Tübinger Forum für Wissenschaftskulturen
Jahresthema 2023/24: Terraforming – Planetary Engineering in Art, Literature and Media, 1900-1950

In die Zeit ab 1900 fallen Höhe- und Tiefpunkte deutscher Machtentfaltung in vielen Feldern: die Erschließung natürlicher und synthetischer Ressourcen, die Rationalisierung staatlicher Verwaltung und Biopolitik genauso wie die (praktisch nutzlose) Flottenrüstung, die Niederlage im Ersten Weltkrieg, der Verlust der Kolonialterritorien, durch Reparationen bedingte Wirtschaftskrisen, Inflation und der Verlust jüngst geschaffener industrieller Infrastruktur. Imaginationen von massiven technologischen Eingriffen in Umwelt und Gesellschaft haben vor diesem Hintergrund ab 1900 Konjunktur: Viele Intellektuelle sehen sich in ganz Europa und den USA mit einer neuen Qualität der Globalisierung konfrontiert – diese wird als Faktum zur einer der zentralen Motivationen hinter der explodierenden ‚Textproduktion‘ zum Terraforming der Erde und anderer Planeten in Kunst, Literatur, Film und Publizistik.
Planetarische Distribution und Zirkulation von Technologie, Energie und Kapital werden bei den entsprechenden Autor:innen dabei zur Voraussetzung einer terrestrischen Neugestaltung jeder kommenden Gesellschaft. Hiervon ausgehend fokussiert das Jahresthema die Emergenz von Imaginationen über zeitgenössische und zukünftige Krisenphänomene weltumspannender Globalisierung für Deutschland, Europa und die Welt. Im Mittelpunkt steht daher die Frage, welchen Stellenwert Terraforming in verschiedenen Ausmaßen in Texten hat, die auf eine stattfindende ‚Schrumpfung der Erde‘ (und deren Folgen) reagieren.     
So gehen beispielsweise die Ideen Hermann Sörgels zur Regulierung des Mittelmeers (Panropa- bzw. später Atlantropa-Projekt, Erstveröffentlichung 1929) von einer nahenden weltpolitischen Marginalisierung Europas zwischen Amerika und Asien aus, sofern sich Europa nicht mit Afrika zu einem neuen Superkontinent vereinigen und gleichzeitig neue, nachhaltige Energiequellen in Form von mediterraner Wasserkraft erschließen könnte. Weiter handelt Alfred Döblins Berge Meere und Giganten (1924) nicht zuletzt vom Szenario einer möglichen künftigen „Enteisung Grönlands“, um Platz für die enorm gewachsene Weltbevölkerung zu schaffen; das Buch wurde trotz seines fantastischen Settings in diagnostischer Hinsicht schon zeitgenössisch ernst genommen. In Bernhard Kellermanns Roman Der Tunnel (1913) spielen wiederum die ökonomischen Voraussetzungen und Unwägbarkeiten eines gigantischen Transatlantik-Tunnel-Projekts eine zentrale Rolle. Die Liste ließe sich um Texte und Filme von Hans Dominik, Colin Ross, Richard Oswald und diversen Science-Fiction-Autor:innen (z.B. Jack Williamson) erweitern.

Literatur:
Jack Williamson alias Will Stewart: Collision Orbit, in: Astounding Science Fiction, July 82/2, 1942 [Prägung des Begriffs ‚Terraforming‘].
Andy Hahnemann: Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit 1918-1938. Heidelberg: Winter, 2009.
Chris Pak: Terraforming. Ecopolitical Transformations and Environmentalism in Science Fiction. Liverpool: Liverpool UP, 2016.
Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. München: Hanser, 2007.

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