Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)

Offener Brief von Peter Thier

Sinnlose Folter von Versuchstieren durch Tübinger Neurowissenschaftler? (Tübingen, 30. Dezember 2014)

Vor einigen Monaten präsentierte SternTV bedrückende Videoaufnahmen, gefilmt von Tierrechtsaktivist*innen, die sich erfolgreich “undercover” in die Tierhaltung des Max-Planck-Instituts (MPI) für Biologische Kybernetik eingeschleust hatten. Das Material schien eine systematische Misshandlung der Affen nahezulegen, die in der Forschung des Max-Planck-Direktors und CIN-Mitglieds Nikos Logothetis auf dem Bereich der kognitiven Neurowissenschaften zum Einsatz kommen. Eine erste Untersuchung ergab allerdings keine Hinweise darauf, dass Vorschriften und Regularien systematisch verletzt worden wären. Die Untersuchung hatte Stefan Treue durchgeführt, Direktor des Deutschen Primatenzentrums in Göttingen, den die Max-Planck-Gesellschaft als unabhängigen Experten angesprochen hatte. Eine nähere Untersuchung des Falles durch die Behörden ist noch nicht abgeschlossen.

Es ist nicht überraschend, dass dieses Videomaterial benutzt wurde, um Professor Logothetis’ Arbeit als grundsätzlich nutzlos und unverantwortlich zu diskreditieren – und um ein weiteres Mal die Bedeutung aller Tiermodelle in der biomedizinischen Forschung zu verleugnen, nicht nur das Primatenmodell. Wir alle schätzen Nikos Logothetis als Wissenschaftler von Weltrang, der den Neurowissenschaften Schlüsselbeiträge geliefert hat und der seine zahlreichen Ehrungen mit prestigeträchtigen Auszeichnungen hoch verdient hat. Und diejenigen unter uns, die mit ähnlichen Methoden wie er arbeiten, haben wieder und wieder von seinen unermüdlichen Bemühungen profitiert, experimentelle Techniken und Verfahren im Geiste des 3R-Prinzips zu optimieren. Im Angesicht öffentlicher Entrüstung ist es ein Windmühlenkampf, ihn zu verteidigen und sich für Vernunft und Differenzierung auszusprechen. Die beunruhigendste Folge der öffentlichen Entrüstung, die von Tierrechtsaktivist*innen geschürt wurde, waren Morddrohungen gegen Wissenschaftler*innen am MPI für Biologische Kybernetik. Eine Anzahl erschütternder Vorkommnisse in anderen Ländern erfordert unseligerweise, dass solche Drohungen ernst genommen werden.

Wir als Neurowissenschaftler*innen sind überzeugt, dass die Versuche, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns – diese 1500 Gramm Gewebe, bestehend aus 1010 Neuronen, jedes davon komplexer als der leistungsfähigste Computer, den Menschen je gebaut haben – ohne invasive Studien an den lebenden Gehirnen intakter Organismen nicht möglich sein wird – Organismen, die mit uns wichtige phylogenetische Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Argumente dafür haben Neurowissenschaftler*innen bei vielen Gelegenheiten detailliert vorgelegt, und manche werden auch hier auf der CIN-Homepage zusammengefasst. Wir sind des weiteren überzeugt, dass nur ein besseres Verständnis des gesunden Gehirns uns erlauben wird, neue oder verbesserte Ansätze zur Behandlung seiner Erkrankungen zu entwickeln.

Die enge Verbindung zwischen translationaler und Grundlagenforschung einerseits und ihrer klinischen Anwendung auf der anderen Seite wird typischerweise von Tierrechtsaktivist*innen bestritten. Ihr wichtigstes Sprachrohr ist die Gruppe, die sich als “Ärzte gegen Tierversuche” (ÄgTV) bezeichnet. Die Marke scheint sorgfältig gewählt, hat doch die gemeine Frau oder der gemeine Mann zumeist großes Zutrauen zu dieser Profession, welcher Hilfeleistung und Verständnis für Kranke obliegen, auf der Basis von Wissen und langwierig erworbenen Fertigkeiten. Es ist ärgerlich mitanzusehen, wie die Medien die absurden Anschuldigungen dieser Gruppe bereitwillig aufgreift, ohne ihren sonderbaren Zugang zu Krankheiten zu hinterfragen, der in solchen Aussagen seinen Ausdruck findet wie der, dass die meisten Tumore durch den Verzicht auf Zigaretten und die richtige Ernährung vermieden werden könnten (vgl. Schwäbisches Tagblatt, 22. September 2014).

Solche Aussagen dokumentieren nicht nur die vollständige Unkenntnis ihrer Urheber*innen, sondern demonstrieren auch eine schockierende Arroganz gegenüber dem Schmerz von Patient*innen und ihren Familien, die einen Schicksalsschlag erleiden, an dem sie zumeist nicht die geringste Verantwortung tragen. Die kürzlich von ÄgTV initiierte Kampagne gegen die Forschung an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und die Fördergelder, die sie derzeit aus Spenden bezieht, welche die “Ice Bucket Challenge” einbrachte, ist ein eindrucksvolles Beispiel dieser Haltung. ALS (in Amerika auch als Lou Gehrig’s Disease bekannt) ist eine der zerstörerischsten neurologischen Erkrankungen. Sie nimmt Betroffenen innerhalb weniger Jahre jegliche Fähigkeit zur Bewegung und tötet sie schließlich, während sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte bleiben und sich damit auch des gnadenlosen Fortschreitens der Krankheit zu jeder Zeit voll bewusst sind. Ein kürzliches Opfer dieser unaufhaltsamen Krankheit war der britische Historiker und Essayist Tony R. Judt, der mit der Öffentlichkeit teilte, was es bedeutet, ein “Klumpen toter Muskeln, der denkt” zu sein und “bis zu dem Tag, an dem Du stirbst, mental voll auf der Höhe” zu bleiben (vgl. den Artikel von Ed Pilkington in The Guardian, 9. Januar 2010; dort auch ein Video-Interview mit Judt).

Die Einsicht, dass zumindest manche Formen von ALS genetisch bedingt sind und die Identifikation der verantwortlichen Gene, hat zum ersten Mal einen Ansatz an der zellulären Basis von ALS ermöglicht, bei dem unter anderem transgene Nager und gelegentlich auch Primaten zum Einsatz kommen. Während diese Forschung in Gang kommt, diffamieren Organisationen wie ÄgTV sie als sinnlos und üben Druck auf Patient*innenorganisationen und andere karitative Spenderorganisationen aus, der ALS-Forschung ihre finanzielle Unterstützung zu entziehen. Zur Rechtfertigung ihrer apodiktischen Überzeugung von der Irrelevanz dieser Forschung präsentieren die ÄgTV das folgende Argument: Diejenigen, die mit Hilfe eines erst aufkeimenden Verständnisses der molekularen und zellulären Grundlagen über ALS arbeiten, hätten bisher ja kein Heilmittel produziert. So wiederholen die ÄgTV das Totschlagargument, das man im Zusammenhang mit jeder harten Nuss zu hören bekommt, an der die biomedizinische Forschung noch zu knacken hat.

Auf der anderen Seite ignorieren sie damit die zahlreichen Beispiele, die belegen, dass wissenschaftliche Vernunft für diejenigen durchaus zu Verbesserungen führen kann, die an Hirn- und anderen Krankheiten leiden, von denen Menschen (und in der Tat auch Tiere) betroffen sind. Solche Positionen zeigen einen vollständigen Mangel an Verständnis der Funktionsweise von Wissenschaft und Forschung, der engen Beziehung zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung und der vielen unvermeidlichen Fehlschläge in der Forschung, ihrer Sackgassen, aber auch der Fügung, die zu gänzlich unerwarteten Erkenntnissen führen kann. Im Kern handelt es sich um eine Haltung, die jeglichem wissenschaftlichen Unterfangen auf der Basis der Vernunft die Geltung abspricht.

Ich habe größten Respekt vor Tierliebhabern, die die Notwendigkeit von Tierversuchen in der Forschung beklagen. Aber ich fürchte Tierrechtsaktivist*innen, die eine Agenda verfolgen, welche ich nur als böswillig und fundamentalistisch bezeichnen kann. Und ich fürchte Medien, denen nur an der Entfachung von Emotionen liegt, statt eine informierte Diskussion zu befördern. Natürlich hat die deutsche Gesellschaft das Recht, der Verwendung von Tieren in der biomedizinischen Forschung eine Absage zu erteilen, wie sie auch das Recht hat, ihrem Gebrauch zu Zwecken der Ernährung oder Unterhaltung abzuschwören.  Warum sollten Wissenschaftler*innen, auch wenn sie überzeugt sind, was die Verwendung von Tieren in sorgfältig entworfenen Versuchen und innerhalb der Regularien strikter Gesetze angeht, von einer Gesellschaft Fördermittel erwarten, die dem vollkommen ablehnend gegenübersteht? Allerdings sollte jede solche Entscheidung auf der Basis einer sorgfältig sachlich gehaltenen Diskussion erfolgen, nicht auf derjenigen irreführender Propaganda.

Wenn die biomedizinische Gemeinschaft in der Vergangenheit einen großen Fehler begangen hat, dann war es die Hoffnung, dass es ausreiche sich wegzuducken, um nicht von einer Welle von anti-rationalistischem Tierrechtsaktivismus fortgespült zu werden. Wenn der Zorn, dem die Neurowissenschaften in Tübingen derzeit ausgesetzt sind, eine nützliche Folge hat, dann diejenige, dass wir als Wissenschaftler*innen verstehen, dass wir zusammenstehen müssen und uns für die Notwendigkeiten guter und international sichtbarer Forschung einsetzen müssen.

Tübingen, 30. Dezember 2014