Empirische Forschung zu Zeitzeug:innenbefragungen

Zeitzeug:innenbefragungen im Geschichtsunterricht

Zeitzeug:innenbefragungen im Geschichtsunterricht sind beliebt, um Schüler:innen die Vergangenheit nahe zu bringen. Allerdings glauben die Schüler:innen den Zeitzeug:innen gelegentlich mehr als den Schulbüchern oder schriftlichen Quellen, denn Zeitzeug:innen „waren dabei“. Zeitzeug:innen sind für den Geschichtsunterricht also spannend, aber auch risikoreich.

In mehreren Studien untersuchen wir die Wirksamkeit von Zeitzeug:innenbefragungen im Geschichtsunterricht. Das BMBF-geförderte Dissertationsprojekt von Christiane Bertram zu „Chancen und Risiken von Zeitzeug:innenbefragung im Geschichtsunterricht“ stellte den Ausgangspunkt für zwei weiterführende Projekte dar: Dr. Lisa Zachrich erforschte in ihrer Promotion im Kontext von LEAD die besondere Lernerfahrung mit Zeitzeug:innen und entwickelte ein Instrument, um das Schüler:innenerleben während der Begegnung mit Zeitzeug:innen standardisiert zu erfassen. Dieses wurde in einer weiteren groß angelegten randomisierten Feldstudie (RCT), der DFG-geförderten Zeitzeug:innenstudie, eingesetzt, in der geschulte Lehrkräfte in einer Unterrichtseinheit zu deutsch-deutschen Perspektiven mit Live- und Videozeitzeug:innen gearbeitet haben. Wir versprechen uns von diesen Studien wichtige Einsichten in die Wirkmechanismen der Arbeit mit Zeitzeug:innen.

Generationenprojekte: Videointerviews mit Zeitzeug:innen

Christiane Bertram hat zwei Oral History Projekte zur Erinnerung an die deutsch-deutsche durchgeführt (die sogenannte „Generationenprojekte“), in denen Menschen, die 1975 bzw. 1961 im Osten und Westen Deutschlands geboren worden sind, in lebensgeschichtlichen Videointerviews befragt wurden (siehe bspw. Trailer der „Generation 1975“). Die Interviews werden in der Forschung und Lehre genutzt. Beispielsweise wurde in der DFG-Zeitzeug:innenstudie mit Zeitzeug:innen der “Generation 1975” gearbeitet. Die Videos stehen samt Unterrichtsmaterial auf dem sogenannten “Generationenportal” des Landesbildungsservers Baden-Württemberg zur freien Nutzung zur Verfügung.

In dem derzeit laufenden Projekt “Generationen erinnern” werden die Videos der “Generation Mauerbau” transkribiert und für den Unterricht aufbereitet. Geplant sind weitere Projekte und Ausstellungen, in denen das Material der “Generationen”-Studien implementiert werden soll.

Save the date!

Herzlich laden wir Sie ein zum Tag der Zeitzeug:innen am 1./2.10.2025 in der Alten Aula, Universität Tübingen, der unter der Überschrift "Erinnern und Demokratie" steht.

Namhafte Expert:innen zum deutsch-deutschen Diskurs, z.B. Prof. Dr. Detlef Pollack (Religionssoziologe), Prof. Dr. Monika Oberle (Politikdidaktik), Prof. Dr. Christina Morina (Zeitgeschichte), Prof. Dr. Dirk Oschmann (Literaturwissenschaft) und Dr. Anna Lux (Geschichte und Soziologie) werden mit Lehrkräften und Mulitplikator:innen der historisch-politischen Bildung diskutieren. Die Veranstaltung ist als "Landesfachtag" für Fortbildner:innen in Baden-Württemberg verpflichtend und wird als Lehrkräftefortbildung des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) anerkannt.

Dissertationsprojekt (2011-2017): RCT zu Chancen und Risiken von Zeitzeug:innenbefragungen

Ziel der Studie war es, Wege aufzeigen, wie das didaktische Instrument der Zeitzeug:innenbefragungen im Geschichtsunterricht so eingesetzt werden kann, dass die Chancen (z.B. historisches Interesse wecken) genutzt und gleichzeitig die Risiken (z.B. unreflektierter Umgang mit der vermeintlich authentischen Quelle) minimiert werden.

Hierfür wurde die Wirkung von drei Interventionen mit Zeitzeug:innen zum Thema „Friedliche Revolution in der DDR“ in insgesamt 35 baden-württembergischen Gymnasialklassen der 9. Jahrgangsstufe verglichen: Je zehn Klassen arbeiteten entweder mit einem lebendigen Zeitzeugen, mit Video-Clips oder mit den Transkriptionen einer Zeitzeugenbefragung und fünf Klassen wurden ohne Zeitzeug:innen unterrichtet. Die Studie untersuchte die Effekte der Arbeit mit Zeitzeug:innen auf die Förderung der historischen Kompetenzen, den Erwerb von Faktenwissen und auf das Geschichtsinteresse.

Ergebnisse

Zentrale Publikation zur Studie:

Bertram, C., Wagner, W. & Trautwein, U. (2017). Learning historical thinking with oral history interviews. A cluster randomized controlled intervention study of oral history interviews in history lessons. American Educational Research Journal, 54(3), 444-484. doi: 10.3102/0002831217694833

Promotionsprojekt (2017-2022) zur besonderen Lernerfahrung mit Zeitzeug:innen

Die Ergebnisse der Zeitzeug:innenstudie zu Chancen und Risiken wiesen darauf hin, dass die Begegnung mit Live-Zeitzeug:innen eine komplexe Lernerfahrung darstellt, die sich auf den Erwerb von Kompetenzen historischen Denkens der Lernenden auswirkt. Dr. Lisa Zachrich ging in ihrem Dissertationsprojekt der Frage nach, was "das Besondere" dieser Begegnung mit einem Zeitzeug:innen ist. Von einem theoriebasierten Rahmenmodell aus entwickelte sie ein standardisiertes Messinstrument, um die möglichen kognitiven, emotionalen und physischen Reaktionen auf die Begegnung mit Zeitzeug*innen sowie die wahrgenommene Authentizität empirisch fassbar zu machen.

Dissertation
Zachrich, L. (2022). Empirische Bildungsforschung trifft Geschichtsdidaktik:
Eine Untersuchung der Lernprozesse im Lernarrangement mit Zeitzeug:innenberichten
 (Dissertation). Universität Tübingen. https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/133894/Dissertation_Zachrich_Veröffentlichung.pdf?sequence=1&isAllowed=y

DFG-Zeitzeug:innenstudie (2022-heute): RCT zur Wirksamkeit einer optimierten Unterrichts-einheit mit Zeitzeug:innen

Wir haben aufgrund der Erkenntnisse aus der Studie zu Chancen und Risken von Zeitzeug:innenbefragungen an zwei Stellschrauben für die Einbindung von Zeitzeug:innen in den Unterricht in einer neuen, groß angelegten Unterrichtsstudie gedreht. Zwei Zeitzeug:innen mit unterschiedlichen Perspektiven sollten den Schüler:innen zeigen, dass es häufig mehr als eine Perspektive auf ein geschichtliches Thema geben kann und deshalb die Aussagen auf ihre empirische Plausibilität geprüft werden müssen. Außerdem lag der Fokus auf Berichten über den „Alltag“ und sollte die Gefahr verringern, dass Schüler:innen von den Zeitzeug:innenberichten überwältigt werden.

Zusammen mit dem Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg (ZSL) haben wir eine Unterrichtseinheit entwickelt, in der mit den Aussagen von zwei Zeitzeug:innen entweder live im Klassenzimmer oder mit einem Videozusammenschnitt gearbeitet wird. Zum Thema Transformationszeit nach 1989/90 kamen so jeweils eine West- und eine Ostperspektive nebeneinander zu Wort. Um die Effekte der Intervention in möglichst realistischen Umständen zu erfassen, nahmen die insgesamt 50 Lehrkräfte mit ihren eigenen Klassen (insgesamt 1.301 Schüler:innen) teil und unterrichteten zufällig zugewiesen entweder die Unterrichtseinheit (mit Livebesuch oder mit einem Video von zwei Zeitzeug:innen) oder in der Kontrollgruppe nach Lehrplan ohne Zeitzeug:innen.  Die Analysen haben wir vorab umfangreich präregistriert.

Interviewprojekt mit Zeitzeug:innen der „Generation 1975“

In dem Video-Interviewprojekt „Generation 1975: Mit 14 ins neue Deutschland“ wurden in ungefähr dreistündigen Oral History-Interviews 26 Zeitzeug:innen aus dem Osten und Westen Deutschlands nach ihrer Erinnerung an das geteilte und wiedervereinigte Deutschland befragt. Diese bisher wenig in den Blick genommene Generation wie auch der wechselseitige Blick auf das eigene und jeweils andere gesellschaftliche System erschließen neue Themen und Zielgruppen für den Themenbereich der deutsch-deutschen Teilungsgeschichte. Die lebensgeschichtlichen Interviews werden in der Forschung und Lehre genutzt und stehen Forschenden auf dem „Archiv Deutsches Gedächtnis“ zur Verfügung. Die Stiftung Berliner Mauer hat aus dem Material eine Videoinstallation erstellen lassen, die 30 Jahre nach der Wiedervereinigung von Oktober 2020 bis August 2021 im Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart und in der „Erinnerungsstätte Marienfelde“ in Berlin bis Oktober 2021 gezeigt wurde. Darüber hinaus wurden die Videos im Lehrangebot der Universität Konstanz, in wissenschaftlichen Abschlussarbeiten, sowie in der DFG-Zeitzeug*innenstudie und in experimentellen Studien eingesetzt. Die Oral History-Videointerviews werden derzeit mit qualitativen Methoden hinsichtlich der idealtypischen Erzählweisen in Osten und Westen ausgewertet.  Link zu den Trailern der Generation 1975

Finanzierung: Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Kooperationen:

Interviewprojekt mit Zeitzeug:innen der „Generation Mauerbau"

In dem zweiten Interviewprojekt wurden 60 Jahre nach dem Bau der Mauer Zeitzeug:innen aus Baden-Württemberg, Sachsen, Ost- und West-Berlin zu ihren Erinnerungen an das geteilte und wiedervereinigte Deutschland befragt. Die Videos erweitern den Quellenkorpus und in künstlerischen Videoinstallationen analog und digital genutzt. Besonders spannend: die Interviews mit der „Generation 1975“ wurden im Jahr 2019 geführt, vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, ein Zeitpunkt, zu dem insbesondere in Baden-Württemberg die Welt (noch) in Ordnung war: „Unsere Generation hat nie eine Krise erlebt“, so ein Zeitzeuge der “Generation 1975”. In der Studie mit der “Generation Mauerbau” haben wir daher im vertiefenden Teil insbesondere nach der Wahrnehmung der aktuellen politischen Krisen (Corona-Krise, Klima-Krise, Demokratie-Krise) im Westen und Osten gefragt: Wie werden diese vor dem Hintergrund der unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Erfahrung erfahren und bewältigt?

Trailer der Generation Mauerbau

Finanzierung: Gefördert durch das Projekt  "Gemeinsinn: Was ihm entgegensteht und wie wir ihn fördern können" von Dr. Christiane Bertram, Prof. em Dr. Aleida Assmann und Prof. Dr. Jan Assmann an der Universität Konstanz

Kooperationen: