Philologisches Seminar

Erzählinstanzen

In narrativen Texten wird nie direkt ein Geschehen erzählt, vielmehr vermittelt eine Erzählinstanz oder Erzählstimme (primary narrator) das Geschehen (Schmid 2014, 8). Solche auktorialen Erzählinstanzen finden wir beispielsweise im antiken Epos. Vergils Aeneis beginnt mit arma virumque cano. In der ersten Person des Verbums cano artikuliert sich eine Erzählinstanz, die das nun Folgende erzählt, ohne dass dieses ‚Ich‘ mit dem historischen Autor Vergil identisch sein muss. Innerhalb des Werkes kann eine oder mehrere untergeordnete Erzählstimmen (secondary narrator, tertiary narrator, etc.) eingebettet sein (de Jong 2014, 34-36). In Vergils Aeneis gilt dies etwa für die Bücher 2 und 3: denn hier erzählt die Figur Aeneas von den Geschehnissen, die der Ausgangssituation von Buch 1 vorausliegen (der Untergang Trojas und die Irrfahrten bis Karthago).

Der Erzählinstanz (narrator) steht eine Rezeptionsinstanz (narratee) gegenüber; da diese Modellierung Bezüge zur Kommunikationstheorie hat, spricht man manchmal auch von Sendern und Empfängern. So wie es auf Senderseite verschiedene Ebenen von narrators gibt, kann es auch auf Empfängerseite mehrere Ebenen von narratees geben. In den Büchern 2 und 3 der Aeneis sind Dido (und die Karthager) primary narratees, Leser und Leserinnen des Werkes dagegen secondary narratees. Abhängig davon, ob eine Erzählstimme ein Geschehen erzählt, in dem sie als (beobachtende oder handelnde) Figur selbst beteiligt ist oder nicht, unterscheidet man zwischen homodiegetischer und heterodiegetischer Stimme. In der Aeneis ist die auktoriale Erzählstimme heterodiegetisch, Aeneas’ Bericht in den Büchern 2 und 3 dagegen homodiegetisch.

Literarische Kommunikation unterscheidet sich von einem kommunikativen 'Normalfall' besonders in 2 Dimensionen. Erstens interagieren Sender, Text und Empfänger in zeiträumlicher 'Asymmetrie' (Iser 1994, 262-264). Das heißt, dass sich beide Instanzen nicht in einer face-to-face Situation gegenüberstehen und daher ein besonderer Aufwand dafür verwendet werden muss, den spezifischen kontextuellen Verstehensrahmen zu eruieren, um die Inhalte der literarischen Botschaft verstehen zu können. Zweitens folgt die Kommunikation in literarischen Texten anderen interaktionalen Rahmenbedingungen. Man kann mit Knape in diesem Fall von Sonder- oder Kunstkommunikation sprechen, bei der die Regeln der 'Verstehenssicherung', die als Kooperationsprinzip gelingender Standardkommunikation (Grice 1975) in einem Normalgespräch vorausgetzt werden, "in spezifischer Weise außer Kraft gesetzt bzw. deutlich modifiziert" sind (Knape 2008, 895-906, Zitat 899). Gerade vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, im Falle von Literatur nicht von einer Intention des Autors, sondern von einer 'narrativen Strategie' (Tjupa 2014) einer abstrakten, auf der Basis des Textes rekonstruierten Autorinstanz zu sprechen (Schmid 2014, 47-64), die den Sprechakt des narrator regiert.

Artikel Narrator im Living Handbook of Narratology

Artikel Narratee im Living Handbook of Narratology

Infografik 2-Ebenen Modell literarischer Kommunikation

Infografik 3-Ebenen Modell literarischer Kommunikation

Literatur zum Thema (Auswahl)

Einführende Literatur:
  • Jong, Irene J. F. de (2014), Narratology and Classics. A Practical Guide, Oxford: Oxford University Press, 1745.

  • Schmid, Wolf (32014), Elemente der Narratologie, Berlin, Boston: De Gruyter, 46106.

  • Wenzel, Peter (2004), Zu den übergreifenden Modellen des Erzähltextes, in: Peter Wenzel (Hrsg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 5–22.

Weiterführende Literatur:

  • Grice, Paul (1975), Logic and Conversation, in: Peter Cole/Jerry L. Morgan (Hrsg.): Speech Acts, New York u.a.: Academic Press, 41–58.

  • Iser, Wolfgang (1994), Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink.

  • Jong, Irene J. F. de (22004), Narrators and Focalizers. The Presentation of the Story in the Iliad, London: Bristol Classical Press.

  • Knape, Joachim (2008), Rhetorik der Künste, in: Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape (Hrsg.): Rhetorik und Stilistik. Band 1, Berlin, New York: De Gruyter, 894–928.

  • Tjupa, Valerij (2014), Narrative Strategies, in: Peter Hühn/Jan Christoph Meister/John Pier/Wolf Schmid (Hrsg.): Handbook of Narratology. 2nd edition, fully revised and expanded, Berlin, Boston: De Gruyter, 564–574.