Religionspädagogik

„Erziehung geschieht durch Erinnerung und Erinnerung geschieht durch Erziehung. Erziehung impliziert Erinnerung. […] Ich glaube an Erziehung mehr als an andere Dinge. […] Ich glaube an die jungen Menschen, die sich engagieren und die sich in Deutschland mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Es muss mehr und mehr junge Deutsche geben, die sich bewusst an Auschwitz erinnern – um Deutschland willen.“

Elie Wiesel in: Trotzdem hoffen, S. 95f.


Pädagogische Impulse

Die Bedeutung Elie Wiesels für eine kritische Erinnerungskultur nach Auschwitz macht es notwendig, die wissenschaftliche Erforschung seines Werkes mit Impulsen für die Bildungsarbeit zu verbinden. Die Forschungsstelle Elie Wiesel macht es sich daher zum Ziel, an dieser Stelle im Laufe der Zeit pädagogische Impulse und konkrete Vorschläge für die Praxis kostenlos zugänglich zu machen.

Unterrichtsvorschläge zum Holocaustzeugnis „Die Nacht“ von Elie Wiesel

Das bedeutende Zeugnis des Holocaust „Die Nacht“, das der Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel zehn Jahre nach seiner Befreiung verfasst hatte, liegt nun in neuer deutscher Übersetzung vor. Sie ist nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen angefertigt und enthält ein Glossar sowohl zu jüdischen Begriffen als auch zur Lagersprache und NS-Begriffen, biografische und editorische Hinweise, einschließlich einer Landkarte der Wege der Deportation und Befreiung. Dies ermöglicht auf besondere Weise einen umfassenden Umgang mit der Ganzschrift „Die Nacht“ für Lehrer:innen und Schüler:innen im Unterricht. So eignet sich der Umgang mit diesem Werk in den verschiedensten Fächern, insbesondere in Religionslehre, Ethik, Geschichte, Gemeinschaftskunde und Deutsch. Darüber hinaus möchten wir auch eine fächerübergreifende Zusammenarbeit mit Kolleg:innen der verschiedenen Fachbereiche anregen. Ebenso bietet sich das Werk „Die Nacht“ auch für die Gestaltung eines Seminarkurses im Bereich der Oberstufe an. Nicht nur in diesem Kontext lässt sich der schulische Unterricht mit dem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau oder anderer Gedenkstätten als Lernen an außerschulischen Lernorten verknüpfen.

Will man mit dem Holocaustzeugnis Elie Wiesels im Unterricht arbeiten, ist es wichtig, Schüler:innen nicht unvorbereitet mit den Texten aus „Die Nacht“ zu konfrontieren. Lernende sollten stets die Möglichkeit haben, sich zunächst zu dieser Thematik zu verhalten, ihre Interessen, Vorerfahrungen und Zugänge, aber auch mögliche Abwehr und Vorbehalte oder auch der Wunsch, sich nicht „ständig mit diesem Thema“ beschäftigen zu müssen, auszudrücken. So sollten die Vorerfahrungen der Schüler:innen entsprechend Raum bekommen und der Lehrkraft auch die Möglichkeit bieten, den Bezug der Kinder und Jugendlichen zum Thema zu ergründen. Außerdem sollten sie über Konsequenzen, Handlungsmöglichkeiten und die Bedeutung für die Gegenwart diskutieren können, damit sie nicht mit den Eindrücken eines Holocaust-Zeugnisses alleine bleiben und ihnen die Bedeutung auch für ihre eigene, konkrete Lebenswirklichkeit transparent werden kann.

Deshalb schlagen wir eine Dreiteilung einer möglichen Unterrichtseinheit vor:

Erster Schritt: Zugänge, Vorerfahrungen, mögliche Abwehr und Widerstände gegen das Thema. Denkanstöße: fiktive Fragen / Aussagen wie die folgenden sollten – gerne auch kontrovers – diskutiert werden:

  • Warum sollen wir uns erinnern?
  • Was geht mich das an?
  • Das ist so lange her und hat mit uns nichts mehr zu tun!
  • Ich kann das Thema nicht mehr hören, ständig sollen wir uns damit auseinandersetzen!
  • Ich komme aus einem anderen Land, warum soll ich mich damit beschäftigen?
  • etc.

Zweiter Schritt: Ein ganz anderer Zugang als üblich, nämlich über eine konkrete Biografie

Hierzu kann das ganze Buch „Die Nacht“ von Elie Wiesel gelesen werden (ca. 130 Seiten in einem Taschenbuch), oder es können einzelne repräsentative Textteile verwendet werden. Wie in Schritt 1 sollen die Lernenden auch hier immer wieder die Möglichkeit erhalten, sich dazu zu verhalten: durch Austausch über ihre Eindrücke, ihre Gefühle, ihre Fragen etc. Wichtig ist, das „Überwältigungsverbot“ zu beachten und Schüler:innen nicht unvorbereitet mit belastenden Themen zu konfrontieren. Vor allem ist eine gute Nach- und Aufarbeitung wichtig.

Dritter Schritt: Was nun? Bedeutsamkeit für die eigene Lebenswirklichkeit

Elie Wiesel hat aus seiner Erfahrung der Todeslager eine Botschaft für Menschlichkeit, Menschenwürde und Frieden gemacht. Nach der Lektüre von „Die Nacht“ kann man diese biografischen Aspekte näher in den Blick nehmen und davon ausgehend die Bedeutsamkeit für die eigene Gegenwart und Zukunft diskutieren:

  • Welche Beispiele für Feindlichkeit gegen Gruppen von Menschen gibt es heute? Welche Ursachen gibt es dafür?
  • Was können wir heute tun, um in einer pluaren Gesellschaft, mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen, friedlich zusammenzuleben?
  • Wie können wir Rassismus und Antisemitismus heute vorbeugen und bekämpfen?

Hinweise und Ideen zu Schritt 2 finden Sie im folgenden Unterrichtsentwurf  "Lebens- und Glaubensgeschichten eines Überlebenden". Dieser wird derzeit komplett überarbeitet. Ebenso werden weitere Unterrichtsvorschläge erarbeitet und demnächst auf dieser Seite abrufbar sein.

Die Erstveröffentlichung des Unterrichtsentwurfes erfolgte in: Glaubensprofile: Elie Wiesel, in: notizblock. Zeitschrift für Religionslehrerinnen und Religionslehrer der Diözese Rottenburg-Stuttgart 26/1999, S. 43-50 (Wiederabdruck in: Franz Wendel Niehl (Hg.): Christen-Juden, Katechetisches Institut des Bistums Trier, 2002).

 

Den Unterrichtsentwurf mit allen Materialien als PDF-Version können Sie hier downloaden.

Einführende Gedanken

"... aber Du, Gott, wo bist Du?"

Lebens- und Glaubensgeschichten eines Überlebenden

Prof. Dr. Reinhold Boschki

„Stellen Sie sich vor“, erzählt Elie Wiesel, „wie ich nach Auschwitz kam. Jeder von uns durfte nur einen Koffer von zu Hause mitnehmen.“ Mit Schülerinnen und Schülern hatte ich oft überlegt, was wir in einem Koffer mitnehmen würden, müßten wir unser Haus, unsere Heimat in eine ungewisse Zukunft hinein verlassen. Taschenrechner, Armbanduhr, liebgewonnene Gegenstände aus dem Zimmer und der Wohnung, einige Briefe, Kleidung und und und. Wie solche Gedanken dramatische, aktuelle Wirklichkeit werden, wurde durch die erschreckenden Berichte der Flüchtlinge aus dem Kosovo im Frühjahr 1999 wieder bewußt. „Was ich mitnahm?“ berichtet Wiesel weiter: „Meinen Tallit, meine Tephillin, also Gebetsschal und Gebetsriemen, einige religiöse Bücher, diverse rituelle Gegenstände - sonst nichts. So kam ich nach Auschwitz.“
Mit nicht ganz sechzehn Jahren wurde der junge, aus der chassidischen Tradition des osteuropäischen Judentums stammende Elie Wiesel in die Konzentrations- und Todeslager deportiert. Unmittelbar nach Verlassen des Zuges, an der berüchtigten Rampe von Auschwitz-Birkenau, sah er seine Mutter und seine kleine Schwester Tsiporah zum letzten Mal. Natürlich wurde ihm auch der Koffer entrissen. Er klammerte sich an seinen Vater, der später im KZ Buchenwald an Krankheit, Schwäche und Schlägen starb. Mit knapper Not erlebte Elie die Befreiung im April 1945.
Seine schlimmen Erfahrungen riefen Verzweiflung hervor - Verzweiflung am Menschen und an Gott. Und dennoch ist sein weiteres Leben durchzogen von einer unbändgen Hoffnung, daß Ähnliches nie wieder geschehe. Die Erinnerung an die Schrecken der Vergangenheit soll uns ermöglichen, die Zukunft dieses Planeten menschlich zu gestalten. „Erinnerung ist Hoffnung - und Hoffnung ist Erinnerung“, schreibt Elie Wiesel später.
Die ungeheuere Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen vertrauender Hingabe und schmerzvoller Klage gegen Gott machen Elie Wiesel zu einem der wichtigsten Zeugen für die Humanität, aber auch zu einem der profiliertesten Glaubenszeugen des 20. Jahrhunderts.
Hat Elie Wiesel für das kommende Jahrhundert noch eine Bedeutung? Und vor allem: Liegen nicht Welten zwischen seiner Erfahrung und der Erfahrung von jungen Menschen heute? Welche Brücken gibt es?

Religionsdidaktische Vorbemerkungen

Literaturgrundlage

Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerungen und Zeugnis, Freiburg i.Br.: Herder, 2013. 160 S.
"Die Nacht" ist Wiesels autobiographischer Bericht über die letzten Wochen in seiner Heimat, über die Deportierung und seinen Überlebenskampf in den Lagern Auschwitz und Buchenwald.
Für den Religionsunterricht eignet sich "Die Nacht" als Ganzschrift, werden hier doch aus der Perspektive des fünfzehn- und sechzehnjährigen Wiesels zentrale Fragen von bleibender Bedeutung aufgeworfen: Wie kann die Menschheit zusehen, wenn Menschen verbrannt werden? Wo ist Gott in all dem Schrecken?
Im Angesicht der Vernichtung lässt Wiesel nicht von der Gottesfrage ab, stellt sie vielmehr mit neuer Vehemenz. So ist "Die Nacht" nicht nur als Lebens-, sondern auch als Glaubensgeschichte zu lesen.

Unterrichtsbausteine

Baustein 1: Der Bericht eines Überlebenden

Baustein 2: Die Lebensgeschichte Elie Wiesels

Baustein 3: Wo ist Gott?

Baustein 4: Streiten mit Gott im Religionsunterricht

Baustein 5: Eine Quelle der Hoffnung

Downloads

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Hinweis: Erstveröffentlichung dieses Unterrichtsentwurfes in:

Artikel

  • Babic, Matthias/Maitereth, Juliane/Strasser, Nina-Marie: »Nie werde ich diese Nacht vergessen, [...]« It’s a Podcast – Erinnerungskultur im Religionsunterricht neu erleben, in: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), 2021 (Heft 3), S. 241-243. Eine PDF-Datei des Artikels finden Sie hier.

Für den vorliegenden Unterrichtsentwurf wurde das digitale Medium Podcast gewählt. Seit ein paar Jahren liegen Podcasts voll im Trend, diverse Influencer_innen betreiben mittlerweile ein solches Format. Die mal mehr, mal weniger langen Folgen finden eine breite Hörerschaft und werden auf dem Weg zur Schule, in der Badewanne oder auch vor dem Einschlafen gehört. Podcasts können jedoch nicht nur der reinen Unterhaltung dienen, sondern auch sachliche und informative Inhalte behandeln. Viele Podcastbetreiber greifen aktuelle Themen auf oder machen beispielsweise auf Missstände in unserer Zeit und Gesellschaft aufmerksam. Im Blick auf erinnerungsgeleitete Lehr-Lern-Prozesse vermag dieses Medium, den Spagat zwischen Gegenwart und Vergangenheit – und konkret innerhalb dieser Unterrichtseinheit – zwischen den Schüler_innen selbst und der Person Elie Wiesel zu überbrücken.

  • Hinkelmann, Nina/Zwior, Laurenz: »Um zu vergessen, spricht man. [Um zu erinnern, schweigt man].« Unterrichtsentwurf zu Elie Wiesels Der Schwur von Kolvillág, in: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), 2021 (Heft 3), S. 244-247. Eine PDF-Datei des Artikels finden Sie hier.

[D]ieser Unterrichtsentwurf zu Elie Wiesels Der Schwur von Kolvillág [soll] einen Beitrag leisten, indem neben der Verwendung des Romans eines jüdischen Holocaust-Überlebenden und Friedensnobelpreisträgers das zusätzliche Lehr-Lern-Material ebenfalls aus jüdischen Quellen stammt. So soll gewähreistet werden, dass nicht nur über das Judentum gesprochen, sondern mit dem Judentum gelernt wird.

  • Schober, Michael: Filmtipp: Die Schüler der Madame Anne (Les héritiers), in: Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext (ZfBeg), 2021 (Heft 3), S. 248-249. Eine PDF-Datei des Artikels finden Sie hier.

In dem US-Film Freedom Writers steht dabei stärker das Umfeld der Schüler_innen mit Banden- kriegen und ethnischen Konflikten im Mittelpunkt, wobei die Lehrerin das Vertrauen der Schüler_innen dadurch gewinnt, indem sie glaubhaft signalisiert, an den extremen Erfahrungen der Schüler_innen interessiert zu sein – praktisch jede_r von ihnen hat bereits Opfer im Bandenkrieg zu beklagen. In der Klasse entsteht ein fragiler Schutzraum, der einigen Schüler_innen den Ausstieg aus den gewalthaltigen Teufelskreisen ermöglicht.