer zentralen Anlaufstelle für jegliches evangelisch-missionsärztliches Engagement in den deutschen Schutzgebieten – so versprach sich auch die medizinische Fakultät weitreichende Vorteile durch eine Zusammenarbeit, wie beispielsweise die Einrichtung eines kleinen tropenmedizinisches (Lehr-)Krankenhaus, woraus sich später ein prestigeträchtiges Tropeninstitut entwickeln sollte (Engels 2018: 5).
Als im Mai 1909 Gottlieb Olpp – nach langjährigem Missionseinsatz in China – ans Difäm wechselte und anschließend für das Fach Tropenmedizin habilitierte, in welchem er 1917 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, lag die Tübinger tropenmedizinische Lehre bis 1938 „in den Händen der leitenden Ärzte des Difäm“ (Engels 2018: 7).
Die Ära Ollps Nachfolhers Samuel Müller ist ab 1937 von einer nachhaltigen Rückbesinnung der Difäm auf ihre Kernanliegen geprägt, sodass sich ärztliche Mission und medizinische Universität – spätestens nach Ende des Weltkriegs – weitgehend entzweiten. Nach Ablehnung eines ersten Antrags auf Institutsgründung im Jahre 1950 – worauf Ludolph Fischers Räumlichkeiten als "Tropenmedizinisches Laboratorium"benannt wurde – eröffnete die Universität im Jahre 1957 schließlich ihr eigenes tropenmedizinisches Institut (Knoblich 2007: 20). Heute befindet sich das Institut in der Wilhelmstraße 27, etwa 250m vom ehemaligen Hauptsitz des Difäm entfernt. Über die Jahre entwickelte sich erneut eine enge Verflechtung und interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen universitärem Tropeninstitut und missionsärztlichem Tropenklinikum (UKT 2021).

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