Geschichte des Philologischen Seminars
Bei der Gründung der Universität im Jahre 1477 war Latein die ausschließliche Unterrichtssprache. Die Beschäftigung mit lateinischer Sprache hatte ihr Zentrum daher zunächst in der praktischen Sprachausbildung. Jeder Student musste Latein lesen, sprechen und schreiben können. Die Beschäftigung mit antiker lateinischer Literatur erfolgte einerseits im Rahmen der jeweiligen Fachstudien der Mediziner, Juristen und Theologen, in denen die Texte antiker (griechischer und lateinischer) Autoren als Fachautorität eine Rolle spielten, andererseits im Rahmen einer umfassenden Allgemeinbildung im Rahmen der sog. "Artistenfakultät", in der die sieben Artes liberales (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) sowie weitere grundlegende Fächer wie Ethik oder Psychologie gelehrt wurden.
Die Tübinger Artistenfakultät gehörte im 16. Jahrhundert zu den Zentren des Deutschen Renaissancehumanismus. Sie besaß seit 1496 einen eigenen Lehrstuhl für (lateinische) Rhetorik und Poesie. Sein erster Inhaber war Heinrich Bebel (1472-1518), Verfasser einer lateinischen Grammatik, einer Dichtungslehre, verschiedener lateinischer Dichtungen und vor allem der berühmten "Facetiae", einer Schwanksammlung, die bis heute oft gedruckt wurde. Griechisch konnte man spätestens seit 1510 bei Georg Simler (gest. 1535) lernen, der 1512 eine griechische Grammatik herausbrachte und später eine juristische Professur bekleidete.
Zu seinen Schülern zählt auch Philipp Melanchthon (1497-1560), der nach dem Studienbeginn in Heidelberg 1512 sein Studium in Tübingen fortsetzte und von 1514-1518 an der Artistenfakultät lehrte, bevor er als Professor der griechischen Sprache nach Wittenberg berufen wurde. In Tübingen setzte er sich als Lehrer vor allem für eine Ausbildung im Sinne der humanistischen Erneuerung ein, wozu u.a. seine für den Universitätsunterricht verfasste Terenzausgabe (1516), Lehrbücher der Rhetorik und Dialektik (gedruckt erst 1519 bzw. 1520) und eine griechische Grammatik (1518) gehörten; hier hielt er auch 1517 die berühmte Rede "De artibus liberalibus", in der ein humanistisches Bildungsprogramm unter starker Einbeziehung des Griechischen entwickelt wird.
Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts erreichte Martin Crusius (1526-1607), seit 1559 Professor der griechischen und lateinischen Sprache in Tübingen, internationale Bedeutung. Er widmete sich nicht nur der Erklärung der antiken Schriftsteller und den philologischen Einzeldisziplinen (z.B. der griechischen Grammatik und der Rhetorik), sondern pflegte auch den Kontakt mit der damaligen griechischen, unter türkischer Herrschaft lebenden Welt, woraufhin sogar viele Griechen zum Studium nach Tübingen kamen. Eine Voraussetzung dafür war die fließende aktive Beherrschung der altgriechischen Sprache, die im griechischen Osten immer noch als Hochsprache diente; Crusius verwandte seine Sprachkenntnisse u.a. dazu, dass er zu Hunderten von in der Tübinger Stiftskirche gehaltenen Predigten griechische Nachschriften verfasste. Sein umfangreicher Nachlass liegt in der Universitätsbibliothek; an der Stelle seines Wohnhauses in der Pfleghofstraße ist heute eine Gedenktafel angebracht.
Zur gleichen Zeit lehrte in Tübingen Nicodemus Frischlin (1547-1590), der mit Martin Crusius allerdings verfeindet war. Als Philologe hat sich Frischlin durch eine lateinische Grammatik, durch erklärende Paraphrasen antiker Dichtung sowie als Übersetzer des Aristophanes hervorgetan. Wirklich bedeutend wurde er durch seine lateinischen Dichtungen, die zu den bekanntesten und wichtigsten Werken ihrer Art in Deutschland zählen; insbesondere seine Dramen wurden oft aufgeführt. Sein Streitlust gegenüber Adel und Obrigkeit führte dazu, dass er zunächst Württemberg verlassen musste und schließlich vom württembergischen Herzog auf der Feste Hohenurach festgesetzt wurde. Dort stürzte er am 29. November 1590 bei einem Fluchtversuch ab und starb. Der Tübinger Theologe David Friedrich Strauss, Verfasser des seinerzeit berühmten religionskritischen Werke "Das Leben Jesu", hat ihm als Revolutionär des 16. Jahrhunderts bereits 1856 eine ausführliche Biographie gewidmet. Frischlings Wohnhaus direkt neben der Tübinger Stiftskirche mit einem eigenen Brückenzugang zum Kirchenvorplatz ist erhalten und zählt zu den "Tübinger Dichterhäusern."
Seit 1656 hatte den Lehrstuhl für Poesie und Rhetorik Christoph Kaldenbach (1613-1698) inne, der u.a. ein Lehrbuch der Rhetorik verfasste und als Verfasser sowohl lateinischer wie deutscher Gedichte in Deutschland berühmt wurde. Christoph Seybold (1747-1804) war seit 1796 Professor der "classischen Litteratur" in Tübingen und hat sich als solcher u.a. um die Lukian-Forschung verdient gemacht; den Lehrstuhl für (lateinische) Poesie bekleidete von ca. 1800 bis zu seinem Tode der Jugendfreund Schillers Carl Conz (1762-1827).
Als eigenes Fach etablierte sich die Klassische Philologie an den deutschen Universitäten erst, als um 1800 die lateinische Sprache nicht mehr allgemeine Unterrichtssprache war und die antiken Autoren nicht mehr als Vorbild, sondern als historischer Forschungsgegenstand angesehen wurden. Im Zuge der Entwicklung des Humanistischen Gymnasiums als Zugangsvoraussetzung für die Universität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert wurden an den Universitäten "Philologische Seminare" geschaffen, an denen die notwendigen Griechisch- und Lateinlehrer ausgebildet wurden; diese "Seminare" waren Vorbild für die später gegründeten Seminare für "Deutsche", "Romanische" bzw. "Englische" Philologie usw. Das Tübinger Philologische Seminar wurde erst relativ spät (1838) gegründet; die Studierendenzahl war in den ersten Jahren auf 10 begrenzt, und der Studienplan umfasste wie im modernen Lehramtsstudium auch Unterrichtspraktika am Tübinger Lyzeum, dem Vorgänger des heutigen humanistischen Uhland-Gymnasiums. Heute ist das Philologische Seminar Tübingen neben dem Seminar der Universität Bonn das einzige in Deutschland, das den Gründungsnamen noch erhalten hat; alle anderen Seminare wurden in "Institut für Klassische Philologie" o.ä. umbenannt. Neben dem Bekenntnis zu einer langen Tradition kommt hier eine besondere Verpflichtung für die Lehrerausbildung zum Ausdruck.
Von den Professoren am Philologischen Seminar erlangten besondere Bedeutung Wilhelm Sigmund Teuffel (1820-1878), dessen "Geschichte der römischen Literatur" bis in das 20. Jahrhundert hinein in vielen Auflagen und Neubearbeitungen das wissenschaftliche Standardwerk der Literaturgeschichtsschreibung im deutschsprachigen Gebiet war, und Wilhelm Schmid (1859-1951), dessen Griechische Literaturgeschichte im Rahmen des "Handbuchs der Altertumswissenschaft" über viele Jahrzehnte hinweg vergleichbare Bedeutung in der Gräzistik besaß. Von 1949 an lehrte Walter Jens (geb. 1923) als Dozent und Professor für Klassische Philologie am Philologischen Seminar, bis er 1962 einen Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik übernahm, der zum Ausgangspunkt für die Gründung des Seminars für allgemeine Rhetorik in der Neuphilologischen Fakultät wurde. Wolfgang Schadewaldt (1900-1974), der seit 1951 als Professor für Klassische Philologie (Gräzistik und Fortleben der Antike) in Tübingen wirkte, machte durch seine Übersetzungen der Werke Homers sowie durch zahlreiche weitere Schriften zur Aktualität der Antike wichtige Themen der griechischen Literatur weit über die universitäre Öffentlichkeit hinaus bekannt und beriet u.a. auch Carl Orff bei seiner Vertonung griechischer Tragödien. Auf Vorschlag Schadewaldts verlieh die damalige Philosophische Fakultät im Jahre 1955 Carl Orff die Ehrendoktorwürde.