Prof. Dr. Möhring-Hesse und Prof. Dr. Holzem (MNKG)
In der Neuzeit wird (zunächst) in den europäischen Gesellschaften eine antike Idee wieder aufgenommen: Die gemeinsamen Angelegenheiten regeln die Bürger:innen einer Gesellschaft der Gleichen im deliberativen Streit untereinander. Dazu eröffnen sie Arenen der Politik, in denen sie als Bürger:innen Politik treiben und mit- und gegeneinander in Auseinandersetzungen treten. Im Streit der Meinungen und Argumente regeln sie das, was sie gemeinsam betrifft, und vergeben Macht, ihre Gemeinsamkeit durchzusetzen. Dadurch, dass Gesellschaft über Politik »gemacht« und Herrschaft über Politik kontrolliert wird, verändert sich der Einfluss der Kirche auf die Gesellschaft. Sie muss nunmehr in die Arenen der Politik treten, wird dort zur Partei neben anderen Parteien und muss sich dort durchsetzen, um Einfluss zu haben. Für die Christ:innen besteht hingegen die Möglichkeit, ihren Glauben in diesen Arenen selbst zu vertreten und aus eigenem Glauben heraus die mit anderen bevölkerte Gesellschaft zu gestalten. Wie und mit welchen Inhalten Christ:innen und Kirche Politik treiben und wie sie darin ihren Glauben in den politischen Arenen präsent machen, das ist über die Zeit hinweg recht unterschiedlich. In dem interdisziplinären Seminar sollen typische Modelle von »Politik aus dem Glauben« (Erst Michel) im Laufe der Zeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts untersucht werden.
Nach der Französischen Revolution und mit dem Anbruch der Moderne erweiterten sich schlagartig die Chancen, an politischen Prozessen teilzuhaben. Mit dem Verlauf der Französischen Revolution hatten sich gleichzeitig im Verhältnis von Christentum und Politik enorme Spannungen aufgebaut. Diese Konstellation sollte in der Revolution von 1848 unbedingt vermieden werden, tauchte aber in der Grundrechtsdebatte der Paulskirche zwangsläufig prominent wieder auf.
Christen, zum größten Teil Männer in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, sahen sich also herausgefordert, Politik von ihrem Verständnis des Christentums her zu gestalten. Katholiken, auch hier zunächst vorwiegend Männer, definierten ihre politische Aufgabe pointiert im Gegensatz zur politischen Moderne, weil sie die Französische Revolution und ihre Folgen als einen generellen Angriff auf Christentum und Kirche deuteten.
Um 1900 jedoch hatte sich gerade durch diese Kontroversen ein Politikstil entwickelt, der mit den Möglichkeiten des neuzeitlichen Parlamentarismus aktiv rechnete und der auch Frauen zunehmend einen öffentlichen Raum zugestand. Die katholische Partei des Zentrums war für Katholik:innen bis zum gewaltsamen Ende der Weimarer Republik der Ort politischen Handelns schlechthin.
Der konfessionelle bias blieb jedoch bestimmend für jedwedes Verständnis christlicher Politik – mindestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Den ›Kulturkampf‹, den Reichskanzler Bismarck nach 1870 gegen den ›politischen Katholizismus‹ führte, deuteten die Liberalen als Kampf gegen das ›finstere Mittelalter‹, das sie mit einem unfehlbaren Papst unfehlbar wieder heraufziehen sahen. Hier formte sich der Katholizismus erstmals als soziale Bewegung aus, der sich als Ideologie organisierte und seine Organisationen ideologisierte: das ›katholische Milieu‹.
Erst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich im Gedanken der Christlich-Demokratischen bzw. Christlich-Sozialen Union ein Zugang zum Parlamentarismus, der sich als die Konfessionsgrenzen übergreifender Konservatismus verstand, der dem Katholizismus als sozialer Bewegung einen politischen Arm lieh. Er gab in der westlichen Teilrepublik Deutschlands lange den Ton an, bis die Student:innen-Revolte der 1968er Jahre der Nachkriegs- und Wiederaufbau-Generation drastisch den Spiegel vorhielt: ein Parlamentarismus und ein Milieu, das Hitler und den Holocaust nicht verhindert hatte. Eine junge Generation von Christ:innen nahm den Atomkrieg als eklatante Bedrohung wahr, bekämpfte die extreme soziale Ungleichheit des reichen Westens und des bitterarmen Südens und reklamierte mit dem »Club-of-Rome«-Bericht erstmals die »Grenzen des Wachstums«. Christsein als ›Bewegung‹ formierte sich völlig neu.
Revolution und Parlament – Milieu und Bewegung: Die Begriffe markieren Politikauffassungen und Politikstrategien von Christ:innen, denen die Teilnehmenden mit sozialwissenschaftlichen, sozialethischen und historischen Methoden nachgehen werden. Wir bieten dieses Seminar an in einer politischen Lage, in der christliches Engagement in der Politik ebenso wichtig wie ungewiss ist.
Vorbereitende Literatur: Burleigh, Michael: Irdische Mächte – Göttliches Heil. Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart, München 2008.
Workload der Studienleistung: aktive Teilnahme und Vorbereitung einer Seminarsitzung (2 SWS). Darüber hinaus gehende Studienleistung können vereinbart werden. Prüfungsleistungen, i.d.R. Hausarbeiten, können vereinbart werden.