Philologisches Seminar

Balance

Die Denkfigur der Balance und ihre vielfältigen Erscheinungsformen in Kunst, Literatur und Philosophie haben erst in jüngster Zeit das vermehrte Interesse der Geisteswissenschaften auf sich gezogen. Formen und Figuren des Gleichgewichts zählen "von der Antike bis heute zu den Basiselementen kultureller Erfahrung und deren Reflexion" (Goebel/Zumbusch 2020, 7). Aristoteles' Lehre von der 'guten Mitte' (mesotes) ist ein besonders oft rezipiertes Beispiel für eine lange denkgeschichtliche Tradition, die (als Daseinsmetapher) schon in der Antike die Prinzipien von Maß, Mitte und Gleichgewicht zum weltanschaulichen Paradigma erhebt (Goebel/Zumbusch 2020). Die interkulturelle, diachrone und interdisziplinäre Ubiquität von Balance-Figuren zeigt sich nicht nur in der vielgestaltigen Lehre von der 'Mitte' und ihren physiologischen, ethischen und politischen Dimensionen (Grund 2020), sondern auch in ihrem Fortwirken in Ökonomie, Humoralpathologie oder Moraltheorie des frühen und hohen Mittelalters (Kaye 2014). Die dabei oft zugrundeliegende Konzeption einer relativen (Mitte) ist nur eine gedankliche Entsprechung der Balance, die als Metapher und Denkfigur in eine Vielzahl von Diskursen eingeschrieben ist. Im Zentrum der Gleichgewichtsdiskurse stehen oftmals auch Bilder des Exzessiven und Übermäßigen, die als negative Kontrastfolie eine implizite Vorstellung von Gleichgewicht und Mäßigung vermitteln.

Balance lässt sich in zwei Dimensionen unterscheiden: 1. ein Zustand des (Un-)Gleichgewichtes, der zu einem besimmten Zeitpunkt vorliegt. 2. ein Prozess des Balancierens, der oft mit einem Element des Prekären, Schwankenden oder Wechselhaften verbunden ist (Kaye 2014, 4; vgl. Grund 2021, 116-127). Jenseits ihrer semantischen Entsprechung in Wort, Text und Bild, zeigt sich die Denkfigur der Balance auch in einem 'inneren Sinn' für Gleichgewicht - "an apprehension of how things properly fit together and work together in the world" (Kaye 2014, 2). In dieser Auffassung von Stimmigkeit und Kohärenz zeigt sich nicht nur eine anthropologische, sondern auch eine dezidiert ästhetische Facette der Balance.

Robert Kirstein und Simon Grund sind Mitglieder des Promotionsverbundes: Theorie der Balance - Formen und Figuren des Gleichgewichts in Medien-, Kunst- und Literaturwissenschaft

 

Literatur zum Thema (Auswahl):

Einführende Literatur zur Theorie der Balance:
  • Goebel, Eckard/Zumbusch, Cornelia (Hrsg.) (2020), Balance. Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften (= Studien aus dem Warburghaus 23), Berlin, Boston: De Gruyter.
  • Grund, Simon (2021), Gleichgewicht als Ideal – Die Idee der Gütergemeinschaft in Thomas Morus’ Utopia und ihre ethischen und anthropologischen Implikationen, in: Lukas Müsel/Matthias Röck (Hrsg.), Ökonomisierte Welten: Im Spannungsfeld von Balance und Disbalance. Literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Betrachtungen ökonomisch bedingter Ausbalancierungsprozesse, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 97–134.

  • Kaye, Joel (2014), A History of Balance, 1250–1375. The Emergence of a New Model of Equilibrium and Its Impact on Thought, Cambridge: Cambridge University Press.

  • Kister, Aglaia (2020), Fragile Balance. Schwindelerfahrungen und Gleichgewichtsideale im Werk Thomas Manns (= Thomas Mann Studien 56), Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 11–25.

  • Müsel, Lukas/Röck, Matthias (Hrsg.) (2021), Ökonomisierte Welten: Im Spannungsfeld von Balance und Disbalance. Literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Betrachtungen ökonomisch bedingter Ausbalancierungsprozesse, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang.
Literatur zu Balance in der Antike:
  • Gibson, Roy K. (2007), Excess and Restraint. Propertius, Horace and Ovid’s Ars Amatoria (= Bulletin of the Institute of Classical Studies. Supplement 89), London: Institute of Classical Studies.

  • Grund, Simon (2020), Der Weg der ,goldenen Mitte‘ – Aristoteles‘ Lehre der μεσότης (mesotes) und ihre Bedeutung für die Daseinsmetapher der Balance, in: Eckard Goebel/Cornelia Zumbusch (Hrsg.): Balance. Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften, Berlin, Boston: De Gruyter, 35–56.

  • Harrison, Stephen (2020), How to Be Content. An Ancient Poet’s Guide for an Age of Excess, Princeton (NJ): Princeton University Press.

  • Kirstein, Robert (2022), Balance and Excess in Ovid's Pygmalion-Story, in: Tzounakas, Spyridon/Alekou, Stella/Harrison, Stephen (Hrsg.), The Reception of Ancient Cyprus in Western Culture, Berlin, Boston: De Gruyter, 87–101. (in Vorbereitung)

  • Konstan, David (2014), Beauty. The Fortunes of an Ancient Greek Idea, Oxford: Oxford University Press.