Universitätsbibliothek

Die Kanonenkugeln aus der Schlossmauer

Unter den Kuriositäten im Bibliotheksbestand befinden sich zwei gusseiserne Kanonenkugeln. Eine Kugel wird als Dauerleihgabe im Stadtmuseum ausgestellt, die andere wurde vor langer Zeit auf einen Holzsockel montiert und ist dieses Jahr unser Objekt des Monats Juni.

Auf jenem Holzsockel gibt es eine verwitterte Beischrift: "Diese Kugel wurde im Aug. 185(?) an der vorderen Turmecke des Flügels des Schlosses am (…) Batteriekopf(?) ausgezogen. Sie stammt wahrscheinlich aus der Zeit der Belagerung Hohen Tübingens durch die Franzosen unter General Turenne i.J. 1642". Allerdings hat der Schreiber einen kleinen Schreibfehler an der Jahreszahl begangen, denn die Belagerung und der Beschuss durch die Franzosen geschahen im Jahr 1647. Unter welchen Umständen die Kugeln aus der Schlossmauer entfernt wurden, kann nicht mehr genau bestimmt werden. Ab 1819 befand sich die Universitätsbibliothek auf dem Schloss, wo sich der Oberbibliothekar in den 1850ern intensiv mit Brandschutzmaßnahmen beschäftigt hat. Es ist gut möglich, dass die beiden Kanonenkugeln in diesem Zusammenhang in der südlichen Turmmauer entdeckt wurden.

Zur Vorgeschichte gehört, dass während des Dreißigjährigen Krieges und der Schlacht bei Nördlingen Schwedens Niederlage 1634 besiegelt wurde. Danach zogen kaiserlich-bayerische Truppen durch Altwürttemberg und besetzten die umliegenden Höhenfestungen, so auch die Festung Hohen Tübingen. Schließlich trat Frankreich im Jahr 1635 als Bündnispartner Schwedens gegen die habsburgisch-kaiserlichen Truppen in den Krieg ein.

Anfang Februar 1647 war das Tübinger Schloss von bayerischen Truppen besetzt. Über die Schwäbische Alb kamen 800-1200 Reiter der französischen Armee und machten vor den Toren Tübingens in Derendingen Halt. Eine Quelle berichtet von 8 Regimentern, je 4 zu Fuß und zu Pferd, insgesamt 2500 Mann. Befehlshaber der Franzosen waren Marschall Henri Turenne und General d’Hocquincourt, die ihre Truppen um die Stadt formierten. Im Schloss wollte der bayerische Kommandant Pürck nicht kampflos aufgeben, so dass die Franzosen Position vor den Stadttoren einnahmen, wie zum Beispiel im Tummelgarten, dem heutigen Alten Botanischen Garten. Um die Zivilbevölkerung zu schonen, wurden die französischen Soldaten in die Stadt gelassen, die Bayern aber verschanzten sich auf dem Schloss. Daraufhin begann ein Feuergefecht, das drei Wochen andauerte. Auf dem mittleren Wörth, ungefähr beim heutigen Keplergymnasium, wurde eine Batterie errichtet, von der aus möglicherweise unsere beiden Kanonenkugeln abgefeuert wurden. Am 4. März sprengten die Franzosen mit einer Mine den Südostturm des Schlosses, was die bayerische Seite zur Aufgabe bewegte.

Im Bestand der Universitätsbibliothek gibt es einen handschriftlichen Bericht über die Belagerung und Übergabe des Schlosses, welcher 1849 im Verlag von Ludwig Friedrich Fues gedruckt erschien. In einer Anmerkung steht: „Dieser Bericht befand sich einst auf der Registratur der Kellerei, von wo ein Schreiber Namens Hechtlin ihn öfters mit in’s Wirthshaus brachte und zur Unterhaltung der Gäste daraus vorlas. Er blieb in einer Weinschenke liegen und kam von da vor einem Jahr in die Hände des Verlegers vorliegenden Werkes.“

Auf einer seltenen Originalgrafik sehen wir die Ereignisse vom 4. März 1647. Die Radierung stammt von Matthäus Pfister (* um 1593 in Tübingen, † 1650 in Tübingen), einem Tübinger Radierer und Buchbinder, der wohl Augenzeuge der Belagerung wurde.

In einem Inventarbuch für Einrichtungsgegenstände in der Universitätsbibliothek sind mit Datum vom 24. April 1907 zwei „Briefbeschwerer mit je 1 Kugel“ verzeichnet. Die Kanonenkugeln kamen viele Jahre als Papierbeschwerer in der Buchbinderwerkstatt zum Einsatz und standen später u.a. im Direktorzimmer. Unsere Kugel wiegt mit Holzsockel
4370 Gramm und hat einen Durchmesser von 10 cm. Die schöne Box zur sicheren Aufbewahrung wurde vor einigen Jahren in unserer Restaurierungswerkstatt angefertigt.

Literatur und Quellen

Die Belagerung des Schlosses im Jahre 1647. In: Tübinger Blätter. UB-Signatur: L XV 198-22.1931,
S. 37-43. https://opendigi.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/LXV198_22_1931_1#tab=struct&p=42

Belagerung von Hohentübingen Februar und März 1647. In: Tübinger Blätter.
UB-Signatur: L XV 198-2.1899, H. 4, S. 44-48.
https://opendigi.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/LXV198_02_1899_4#p=8&tab=struct

Bericht über die Belagerung und Übergabe der Festung Hohentübingen. UB-Signatur: Mh 630. https://opendigi.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Mh630

Beschreibung des Oberamts Tübingen. Stuttgart: Cotta, 1867, S. 210-216 (Beschreibung des Königreichs Württemberg, Band 49). UB-Signatur: L II 2-TUEBINGEN.

„Gazette“ vom 18. April 1647: La prise de la ville et chasteau de Tubinguen par le sieur d'Hoquincour ... https://opendigi.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/LXV126_qt

Geschichte und Beschreibung der Stadt und Universität Tübingen / bearb. Von Karl Klüpfel und Max Eifert. Tübingen: Fues, 1849. Band 1, Beilage II, S. 317-332. UB-Signatur: L XV 7 a-1.

Heimatkundliche Blätter für den Kreis Tübingen Nr. 1.1963, S. 7-8 (Stand 22.05.2024):
https://www.tuebingen.de/Dateien/Heimatkundliche_Blaetter_1963_1968.pdf

100 - 50 - 10 : Texte und Bilder zum Jubiläum der Universitätsbibliothek; [veröffentlicht anläßlich der gleichnamigen Jubiläumsausstellung in der Universitätsbibliothek vom 22.11.2012 - 28.02.2013] / [Hrsg. Universitätsbibliothek Tübingen (UB). Redaktion Gabriele Zeller ... Beiträge Marianne Dörr ...].
Tübingen: Gulde, 2012. UB-Signatur: 52 Q 203, Abb. letztes Blatt.

Inventar der Universitätsbibliothek Tübingen. UB-Signatur: Mh III 147-1.

Die Kanonenkugel auf dem Holzsockel. UB-Signatur: Mh III 150.

Relation über die Belagerung und Übergabe von Hohentübingen im Jahr 1647. UB-Signatur: Mh 82.
https://opendigi.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Mh82

Die Universitätsbibliothek auf dem Schloss / Gebäude und Materialien. Akte des Universitätsarchivs Tübingen. Signatur: UAT 167/17.

"Wahrer Und Aigendlicher Abris Der Statt Und Vestung Hochen Tübingen Wie Die Selben Von Ihr Excellentz Marck Graff D. Hocquincourt Generall Leutenant Den 4 mertzen Miniert Und Mit Acort Ubergeben Worden Anno 1647". Originalgrafik von M. Pfister in: UB-Signatur L XV 4.4. https://opendigi.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/LXV4_qt

Wikipedia (Stand 22.05.2024): https://de.wikipedia.org/wiki/Belagerung_von_Schloss_Hohent%C3%BCbingen

Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte. Darin: Beiträge zur Geschichte des Schlosses Hohentübingen. Von Albert Koch. Stuttgart: Kohlhammer. NF 6.1897, S. 192-240.
(Stand 23.05.2024): https://books.google.de/books?id=jbNBAQAAMAAJ&hl=de&pg=PA192#v=onepage&q&f=false

Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte. Darin: Die Belagerung Hohentübingens im Jahre 1647. Von Wilhelm Göz. Stuttgart: Kohlhammer. NF 37.1931, S. 58-111.
UB-Signatur: L I 3 e;NF-37.1931