In Reutlingen eine gute Anpassung an den Klimawandel gestalten
Der Klimawandel findet statt und Gesellschaften beginnen, sich anzupassen. Die Aufgabe besteht darin, diese Anpassung gut zu gestalten. Technische Lösungen allein reichen nicht, es braucht auch neue Formen des Miteinanders. Am Beispiel von Reutlingen beschäftigte sich das Projekt »Changing Water Cultures« mit den Herausforderungen dieser Aufgabe.
Seit einigen Jahren sind die Auswirkungen des Klimawandels in Deutschland zu spüren. So treten Wetterphänomene, die bisher als selten galten, häufiger und intensiver auf. Das gilt auch und gerade für Reutlingen. Durch ihre geografische Lage ist die Stadt besonders gefährdet: Gewitterzellen ziehen häufig vom Schwarzwald her am Albtrauf entlang, treffen auf das Stadtgebiet als eine Wärmeinsel und entladen sich dort.
Daher beschäftigte sich das Projekt Changing Water Cultures (CANALS) (Förderung: EU Horizon 2020 Rahmenprogramm – Marie Skłodowska-Curie Grant Agreement No. 895008) mit den Fragen: Wie erleben Menschen in Reutlingen den Klimawandel? Wie können sich Bürger*innen gemeinsam auf die Auswirkungen des Klimawandels vorbereiten? Wie können geeignete Klimaanpassungsmaßnahmen Betroffene besser erreichen?
Durchgeführt wurde das Projekt von Simon Meisch im Rahmen einer transdisziplinären Kooperation des IZEW mit der Universität Bergen (Norwegen) sowie der Reutlinger Task-Force Klima und Umwelt und der Stadtentwässerung Reutlingen. CANALS bestand aus zwei Phasen. In der ersten fanden Interviews mit 43 Personen aus der Reutlinger Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wirtschaft statt. Ziel war es, einen Eindruck zu bekommen, was in Reutlingen bereits passiert. In der zweiten Phase wurde in Workshops hilfreiches Handlungswissen mit zufällig ausgewählten Reutlinger*innen geschaffen.
CANALS widmete sich der Klimawandelanpassung durch die ›Wasserbrille‹: Künftig wird es vermehrt in kurzer Zeit sehr viel Wasser geben (Starkregen) mit in der Folge kleinräumig wirkendem zu viel Wasser (Hochwasser) oder aber auch zu wenig Wasser (Trockenheit und Dürren) – alles mit erheblichen Auswirkungen auf das öffentliche Leben.
Aus vielen Interviews ging hervor, dass angesichts der Klimaänderungen ein Weiter-So als nicht mehr möglich beurteilt wird. Vielmehr wurde der Bedarf gesehen, dass sich die Reutlinger Bürgerschaft expliziter als bisher darüber verständigt, wie sie mit den Folgen des Klimawandels umgehen will, welche Unterstützung sie dabei von städtischen Einrichtungen erwarten darf und wo sie selbst aktiv werden muss und mit welchen Mitteln. Diese Gemeinschaftsaufgabe gilt es vor dem Hintergrund weiterer globaler Herausforderungen zu bearbeiten: Dazu gehören weiterhin und verstärkt Anstrengungen zum Klimaschutz wie auch die Bewältigung der Folgen des Krieges gegen die Ukraine (Stichwort: Energiesicherheit) oder des demografischen Wandels (Stichwort: Fachkräftemangel).
In Phase 1 wurden vier Herausforderungen für Reutlingen identifiziert: (1) eine gute Anpassung an den Klimawandel gestalten, (2) neue Routinen und Netzwerke von Stadt und Zivilgesellschaft etablieren, (3) zivilgesellschaftliches Engagement aufbauen und stärken und (4) passende Wissensformen schaffen und vermitteln.
Die Beobachtungen aus den Interviews dienten als Ausgangspunkt für die Diskussionen in Workshops, die im Frühjahr 2023 stattfanden. Daran teil nahmen ca. 30 zufällig aus dem Melderegister ausgewählte Reutlinger*innen sowie Fachleute für Klimawandelanpassung aus Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Es galt zu verstehen, wie die Bürger*innen die bisherigen Extremwetter erlebten, was ihnen in solchen Momenten half und was sie sich gewünscht hätten. In den zwei Workshops erarbeiteten die Teilnehmer*innen Empfehlungen, die in einem dritten Workshop von den Fachleuten aufgegriffen und hinsichtlich einer möglichen Umsetzung diskutiert wurden. Die Ergebnisse von CANALS wurden am 28. April 2023 öffentlich vorgestellt. Der Fokus der Empfehlungen lag überwiegend auf der Frage, wie die Reutlinger Zivilgesellschaft gemeinsam relevante Informationen schaffen und zusammen ins Tun kommen kann.
Was ist denn nun eine gute Anpassung an den Klimawandel? CANALS wollte untersuchen, wie Klimawandel durch eine ›Wasserbrille‹ wahrgenommen wird und was es braucht, damit Menschen gemeinsam ins Han-deln kommen. Die Frage nach der guten Klimawandelanpassung stand somit zunächst nicht im Fokus, sondern rückte durch die Interviews dorthin. Dem Projekt ist es gelungen, ein Bewusstsein zu schaffen, dass die Frage nach der guten Klimawandelanpassung eine fortwährende Gemeinschaftsaufgabe (und eben nicht allein ein technisches Problem) darstellt und es dafür öffentliche Foren braucht, auf denen die Reutlinger*innen gemeinsam über eine gute Anpassung ins Gespräch kommen und miteinander lernen können, diese zu gestalten.
(Ich danke Dr. Uta Müller und Lukas Weber für Ihre hilfreichen Kommentare.)