Mal was Neues lernen
Das Erzählen einer Geschichte gleicht dem Ziehen an einer zu kurzen Decke: Sie will einfach nicht alles abdecken. Nicht anders verhält es sich mit der Geschichte meines Projekts ›Changing Water Cultures‹ (Canals). Sie könnte leicht ein Schwank über Widersprüche im europäischen Forschungsraum während einer Pandemie werden, aber das will – so mein Verdacht – niemand mehr hören.
Beginnen wir also mit dem Forschungsraum: Marie-Skłodowska-Curie-Actions (MSCA) haben das Ziel, die Employability europäischer Forschenden zu fördern. Zugespitzt formuliert lautet das Programmnarrativ: Antragstellende Post-Docs weisen ihre wissenschaftliche Exzellenz aus und erläutern, wie sie durch die Förderung noch exzellenter und somit auf dem europäischen Markt beschäftigungsfähiger werden. Zwei Aspekte sind dabei zentral: Mobilität und der Erwerb neuer Fähigkeiten. In meinem Falle bedeutete dies, dass ich das Projekt nicht in Deutschland ansiedeln konnte und den Projektfokus nicht auf die Ethik legen sollte. So erklärt es sich, dass ich Canals am ›Centre for the Study of the Sciences and the Humanities‹ (SVT) der Universität Bergen durchführte und das Projekt einen wissenschaftstheoretischen und sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt hatte.
Die Einordnung von Canals in den MSCA-Kontext hilft es, besser zu verstehen, wie dessen Ausschreibungsbedingungen Vorentscheidungen des Antrags beeinflussen. Aber damit allein wäre die Entstehung des Projektes völlig verzerrt wiedergegeben, denn durch gemeinsame Projekte und Publikationen hatte ich seit 2009 sehr gute Beziehungen zum SVT, insbesondere zu Matthias Kaiser und Scott Bremer. Matthias hatte das Zentrum zu einem globalen Hub für Post-normale Wissenschaft ausgebaut, das für Canals einen Referenzrahmen bildete. 2018 hatte Scott einen ERC Starting Grant eingeworben und schlug vor, ich solle mich für ein Marie Curie Fellowship bewerben, so dass beide Projekte back-to-back arbeiten könnten. Ein Angebot, das ich gerne annahm, und zwar umso mehr, als frühere Versuche gescheitert waren, am SVT zu forschen.
Aufbauend auf eigenen Arbeiten zu Wasserethik, -sicherheit und -infrastrukturen und Kooperationen mit Scott zu Climate Coproduction wollte ich in Canals untersuchen, wie sich eine deutsche und norwegische Kommune an die Erderwärmung anpassen, wenn es dort klimatisch bedingt vermehrt zu Extremwettern wie Starkregen kommt. Ich setzte mir zwei Ziele, erstens zu verstehen, wie Wasser im urbanen Raum Beziehungen zwischen Menschen herstellt, und wie sich diese Beziehungen durch den Klimawandel verändern, und zweitens ein Verfahren zu entwickeln, wie sich Betroffene das Wissen erarbeiten können, das sie für die Anpassung benötigen, also um neue Beziehungen herzustellen.
Und dann kam die Pandemie und hat Vieles verändert. Das aber wollen wir nicht mit unter die narrative Decke nehmen. Zu berichten gilt es jedoch von zwei Teilprojekten.
Das erste besteht in einer im Dezember 2022 noch laufenden, lebendigen Kooperation mit der Stadt Reutlingen, die zunehmend durch Extremwetterphänomene betroffen ist. Durch Interviews mit städtischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren erhielt ich aufschlussreiche Einblicke ins Reutlinger Leben. Nun befinde ich mich mit meinen Kooperationspartner*innen der Taskforce Klima und Umwelt am Punkt, an dem wir in transdisziplinären Workshops transformatives Handlungswissen für die Anpassung Reutlingens an den Klimawandel erarbeiten.
Das zweite Teilprojekt heißt ›BeeWare‹. Darin untersuchen Scott, ich und zwei norwegische Klimaforscher (Manuel Hempel, Etienne Dunn-Sigouin), wie sich der Klimawandel auf die Imkerei in der Region Vestland auswirkt und welches Wissen Imker*innen benötigen, um sich an den Klimawandel anzupassen. Ein Nischenthema? Keineswegs! Nach Rind und Schwein gelten Bienen als das drittwichtigste Nutztier. Für die Obstbauregion Vestland ist die Bestäubung durch Bienen essenziell.
Ergebnisse stehen noch aus. Allerdings wurde das Zutrauen der EU ins Erlernen von Neuem in inhaltlicher und methodischer Hinsicht bereits jetzt belohnt.