Profil des Graduiertenkolleg
Seit Beginn der zweiten Förderphase ab 2007 stand das Graduiertenkolleg "Bioethik" unter der übergreifenden Forschungsfrage nach der "Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken". Ausgehend von den bisherigen Ergebnissen des Graduiertenkollegs "Bioethik" wurde das Graduiertenkolleg unter diese neue übergreifende Forschungsfrage gestellt. Gegenüber der ersten Förderphase, in der drei miteinander vernetzte Schwerpunkte (Theoretische Grundlagen der Bioethik; Ethische und wissenschaftstheoretische Aspekte der Neurowissenschaften; Ethische und wissenschaftstheoretische Aspekte des Umgangs mit genetischer Information) unter der verbindenden Klammer ethischer und wissenschaftstheoretischer Aspekte bearbeitet wurden, erfolgte nunmehr eine Fokussierung auf einen übergreifenden Forschungsschwerpunkt. Beibehalten wurden dabei als Bezugswissenschaften wiederum die Neurowissenschaften und die Genetik sowie deren technologische Entwicklungen. Sie bilden Knotenpunkte, von denen zunehmend neue Herausforderungen ausgehen. Dabei war die Selbstgestaltung des Menschen das zentrale Forschungsthema und wurde unter ethischen, anthropologischen, gesellschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Aspekten reflektiert. Inhaltlich wurden damit Themen und Fragen aufgegriffen, die international diskutiert werden.
Das am IZEW seit langem erprobte methodologische Programm einer Ethik in den Wissenschaften bzw. in den Biowissenschaften schließt die Kooperation der Wissenschaftler(innen) unterschiedlicher Disziplinen und Wissenschaftsbereiche notwendigerweise ein. Die beteiligten Wissenschaftler(innen) brachten in die Formulierung der Themenschwerpunkte ihre eigenen Forschungsinteressen ein.
Die Themenwahl der Selbstgestaltung des Menschen durch neue Biotechniken entwickelte die Forschungsperspektive gegenüber dem vorhergehenden Graduiertenkolleg weiter. Innovativ war dabei vor allem die Idee, die Biotechniken als Mittel der Selbstgestaltung des Menschen vor dem Hintergrund der klassischen philosophischen Anthropologie, ihres Menschenverständnisses und ihrer Kategorien zu reflektieren und zu deuten. Die anthropologische Tatsache, dass der Mensch von Natur aus ein Wesen der Kultur ist, sich durch eine nicht hintergehbare "natürliche Künstlichkeit" (Plessner) auszeichnet, zu der auch Wissenschaft und Technik gehören, gewinnt im Zeitalter der Biotechniken eine neue Dimension. Angesichts dieses anthropologischen Faktums wird die Bestimmung der Grenzen biotechnischer Selbstgestaltung des Menschen zu einer besonderen ethischen Herausforderung. Der Bioethik kommt hier in verstärktem Maße die wichtige Funktion einer Brückendisziplin zwischen den Naturwissenschaften und den Geistes- und Humanwissenschaften zu.
Das Studienprogramm diente der strukturierten postgradualen Ausbildung in interdisziplinärer Bioethik. Fragen der Selbstgestaltung des Menschen wurden aus der Perspektive verschiedener Wissenschaftskulturen vermittelt, wobei das Programm je nach disziplinärer Herkunft der Kollegsmitglieder spezifisch gestaltet wurde.
Die Betreuung der Promotionen erfolgte jeweils durch interdisziplinäre Tandems von Professor(inn)en aus Geistes- und Naturwissenschaften. Die wissenschaftliche Selbständigkeit der Kollegsmitglieder begann im Graduiertenkolleg bereits mit der Auswahl und eigenen Konzeption eines spezifischen Promotions- oder PostDoc-Projekts. Das Studienprogramm umfasste mit dem Kollegiat(inn)enkolloquium und Arbeitsgruppen zudem eine intensive Begleitstruktur in der Graduiertenkollegsgruppe selbst. Dies förderte die Selbständigkeit der Kollegsmitglieder, die zudem lernten, das Studienprogramm mitzugestalten sowie Kolloquien und Tagungen zu konzipieren und durchzuführen.
Auch die internationale Kooperation in der Postgraduiertenausbildung wurde beim Übergang zum neuen Modell intensiviert. Dazu wurden renommierte Institutionen und Personen als Kooperationspartner(innen) aus Estland, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz neu gewonnen. Dies ermöglichte gemeinsame Doktorand(innen)seminare, eine gemeinsame Sommerschule und den Austausch von einzelnen Doktorand(inn)en.
Internationale Kooperationspartner
Nr. | Institution | Graduiertenausbildung | Ansprechpartner(in) | Land |
1 | Centre for Ethics, University of Tartu | seit 2007 Interdisziplinäres Graduiertenkolleg "Ethics in Science and Society" | Prof. Dr. Margit Sutrop | Estland |
2 | Ethiek Institut, Universität Utrecht | Netherlands Research School for Practical Philosophy | Prof. Dr. Marcus Düwell | Niederlande |
3 | Centre for Economic and Social Aspects of Genomics (CESAGen), Lancaster University and Cardiff University | Prof. Dr. Ruth Chadwick | Großbritannien | |
4 | Universitärer Forschungsschwerpunkt Ethik, Ethikzentrum der Universität Zürich | seit April 2007 Graduiertenschule | Prof. Dr. Dr. Nicola Biller-Andorno, Prof. Dr. Markus Huppenbauer | Schweiz |
Mit der Möglichkeit, sich in englischer Sprache zu bewerben sowie die Kolloquiumsbeiträge und die Promotion auf Englisch zu verfassen, wurde es auch möglich, internationale Kollegiat(inn)en zu gewinnen und so bereits zu einem internationalen wissenschaftlichen Austausch beizutragen.
Forschungsprogramm
Allgemeiner Problemkontext
Bioethische Kompetenz gehört zu den in zunehmendem Maße geforderten wissenschaftlichen Qualifikationen. Die rasanten Entwicklungen in der biologischen und medizinischen Forschung sowie in ihren heutigen und für die Zukunft erwarteten Anwendungen konfrontieren uns ständig mit neuen ethischen und rechtlichen Herausforderungen. Bioethik, sei es in ihrer Funktion der ethischen Reflexion aktueller Forschung und Technologie oder in ihrer antizipierenden Rolle als Sensor möglicher zukünftiger Chancen und Risiken der Lebenswissenschaften, konkretisiert sich in Expertisen, Stellungnahmen, Empfehlungen und Gesetzesentwürfen auf nationaler und internationaler Ebene. In diesem Sinne vollzieht sich eine Institutionalisierung der Bioethik im akademischen und politischen Raum. Allerdings besteht eine erhebliche Kluft zwischen der wachsenden Nachfrage nach bioethischer Kompetenz und den verfügbaren Ausbildungsmöglichkeiten. Eine interdisziplinäre Kompetenz, wie sie für eine fundierte bioethische Urteilsbildung erforderlich ist, lässt sich über die etablierten Formen der Promotionsausbildung nur schwer erlangen. Sie setzt vielmehr die Struktur einer interfakultären Kooperation voraus, in der Vertreter(innen) verschiedener natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen in einem integrativen Reflexionsprozess an gemeinsamen Fragestellungen arbeiten. Das Graduiertenkolleg "Bioethik" soll daher mit seinem Forschungs- und Studienprogramm einen wesentlichen Beitrag zur Professionalisierung einer interdisziplinären, anwendungsbezogenen Bioethik leisten und damit eine strukturbildende Funktion erfüllen.
Dabei wurden neue Themenfelder anhand einer zentralen Forschungsidee erschlossen sowie bereits identifizierte Probleme vertieft bearbeitet. Die Entwicklungen, welche sich auf theoretischer und praktisch-technischer Ebene gegenwärtig in den Lebenswissenschaften vollziehen und abzeichnen, geben fortwährend Anstöße für ethische und philosophische Reflexionen. Diese erschöpfen sich jedoch nicht darin, die Grundlage für Regulierungsvorschläge bereitzustellen, sondern müssen viel tiefer auf einer grundlegenden naturphilosophischen und anthropologischen Ebene ansetzen. Lebenswissenschaften, Praxis und Reflexion bilden somit einen vernetzten Zusammenhang, dem sich das Graduiertenkolleg mit seinen Forschungsthemen und dem begleitenden Ausbildungsprogramm widmete.
Zentrale Forschungsidee des Programms
Die Selbstgestaltung des Menschen war der zentrale Forschungsgegenstand, der unter ethischen, anthropologischen, gesellschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Aspekten reflektiert wurde.
Unter dem Begriff der Biotechniken wurde dabei die Gesamtheit der biowissenschaftlichen (biologischen und medizinischen) Techniken verstanden, die Eingriffe in pflanzliche, tierliche und menschliche Organismen ermöglichen, wobei im Graduiertenkolleg die Anwendung beim Menschen im Vordergrund stand. Mit der Selbstgestaltung des Menschen ist in diesem Kontext eine über die herkömmliche Bildung und Erziehung hinausgehende Gestaltung des Menschen gemeint, die an seiner organischen Natur ansetzt und sich dabei der Biotechniken bedient. Die Biotechniken und die mit ihnen eröffneten Handlungsspielräume stellen uns vor die Notwendigkeit einer Neubesinnung und Orientierung über unser menschliches Selbstverständnis als Kultur- und Naturwesen. Mit der Eröffnung von Optionen der biotechnischen Selbstgestaltung des Menschen sind wir gezwungen, Stellung zu beziehen, uns über unser menschliches Selbstverständnis zu verständigen, denn sowohl die Annahme und Integration dieser Techniken in unser individuelles und gesellschaftliches Leben als auch ihre Zurückweisung setzt eine Auseinandersetzung nach begründeten Kriterien voraus. Der innovative Charakter dieses Forschungsprojekts soll im Folgenden zur Erläuterung zunächst näher charakterisiert werden.
Die Besonderheit der neuen Biotechniken besteht in der Reichweite und Tiefe ihrer Verschiebungen und Überschreitungen bisheriger, meist natürlicher, Grenzen, wobei die Begriffe der Grenzverschiebung und Grenzüberschreitung hier zunächst einmal rein deskriptiv verwendet werden. Die Beurteilung und Bewertung solcher Anwendungen ist Aufgabe der einzelnen, im Graduiertenkolleg durchgeführten Projekte. Beispiele für solche Grenzverschiebungen und -überschreitungen sind die Herstellung transgener Tiere und Pflanzen, häufig auch unter Verwendung artfremder Gene, Mikrochiptechniken in der Genomanalyse, die Xenotransplantation als artüberschreitende Transplantation von Zellen, Geweben und Organen, das Klonen von solchen Tieren, die sich unter natürlichen Bedingungen nur zweigeschlechtlich vermehren, die Implantation von Neuroprothesen, wie z.B. Hirnschrittmachern, in das menschliche Gehirn zur Kompensation oder als Ersatz beschädigter oder verloren gegangener Funktionen, die tiefe Hirnstimulation bei psychischen Erkrankungen, die gezielte Löschung von Gedächtnisinhalten, usw. Besondere Herausforderungen beinhalten auch Biotechniken, deren Ziel nicht die Therapie von Krankheiten, sondern eine Verbesserung (Enhancement) menschlicher Fähigkeiten ist. Der Umgang mit den neu eröffneten Handlungsspielräumen ist durch die herkömmlichen rechtlichen und ethischen Normsysteme häufig nicht geregelt. Wissenschaft, Medizin, Ethik, Recht, Politik und Gesellschaft sehen sich daher mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Auch jene der oben angeführten Biotechniken, die bisher nur beim Tier erprobt wurden, sind für den Menschen von Relevanz, da man bei ihrer Entwicklung häufig die Anwendung beim Menschen bereits mit im Blick hat, wie etwa die Diskussionen über das Klonen von Menschen zeigen.
Forschungsschwerpunkte und ihre integrative Verknüpfung
Die Bioethik ist ein Hauptgebiet der interdisziplinären, anwendungsbezogenen Ethik. Sie strebt eine normative Verständigung über die Spielräume und Grenzen menschlichen Handelns im Umgang mit der lebendigen Natur einschließlich der Natur des Menschen an. Im Graduiertenkolleg werden in Kontinuität mit dem vorhergehenden Graduiertenkolleg Themenbereiche anwendungsbezogener Ethik durch die Integration von ethischer Reflexion und einzelwissenschaftlicher Expertise bearbeitet. Das methodologische Programm der "Ethik in den Wissenschaften" wird am IZEW und den damit verbundenen Lehrstühlen für Ethik in den Biowissenschaften und Ethik in der Medizin seit langem erfolgreich praktiziert. Die grundlegende Idee einer Ethik in den Wissenschaften ist die, ethische Fragen, die der wissenschaftlichen Arbeit erwachsen, bereits von Wissenschaftler(inne)n selbst in interdisziplinärer Kooperation mit ihren Kolleg(inn)en aus der Ethik und anderen Wissenschaftsbereichen aufgedeckt, analysiert, diskutiert und bewertet werden, um Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten.
Damit knüpfte das Graduiertenkolleg an eine bereits bewährte Praxis wissenschaftsethischer Forschung und Ausbildung an. Ethische Fragestellungen, die aus den Lebenswissenschaften erwachsen, wurden durch die personelle und institutionelle Zusammenführung interdisziplinärer Kompetenzen in einem integrativen Reflexionsprozess bearbeitet.
Da die sich im Zusammenhang mit den Neurowissenschaften und der Genetik stellenden Fragen neben den unmittelbar anwendungsbezogenen Aspekten auch anthropologische und wissenschaftstheoretische Fragen im engeren Sinne berühren, wird dies auch einen Einfluss auf die theoretischen Grundlagen der Bioethik selbst haben. Die Ergebnisse der Selbstreflexion des Menschen spiegeln sich in den theoretischen Grundlagen der Bioethik wider. Obgleich die Bioethik in ihrer Funktion als anwendungsbezogene Ethik ihre Fragestellungen vor allem in enger Verbindung mit den konkreten Herausforderungen durch Wissenschaft und Technik entwickelt hat, darf Bioethik nicht als "Rezeptwissenschaft" missverstanden werden. Vielmehr stellt die Bioethik ein eigenständiges Themenfeld dar, das zwar den Bezug zur Anwendung im Auge behält, sich jedoch nicht darin erschöpft.
Studienprogramm
Das Studienprogramm umfasste eine strukturierte postgraduale Ausbildung in interdisziplinärer Bioethik, die sich bereits in der ersten Phase des Graduiertenkollegs bewährt hatte. In der zweiten und dritten Phase wurde die internationale Ausrichtung verstärkt. Pro „Generation“ von Doktorand(inn)en war das Programm auf 4 Semester ausgelegt.
Das Ziel des Studienprogramms war es, die Kollegsmitglieder mit den einschlägigen Themen und methodischen Ansätzen der Bioethik, vor allem direkt bezogen auf das oben ausgeführte Forschungsprogramm, vertraut zu machen. Sie konnten dabei Qualifikationen für den Dialog der beteiligten Wissenschaften und entsprechende interdisziplinäre bioethische Kompetenz für spätere Aufgaben in Forschung, Lehre und Öffentlichkeit erwerben. Kollegsspezifische Veranstaltungen wurden kombiniert mit gemeinsamen Veranstaltungen in den jeweiligen Fachkulturen und Studiengängen in Tübingen (u.a. Max-Planck School of Neurosciences). Das Studienprogramm setzte insgesamt die postgraduale Weiterbildung in der interdisziplinären Bioethik um. Dabei ließ es Raum für spezifische Schwerpunktsetzungen je nach Erfordernis der Personen und ihrer Forschungsthemen, um zugleich die zügige Durchführung der Promotion zu gewährleisten. Mit den geplanten Sommerschulen sowie den Tagungen und Workshops im Rahmen des Gastwissenschaftlerprogramms wurde eine enge Verzahnung von Ausbildung und Forschung gewährleistet.
Tabellarische Übersicht: Studienprogramm und kollegspezifische Veranstaltungen
SWS | ||
1. Semester | ||
Kollegiat(inn)enkolloquium | 2 | |
Modul 1: Ethische und anthropologische Aspekte der Bioethik (z.T. als Blockseminar ) | 2 | |
Modul 2, zur Wahl: | a: Grundlagen der Genetik, Bio- und Gentechnologie sowie der Neurowissenschaften | 2 |
b: Grundlagen der Moralphilosophie und der Ethik in den Wissenschaften | ||
GK Workshop | 1 Tag | |
2. Semester | ||
Kollegiat(inn)enkolloquium | 2 | |
Modul 3: Ausgewählte Themen der Bioethik mit Bezug auf bio-ethische Grundlagenfragen, Neurowissenschaften oder Genetik | 2 | |
Praktikum in Labor/Klinik bzw. geistes- /sozialwiss. Institution | 1 | |
GK Workshop | 1 Tag | |
3. Semester | ||
Kollegiat(inn)enkolloquium | 2 | |
Modul 4: Wissenschaftstheorie und -geschichte der Erfahrungswissenschaften | 2 | |
Medienmodul: Wissenschaftliche Präsentationsmethoden, Projektmanagement, Mediation | 2 | |
Internationale Tagung zu einem aktuellen Themenfeld | ||
4. Semester | ||
Kollegiat(inn)enkolloquium | 2 | |
Modul 5: Anthropologie, Biomedizinrecht und Gesellschaft im interkulturellen Vergleich | 2 | |
GK Workshop | 1 Tag | |
Sommerschule (i.d. vorlesungsfreien Zeit) zu aktuellen Themen | ||
5. Semester | ||
Kollegiat(inn)enkolloquium | 2 | |
Arbeitsgruppen und kleine Workshops | 2 | |
6. Semester | ||
Kollegiat(inn)enkolloquium | 2 | |
Arbeitsgruppen und kleine Workshops | 2 | |
Abschlusstagung |