2003: Das 50jährige Jubiläum des Instituts
"Das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen ist 50 Jahre alt geworden"
(ein Text von Dietrich Beyrau)
Der dramatische Wandel und das gegenwärtige Reformchaos, welche die Universität Humboldtschen Typus drastischen Veränderungen unterwerfen, zwingen auch die kleinen Fächer wie Osteuropäische Geschichte zu tief greifenden Neuorientierungen. Wie diese aussehen werden vor dem Hintergrund von "Bologna", BA- und MA-Studiengängen, Akkreditierungen, Doktorandenkollegien, Evaluationen, Drittmittel-Einwerbung, Exzellenz-Gehabe und Kompetenz-Gerangel sowie einem ständigen Wechsel von Hochschulgesetzen und Fakultätsstrukturen ist schwer zu sagen. Angesichts all dieser einschüchternden Signale verwundert es fast, dass ein Institut wie das für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, jetzt als Teil des Historischen Seminars und der Fakultät für Philosophie und Geschichte fünfzig Jahre hat überleben können. 1953/54 in Gestalt einer Außerordentlichen Professur gegründet, existiert das Institut über vierzig Jahre im nun auch schon in die Jahre gekommenen Hegelbau an der Wilhelmstraße, im Parterre und Untergeschoß mit einer Bibliothek von jetzt fast 70.000 Bänden und 60 laufenden Zeitschriften, früher mit über 100 Zeitschriften, jetzt mit einer Professoren-, zwei Assistentenstellen, einer Übersetzerin, einer Bibliothekarin und einer Sekretärin, früher mit zeitweilig zwei Professuren, einem Akademischen Rat, drei Assistenten und den anderen oben genannten Stellen.
Nach Auflösung der Sowjetunion war dem Fach Osteuropäische Geschichte und anderen "Ostwissenschaften" als Kindern des Kalten Krieges und Produkten des Phantomschmerzes um verlorene Heimaten eigentlich schon das Todesurteil gesprochen worden. Das Fach und das Institut haben aber überlebt und das gar nicht so schlecht.
Bei der Gründung des Institutes schien seine wissenschaftspolitische Aufgabe eindeutig: Pflege, wie es damals hieß, des ostdeutschen und osteuropäischen Kulturgutes und "praktisch-aufklärende Tätigkeit im deutschen(!) Interesse". Damit wurde eine höchst problematische Tradition fortgesetzt: Denn um 1900 entstanden in Berlin und Wien Institute, in Berlin gleichen Namens wie später in Tübingen, mit eminent politischen Aufgaben, die man als Feindbeobachtung kennzeichnen könnte. In der NS-Zeit spielten die sog. Ostwissenschaften, wie bekannt, eine höchst problematische Rolle. Unter so unschönen Etiketten wie "Ostkunde" und "Ostforschung" schienen sie sich in der frühen Bundesrepublik fortzusetzen.
Der erste Institutsleiter Werner Markert (1953 bis 1965) vereinte in der Tat zwanglos Politik und Geschichte. Seine Hinterlassenschaft sind eine Reihe sog. Osteuropa-Handbücher und eine sehr gut bestückte Bibliothek. Sie wurde nicht zuletzt mit Mitteln einer Arbeitsgemeinschaft für Ostforschung (AfO, 1951 bis 1974) ausgestattet, die ihrerseits das Geld vom Bundesministerium des Innern erhielt.
Die Handbücher lieferten nach Maßgabe der fünfziger bis siebziger Jahre relevantes Wissen über die Geschichte, Politik, über Wirtschaft und Soziales in den Ländern Jugoslawien, Polen und vor allem in der Sowjetunion. Auch wenn es sich hierbei im weitesten Sinne um Auftragsforschung handelte, besaßen die beteiligten Wissenschaftler genügend Freiräume und Kompetenz, um Werke vorzulegen, die zwar dem Geist der Zeit verbunden blieben, aber als Propaganda "im deutschen Interesse" schwerlich zu klassifizieren sind.
Der Nachfolger Prof. Dr. Dietrich Geyer (1966 bis 1994) führte die Arbeit an den Handbüchern fort. Seine Beiträge und die seiner Mitarbeiter setzten Maßstäbe bei der Analyse der sowjetischen Politik jenseits der eingefahrenen Geleise des Kalten Krieges und der Totalitarismus-Theorie. Das Selbstverständnis der sowjetischen Seite wurde ernst genommen, ohne ihm aufzusitzen. Was heute auffällt, war das damals große Interesse für Außenpolitik und der Versuch, den Zusammenhängen zwischen Binnenverhältnissen und Außenpolitik jenseits von Diplomatiegeschichte nachzugehen.
1974 wurde die AfO aufgelöst, und das Institut wurde ein "normales" historisches Institut, leider immer mit zu knappen Bibliotheksmitteln und periodisch Stellenstreichungen unterworfen. Es folgte damit einem Trend, der auch anderswo zu beobachten war: Politik- und Geschichtswissenschaften entwickelten sich zunehmend auseinander, ein Prozeß fachinterner Spezialisierung und Professionalisierung, bei dem die Methodenreflexion eine ebenso große Rolle spielen wie die untersuchten Gegenstände. Am vorläufigen Ende dieses Prozesses ist Osteuropäische Geschichte sicher mehr als in den fünfziger Jahren eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaften. Ihre Produkte sind beeinflusst von akademischen Konjunkturen, vom Bedarf auf dem Wissenschafts- und einem weiteren Buchmarkt, der wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Neugier bedient. Unmittelbare Verwertungsinteressen durch politische Behörden bedient das Fach Osteuropäische Geschichte schon lange nicht mehr, könnte dazu aber wieder unter finanziellen Zwängen veranlasst werden.
Im Zeichen von Europäisierung und Globalisierung haben sich auch die Gegenstandsbereiche verändert: Osteuropa hat seine Exotik verloren, die es lange Zeit, zuletzt wegen des Eisernen Vorhanges besessen hatte. Bis 1989 konnte immer noch gelten, dass New York und Lima den (West- und Mittel-)Europäern näher lägen als Moskau oder Kiew. Heute wird das östliche Europa, in sich eine ebenso heterogene Großregion wie das westliche oder südliche Europa, viel stärker unter vergleichenden Gesichtspunkten wahrgenommen, als dies früher der Fall war. Damals wurden immer nur die Unterschiede - meist zum Nachteil Osteuropas – festgehalten. Dabei hatte auch der östliche Kontinent bei allen Eigenheiten einen Anteil an den allgemeinen Trends von Industrialisierung, Kommerzialisierung, Bürgerlichkeit und Arbeiterbewegungen, Migrationen und Massenkultur, an Nationalismus, Chauvinismus, Krieg und allen Varianten der Barbarei, die im 20. Jahrhundert allerdings mehr von Deutschland als vom „Osten“ ausgegangen sind.
Dennoch gehört "Osteuropa" nicht zum Kanon historischen Wissens, das obligatorisch z.B. im Staatsexamen abgefragt wird. Wie aber unter den Bedingungen von BA und MA die europäische Dimension historischen Wissens – von einer globalen ganz zu schweigen – vermittelt werden soll, bleibt eine Herausforderung an die Bildungsplaner und Lehrenden. Sie müssen sich dabei gegen politische Vorgaben behaupten, welche eine Trennung von Forschung und Lehre vorsehen und "exotische" Fächer wie Osteuropäische Geschichte aus dem Lehrkanon hinauswerfen würden.