Institut für Erziehungswissenschaft

Dr. Daniela Ammer

Die Umwelt des World Wide Web.

Ammer, Daniela (2008): Die Umwelt des World Wide Web. Bildung für nachhaltige Entwicklung im Medium World Wide Web aus pädagogischer und systemtheoretischer Perspektive

Im Spiegel des World Wide Web (WWW) zeigt sich die moderne Gesellschaft als unberechenbar und polykontextural. Fortlaufend werden neue Perspektiven und Kontexte aufgespannt, die keine eindeutige Orientierung, etwa in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung, zuzulassen scheinen. Doch genau darin liegen Chancen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BnE): So ermöglicht der didaktische Einsatz des WWW etwa das Beobachten und Erleben der polykontexturalen Verhältnisse der modernen Gesellschaft - in der psychischen und sozialen Umwelt des Netzes. Das Wissen um eine ungewisse Zukunft und paradoxe Beobachtungen fordern die Internetnutzer im Idealfall zu einem konstruktiven Umgang mit dem immer größer scheinenden Nicht-Wissen heraus. Doch Vorsicht: Auch dies ist nur eine Beobachtungsmöglichkeit von vielen!

Aus Sicht der soziologischen Systemtheorie kann das World Wide Web als soziales System betrachtet werden, dessen Eigenarten sich mithilfe von Luhmanns Theorie sozialer Systeme analysieren lassen. Unter dieser Voraussetzung ist der Titel der vorliegenden Arbeit zweifach zu deuten: Wie wird im Medium WWW über Umwelt(en) kommuniziert und wie ist das System WWW an seine (relevante) Umwelt gekoppelt? Hinsichtlich der Beantwortung dieser Fragen spannt der Text zwei unterschiedliche Beobachtungsräume auf, die nicht ohne weiteres kompatibel erscheinen: Eine (system-)theoretische und eine pädagogisch-empirische Perspektive auf das Thema. Diese beiden Perspektiven lassen sich nicht deckungsgleich überlagern. Es handelt sich vielmehr um zwei „Brillen“, mit denen BnE im Medium WWW jeweils anders betrachtet werden kann und damit auch um unterschiedliche Optionen für anschließende Beobachtungen.


Dem Text liegt die Unterscheidung zwischen Beobachtung erster Ordnung und Beobachtung zweiter Ordnung zugrunde. Der aktuelle Forschungsstand und die sog. Mehrwertdiskussion zu E-Learning- und Blended-Learning-Angeboten im Bereich der BnE lässt sich als Beobachtung erster Ordnung auffassen. Das Beobachten dieser Beobachtungen (die Beobachtung zweiter Ordnung) findet anschließend auf zwei getrennten Ebenen statt, mithilfe der o. g. „Brillen“ der Systemtheorie und der empirischen Sozialforschung. Zunächst bietet die systemtheoretische Perspektive Antworten auf die Frage, wie Forschende und Akteure E-Learning und Blended Learning im Rahmen einer BnE beobachten, d.h. welche Unterscheidungen dabei benutzt werden. Weiterhin lässt sich zeigen, wie der Einsatz des World Wide Web in der Bildung für nachhaltige Entwicklung anders beobachtet werden kann und welche für BnE relevanten Funktion(en) das Medium dabei erfüllen könnte. Die in der Mediendidaktik häufig als Nebeneffekt bezeichnete gesellschaftliche Funktion des World Wide Web wird dabei besonders fokussiert und beleuchtet. Aus Perspektive der empirischen Sozialforschung stellt sich die Frage: Wie beeinflusst das WWW Nachhaltigkeitskommunikation im Rahmen einer BnE? Dazu erfolgt die Darstellung und Auswertung einer empirischen Untersuchung von webbasierten BnE-Lehrveranstaltungen. Die Autorin hat sie in Form von qualitativen Experimenten an Fachhochschulen in Baden-Württemberg durchgeführt.
Beide Beobachtungsmöglichkeiten (die systemtheoretische wie die empirische) stehen einerseits für sich, lassen sich jedoch auch als zwei Seiten einer Beobachtung leitenden Differenz betrachten: der Unterscheidung von Medium und Form. Das World Wide Web kann auf beiden Seiten dieser Differenz verortet werden. Es ist sowohl als Medium als auch als Form beschreibbar. Als Medium stellt das WWW ein didaktisches (und meist unter dem technischen Aspekt genutztes) Hilfsmittel für BnE dar, das bestimmte Formen von BnE realisierbar macht – oder weniger dinghaft formuliert: Es handelt sich um einen erweiterten Möglichkeitsraum (im Sinn einer Menge homogener, lose gekoppelter Elemente), in dem sich Formen einer BnE (als strikter gekoppelte Elemente) verwirklichen lassen. Als Form bildet das WWW ein soziales System, das spezifische Möglichkeiten der strukturellen Kopplung an andere Systeme bietet, etwa in Bezug auf BnE (als Teil des Bildungs- und Erziehungssystems) als auch in Bezug auf die einzelnen Nutzer (als psychische Systeme). Die Betrachtung des WWW als Sozialsystem impliziert jedoch vor allem die operationale Geschlossenheit und Selbstorganisation der jeweiligen Systeme, die sich einer Kontrolle oder gezielten Steuerung von Personen im pädagogischen Kontext prinzipiell entziehen.


Der Schwerpunkt aktueller Forschung zum Einsatz neuer Medien in der BnE liegt auf empirischen (Bildungsforschungs-)Ansätzen. Begleitend dazu bietet die vorliegende Arbeit eine Möglichkeit der theoretischen Reflexion und Fundierung solcher Forschung an. Die darauf aufbauende Verknüpfung von rekonstruktiver Sozialforschung und Systemtheorie zeigt eine bislang selten genutzte Möglichkeit, das Theoriegebäude Luhmanns für die empirische Bildungsforschung aufzuschließen.

 

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