Sigeion
Das Sigeion-Projekt ist ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Vorhaben mit dem Ziel, die unmittelbar an den Dardanellen gelegene antike Stadt Sigeion zu erforschen. Die partielle Freilegung Sigeions mit Teilen des Umlands soll das urbanistische Bild einer stets exponierten, frühen Stadt in ihrem historischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext entstehen lassen. Die Ergebnisse werden paradigmatisch das Bild einer aiolischen Kolonie nachzeichnen und einen Beitrag zur Erforschung der griechischen Kolonisation leisten. Projektleiter ist Prof. Dr. Thomas Schäfer, stellvertretender Leiter Prof. Dr. Konrad Hitzl.
Geographische Lage und Topographie
Die von Lesbos gegründete Stadt Sigeion lag an der Südküste der Dardanellen am nordwestlichsten Punkt der durch den Fluss Skamander geschaffenen Ebene ([01]). Die Skamander-Ebene wird auf der Westseite von dem sogenannten Sigeion-Höhenrücken aus Kalkstein begrenzt, der aus zwei durch eine Senke getrennte Plateaus besteht. Das nördliche Plateau liegt zwischen 45 und 60 m über dem Meeresspiegel und fällt steil zur Agäis ab ([03]). Die Hochfläche ist ca. 860 m lang und 150 bis 230 m breit. Sie umfasst etwa 150.000 m² (15 ha) und war von dem griechischen Dorf Yenişehir bedeckt, das 1915 zerstört und verlassen wurde. Das kleinere südliche Plateau liegt etwa 1 km von Yenişehir entfernt und heißt Spratt's Plateau oder Subaşı Tepe. Der Sigeion-Höhenrücken läuft nach Norden flach in das Festungsgebiet von Orhaniye aus, dessen Nordspitze durch den sog. Tumulus des Achill markiert wird. Ungefähr 300 m südöstlich davon liegt ein zweiter, Tumulus des Patroklos genannter Grabhügel ([04]). Beide Tumuli scheinen aus klassischer Zeit zu stammen. Troia liegt in einer Entfernung von 6 km in südöstlicher Richtung jenseits des Skamander ([02]).
Geschichte
Sigeion war im späten 7. Jh. v. Chr. von Mytilene (Lesbos) aus gegründet worden. Um 600 v. Chr. wurde es von Athen erstmalig besetzt. Daraufhin gründete Mytilene eine neue Stadt namens Achilleion, die wahrscheinlich circa 7 km südlich von Sigeion bei der Beşik-Bucht lokalisiert werden kann ([05]). Achilleion dürfte für Sigeion eine ständige Gefahr gewesen sein. Durch seine strategisch äußerst günstige Lage an der Spitze einer Landzunge konnte Sigeion die Einfahrt in die Dardanellen kontrollieren. Gleichzeitig war die Stadt die letzte Anlaufstation für Schiffe, die auf Südwestwind warteten, um die Dardanellen passieren und in das Schwarze Meer gelangen zu können. Im Falle des bronzezeitlichen Troia ist nach wie vor umstritten, ob es einen intensiven Schwarzmeerhandel über See gab, für die Zeit der Kolonisation steht dies außer Frage. Ohne Handelsrouten zum bzw. vom Schwarzen Meer hätte die Gründung einer Stadt wenig Sinn gemacht, wobei sich Sigeion von anderen griechischen Gründungen an den Dardanellen durch seine vorgeschobene Schlüsselposition unterschied ([05]). Die Kämpfe mit Achilleion um den Besitz des strategisch wichtigen Kaps und der Westküste wurden erst von Periandros von Korinth geschlichtet, der in seiner Entscheidung den status quo festschrieb. Der Dichter Alkaios von Mytilene verlor bei diesen Kämpfen seinen Schild, der in Sigeion im Tempel der Athena als Beutestück aufgehängt wurde. Sigeion teilte sich mit Rhoiteion, das weiter östlich an den Dardanellen lag, das Gebiet von Troia, eventuell der einzige größere Landbesitz der Stadt. In der ersten Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. ging Sigeion für Athen anscheinend wieder verloren, denn nach Herodot entriss der athenische Tyrann Peisistratos wohl gegen 530 die Stadt den Mytilenern mit Waffengewalt und setzte seinen unehelichen Sohn Hegesistratos als Alleinherrscher ein. Noch 20 Jahre später flüchtete Hippias, der Sohn des Peisistratos, hierher, nachdem im Jahre 510 v. Chr. die Peisistratiden aus Athen vertrieben worden waren. Sigeion war Mitglied des Ersten Delisch-Attischen Seebunds und wurde in den Tributlisten mit einem jährlichen Beitrag von 1000 Drachmen geführt. Spätestens ab 355 v. Chr. wurde es von dem Tyrannen Chares beherrscht, der noch 20 Jahre später Alexander d. Gr. bei seiner Überfahrt über den Hellespont begrüßt haben soll. Unter dem Diadochen Lysimachos wurde es 302 v. Chr. erobert und im 3. Jh. v. Chr. von dem neu gegründeten Ilion zerstört. Möglicherweise fanden unter Konstantin I. zu Beginn des 4. Jhs. n. Chr. Bauarbeiten als Vorbereitung der Errichtung einer Hauptstadt des oströmischen Reichsteils statt, die später zugunsten Byzantions eingestellt wurden.
Lokalisierung
Auf dem nördlichen Plateau des Sigeion- Höhenrückens befand sich bis zum Beginn der Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs im Jahre 1915 das wohl in spätbyzantinischer Zeit gegründete Dorf Yenişehir mit überwiegend Griechisch sprechender Bevölkerung, das nach Ausweis der Karten des 18. und 19. Jhs. die gesamte Hochfläche einnahm (Einwohnerzahl vor 1915 bis zu 2600 Menschen). Ganz im Süden des Plateaus konnte 2005 der Friedhof des Dorfes verortet werden. Im Bereich der ehemaligen großen Kirche ([07], Quadrat F+G/60) wurden 2005 und 2006 mehrere antike Marmorstücke gefunden, darunter das rechte Kopfprofil eines griechischen Grabreliefs ([14a]). Am 19. Februar 1915 zerstörten englische und französische Schlachtschiffe eine türkische Geschützstellung bei Orhaniye. Der Beschuss traf auch Yenişehir, das daraufhin geräumt wurde. Die Meerengen blieben nach der Niederlage des Osmanischen Reiches bis zur Wiederbewaffnung der Türkei im Jahr 1936 ungeschützt. Anschließend wurde das Gebiet um die Festung Eski Kumkale, Orhaniye und Yenişehir militärisches Sperrgebiet. Erst im Sommer 1995 wurde die Militärzone bis auf einen kleinen Posten zur Überwachung des Schiffsverkehrs in Eski Kumkale aufgelöst. Aufgrund des immer dichter werdenden Schiffsverkehrs in den Dardanellen wurde seit 1999 der Aufbau einer neuen Radaranlage seitens der türkischen Regierung geplant. Da auch auf dem Plateau von Yenişehir die Aufstellung eines Radarturms vorgesehen war, entschloss sich das für die archäologischen Aktivitäten in der Troas zuständige Museum Çanakkale zu einer Notgrabung. Diese Grabung fand vom 17. bis zum 29. August 2001 unter der Leitung von Reyhan Körpe von der Universität Çanakkale statt, der von Dr. Rüstem Aslan sowie Dr. Gebhard Bieg, beide Teilnehmer der Troia-Grabung, intensiv unterstützt wurde.
Yenişehir wurde seit dem frühen 16. Jh. häufig von Reisenden besucht, die antike Monumente und Spolien beschrieben. Diese Funde, darunter Inschriften (mit Nennung Sigeions) und Grabdenkmäler attischen Stils sowie Münzfunde (viele mit Inschrift SIGE), spielten bei der Identifizierung der antiken Siedlung mit Sigeion eine wichtige Rolle. Die Hypothese, dass Sigeion nördlich von Yenişehir auf dem Gebiet der Festung Eski Kumkale gelegen habe, lässt sich mittlerweile falsifizieren ([03]]). Zwar beschreiben frühe Reisende antike Marmorfragmente in Eski Kumkale, die bei einem Besuch der Festung im Jahr 2005 zum Teil noch vorhanden waren. Doch handelt es sich in allen Fällen um sekundär hierher verschleppte Spolien. Eine intensive Begehung des Festungsgebietes, die der Kommandant der Festung genehmigt hatte, erbrachte ausschließlich moderne Scherben. Wahrscheinlich existierte das Schwemmland von Eski Kumkale schon in klassischer Zeit, aber es war nicht besiedelt. Die nördlichste Stadt an den Dardanellen auf kleinasiatischer Seite lag auf dem Plateau von Yenişehir (Abb. 04).
Auch das Plateau von Subaşı Tepe (Spratt's Plateau) wurde des öfteren für Sigeion in Anspruch genommen ([04]). Die geringe Anzahl antiker Keramik, die 2005 auf dem Areal gefunden wurde, und das Fehlen antiker Mauern sprechen jedoch eindeutig gegen diese Theorie. Aus demselben Grund kann auch die Stadt Achilleion nicht auf Subaşı Tepe gelegen haben. Beide Plateaus liegen überdies so nahe beieinander, dass sie nur zu derselben Stadt gehört haben können. Die 2005 geglückte Entdeckung einer Nekropole bei Spratt's Plateau konnte diese Behauptung bestätigen. Eine wohl noch archaisch zu datierende Glasvase war ein besonders schöner Fund ([06]).
Alle Überlegungen im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Kampagnen 2005 und 2006 ergeben folgendes Bild. Auf dem Plateau von Yenişehir lag die antike Stadt Sigeion den Dardanellen am nächsten. Zum Stadtgebiet gehörten Spratt's Plateau und die Ebene zwischen den beiden Höhenrücken. Am Subaşı Tepe wurde eine Nekropole angelegt. Das Gebiet von Spratt's Plateau könnte als Sperrgürtel gegen die weiter südlich gelegene Stadt Achilleion gedient haben. Östlich von Sigeion darf mit großer Wahrscheinlichkeit ein Hafen vermutet werden ([05]). Die Existenz eines zweiten Hafens oder zumindest einer Mole westlich der Stadt zeichnet sich im Meer ab ([04]).
Bisherige Arbeiten
Die Generaldirektion für Kulturgüter und Museen des Ministeriums für Kultur und Tourismus der Türkei in Ankara hatte vor dem Beginn von Grabungen im Rahmen des Projektes »SIGEION« einen zweijährigen Survey gefordert, der in den Jahren 2005 und 2006 mit Finanzierung der DFG durchgeführt wurde. Die erste Kampagne fand vom 6. September bis zum 11. Oktober 2005 und die zweite Kampagne vom 6. September bis zum 2. Oktober 2006 statt. In beiden Kampagnen wurden drei Teilprojekte realisiert:
1. der Aufbau eines Vermessungsnetzes sowie die Erstellung eines topographischen Gesamtplans des Sigeion-Höhenrückens einschließlich der Abhänge und der Senke zwischen den Plateaus (FH Karlsruhe);
2. eine geophysikalische Untersuchung (Geomagnetik und Georadar) ausgewählter Flächen auf den Plateaus und in der Ebene durch die Firma Giese, Grubert & Hübner aus Freiburg;
3. die Begehung des Sigeion-Höhenrückens einschließlich der Abhänge und der Senke zwischen den Plateaus.
Das Vermessungsnetz wurde auf dem türkischen Landesvermessungsnetz aufgebaut, das sich mit dem weltweiten UTM-Netz korrelieren lässt ([07]). Die Koordinaten steigen von Süden nach Norden und von Westen nach Osten an. In dieses Netz wurde ein archäologisches Raster von Quadraten zu 25 m Seitenlänge eingepasst, das von West nach Ost mit Buchstaben und von Norden nach Süden mit Ziffern versehen ist ([07]). Dieses Raster, dessen Quadrat a/1 nordwestlich von Sigeion im Meer liegt, bietet den Vorteil einer fast unbegrenzten Erweiterung nach Osten und Süden. Der topographische Gesamtplan ist weit fortgeschritten, es fehlen noch die Meerseite der beiden Plateaus und die Oberfläche von Subaşı Tepe ([08] - [09]).
Die geophysikalische Untersuchung ausgewählter Flächen ist vorerst abgeschlossen. Die geomagnetische Prospektion erbrachte eine Nekropole bei Spratt's Plateau, eine große runde Struktur unmittelbar südlich des Plateaus von Sigeion sowie mögliche Gräber nahe des Ostabhangs. Besonders wichtig sind die mit Georadar gewonnenen Erkenntnisse ([10]). Nach den Ergebnissen des Jahres 2006 konnten vor allem im Süden des Plateaus von Sigeion in einer Tiefe von 60 bis 80 cm deutliche Strukturen nachgewiesen werden, die sich mit Ausnahme der Zisternen an der Oberfläche nicht abzeichnen. Es spricht alles dafür, in diesen Strukturen die Reste des antiken Sigeion zu sehen ([11]).
Die Surveys in den Kampagnen 2005 und 2006 ließen gerade in ihrer Mischung aus positiven und negativen Ergebnissen wichtige Erkenntnisse zu. Auf Spratt's Plateau und in Orhaniye wurde nur sehr wenig Keramik gefunden, was eindeutig gegen eine intensive Besiedlung spricht. Dagegen konnten im Bereich der Nekropole neben der bereits erwähnten Glasvase ([05]) auch Reste von Pithosbestattungen geborgen werden ([12], [14]). Auf dem Plateau von Yenişehir kam antike Keramik in bescheidenem Umfang zutage. Erfolgreicher war die Ausbeute an den Hängen, vor allem im Süden, und in den Quadraten F+G/41 ([07]), wo ein Graben gezogen worden war, um die Stromversorgung des Radarturms zu sichern. Im Aushub dieses Grabens kam sehr viel frühe Keramik zutage, wenn auch mitunter in kleinsten Fragmenten. Dies lässt darauf schließen, dass die heutige Oberfläche die antike Substanz quasi versiegelt hat, und bildet eine gute Ausgangsposition für die geplanten Grabungen.
In den Jahren 2005 und 2006 wurden insgesamt 10574 Scherben aufgesammelt ([13]); moderne Ziegelfragmente wurden beim Survey nicht berücksichtigt. Die Verteilung ist wie folgt: 60,3% osmanische Keramikfragmente, 34,4% archaische Scherben, 5,21% klassische Scherben und 0,09% spätbyzantinische Fragmente.
Zukünftiges Arbeitsprogramm
Das vorrangige Ziel des Projektes »SIGEION« ist die Erforschung des Stadtplateaus von Sigeion. Die Fläche soll zunächst durch Schnitte und danach durch großflächigere Freilegungen untersucht werden. Man darf erwarten, auf eine im Wesentlichen klassische Stadtanlage zu stoßen. Es besteht aber auch die realistische Möglichkeit, noch die archaischen Strukturen der lesbischen Apoikie erfassen zu können. Wo stand der schon zu Zeiten des Dichters Alkaios bestehende Tempel der Athena? Nahm er eine zentrale Position im Stadtgebiet ein oder diente er als von See her sichtbares Wahrzeichen der Stadt? Behielt er sein archaisches Aussehen kontinuierlich bei oder wurde er in klassischer Zeit erneuert? Wie verhalten sich Wohnbezirke, öffentliche und sakrale Räume zueinander? Folgt die Anlage einer aiolischen Kolonie einem festen Plan, der auch die Wohnhäuser berücksichtigt? Unterscheidet sich das athenische Sigeion im Stadtbild erkennbar von der lesbischen Gründung? Lässt sich auf einer gesicherten Grundlage die Einwohnerzahl abschätzen? Neben der Erforschung der frühen Stadt muss das Ende von Sigeion bestimmt und mit den schriftlichen Quellen korreliert werden. Wurde die Siedlung aufgegeben oder systematisch zerstört? Zur Zeit Strabons existierte jedenfalls keine Stadtmauer mehr.
Es zeichnet sich schon jetzt ab, dass die archaische Keramik aus Sigeion ein breites Spektrum aus importierten und lokalen Waren bieten wird. In den Bauphasen der Stadt und der Intensität der Funde wird sich die Geschichte einer lesbischen Gründung und athenischen Basis widerspiegeln und neues Licht auf die Geschichte der griechischen Kolonisation und Expansion werfen. Keine andere Stadt als Sigeion bietet hinsichtlich der Erhaltung und der fehlenden nachklassischen Überbauung ein besseres Potential für die exemplarische Erforschung der frühen Kolonisation auf dem Weg zur Erschließung neuer Siedlungsgebiete am Schwarzen Meer. Insofern spielt die Stadt für die gegenwärtig aktuelle Diskussion um die Ziele der Schwarzmeergründungen eine Schlüsselrolle.
Kontaktadressen:
Prof. Dr. Thomas Schäfer