Die Tagung greift zwei aktuelle Forschungstrends auf. Ein erster ist das in vielen historisch arbeitenden Kulturwissenschaften in letzter Zeit erstarkte Interesse am Recht nicht nur als Ordnungselement von Gesellschaften, sondern auch als Speicher kulturellen Wissens. Das zweite ist der ›Megatrend‹ der Narratologie als einem neuen Leitparadigma der Literaturwissenschaften aller Epochen und Sprachen, deren Untersuchungsgegenstand über die ursprünglich im Zentrum stehenden ›klassischen‹ Erzählwerke der europäischen Literatur hinaus längst zu einem Analyseinstrument für viele andere Textsorten und Medien, für Drama und Film, Historiographie oder Lyrik geworden ist.
Zuletzt hat sich die Erzählforschung auch faktualen Texten zugewandt, die narrative Elemente aufweisen. Zu diesen zählen auch Rechtstexte. Allerdings widmen sich einschlägige Studien bislang vor allem modernen Rechtszeugnissen. Hier setzt das Colloquium Rauricum Decimum Octavum an: Wir wollen erstmals in einer diachronen Langzeitperspektive von der europäischen Antike bis in die Gegenwart betrachten, welcher Erkenntnisgewinn sich daraus ergibt, Rechtstexte ganz unterschiedlicher Art auf breiter, vergleichender Basis als Erzählung zu lesen, d.h. sie auf ihre narrative Struktur und die daraus resultierenden Funktionen zu analysieren.
Unser Erkenntnisziel ist dabei ein doppeltes. Wir wollen mit dieser Tagung zum einen eine neue Perspektive auf die Erforschung des Rechts als Medium kulturellen Wissens und sozialer Praxis in seinem jeweiligen historischen Zusammenhang eröffnen: Wie sind im Recht – gleich ob es sich um hoheitliche Rechtsetzung, richterliche Entscheidungen, juristische Traktate oder andere Rechts- oder rechtsnahe Texte handelt – kulturelle oder religiöse Überzeugungen, Lebensentwürfe oder Ordnungsvorstellungen einer Gesellschaft eingeschrieben und wie reproduziert es diese sprachlich und durch ihre narrative Form? Zum anderen soll der Fokus auf das Recht der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung einen Gegenstand zu erschließen helfen, der darin bislang randständig war, und so zugleich einen Beitrag zur Narratologie nicht-fiktionaler Texte im Allgemeinen leisten.
Robert Kirstein
Sebastian Schmidt-Hofner
Tagungsleiter CR XVIII