Religionspädagogik

Werkserschließung

Essayistische Schriften

Ebenso umfangreich wie das Romanwerk sind die diversen Essaysammlungen im Werk von Elie Wiesel. Es handelt sich um thematisch und stilistisch höchst vielfältige Sammlungen von Artikeln, verschriftlichten Reden und Vorträgen, kurzen Erzählungen, Geschichten, Erinnerungen, fiktiven Dialogen, ethischen und religionsphilosophischen Abhandlungen. Thematisch spiegeln sich das Gesamtwerk und das lebenslange Engagement Wiesels für Erinnerung, Humanität, Menschenrechte, gegen Krieg, Hass und Antisemitismus in den publizierten Essaybänden.

Das Essaywerk beginnt mit dem wichtigen Band Gesang der Toten, der bereits 1966 als Le Chant des morts“ auf Französisch erschien. Diese erste Essaysammlung ist dem Zentralpunkt von Wiesels Werk, der Erinnerung, gewidmet. Der Band beginnt programmatisch mit einem Bericht über den Tod seines Vaters im KZ Buchenwald und endet mit einem eindringlichen „Plädoyer für die Toten“, das das Gedenken der Toten jedem beherrschenden Zugriff entzieht: „Lernt also zu schweigen“ lautet die Mahnung an die Nachwelt.

Im gleichen Jahr erscheint der ebenfalls programmatische Band Die Juden des Schweigens auf Französisch (Les Juifs du silence). Er enthält Essays, Reiseberichte und Gedanken zum Schicksal der Juden in der damaligen UdSSR, die unter den Nachwirkungen des antisemitischen Stalinismus zu leiden hatten. Ihre Menschenrechte – und mit ihnen die Rechte aller Unterdrückten im Sowjetregime – werden von Wiesel öffentlich eingeklagt. Hier sind die Ursprünge von Wiesels weiterem Kampf für Menschenwürde und gegen Unrecht in aller Welt zu sehen. Es geht ihm darum, denen einen Stimme zu geben, die keine Stimme haben oder deren Stimme und Würde brutal unterdrückt wird.

Was wird aus der Erinnerung an die Shoah eine Generation danach und wie gestaltet sich jüdisches Leben und jüdische Identität in der Zeit nach dem Holocaust? Wie können die Kinder von Überlebenden, die zweite Generation, mit der Bürde der Erinnerung ihrer Vorfahren weiterleben? In den Bänden Entre deux soleils (engl: One generation after) und Un Juif aujord’hui (Jude heute) greift der Autor wesentliche Fragen jüdischer Existenz in seiner Zeit auf. Oft wurden die Essays inspiriert von konkreten Begegnungen.

Die zwei bislang nicht übersetzten Essaybände Paroles d’etranger (1982) und Signes d’exode (1985) führen im Untertitel die Zusätze „Essays, Geschichten und Dialoge“. Stets werden autobiografische Erinnerung verarbeitet (z.B. „Der Tod meiner Mutter“ oder „Erinnerungen an Pessach“). Fiktive bzw. fiktionale Dialoge sind eines der charakteristischen Stilmittel, die Wiesel entwickelt (z.B. Gespräche eines Kindes mit seinem Großvater oder mit einem Fremden, das Gespräch zwischen einem alten Menschen und dem Tod). Themen wie der Kambodscha-Krieg, die nukleare Bedrohung, die Unterdrückung und Vernichtung von indigenen Völkern in Lateinamerika, Hunger und Krieg werden im Essaywerk dominant, aber auch religiöse Themen wie „Glauben oder Nicht-Glauben“, die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Gebeten nach Auschwitz oder anthropologische Themen wie „Das Lob der Freundschaft“.

Die monumentale Sammlung der drei Bände Against Silence mit dem Untertitel The Voice and Vision of Elie Wiesel, die Irving Abrahamson im Jahr 1985 herausgegeben hat, enthält Reden, Artikel, Essays, Interviewauszüge, offene Briefe, Rezensionen und Geschichten Wiesels, die das ganze Themenspektrum seines Schaffens umfassen. Es geht um Erinnerung an den Holocaust, jüdische Identität, Menschenrechte, sein Engagement für das United States Holocaust Memorial sowie Gedanken über Jerusalem, Freundschaft, Erziehung, sein Selbstverständnis als Schriftsteller und sein Verhältnis zu Land und Staat Israel.

Weitere Essaysammlungen, die Wiesel publiziert, enthalten Reiseberichte, zum Beispiel über einen Besuch in Deutschland, seine Reden zur Nobelpreisverleihung in Oslo, im Deutschen Bundestag in Berlin, Essays gegen Apartheid, Gleichgültigkeit und über die Sehnsucht nach Frieden.

Am Ende stehen zwei bemerkenswerte Bände, die den Abschluss von Wiesels zu Lebzeiten publizierten Essaysammlungen darstellen: Woher kommst Du? (D’ou viens-tu?, Paris 2001) und Wohin gehst Du? (Et où va-tu?, Paris 2004). Sie sind beide unter das Motto eines berühmten Wortes von Akabia, dem Sohn des Mahallel, gestellt: „Denke über die drei folgenden Ratschläge nach, und du wirst keine Übertretung begehen: Wisse, woher du kommst, wohin du gehst und vor wem du dich verantworten musst.“