Sozialpolitik betreibt man mit Narrativen. Man ›erzählt‹ einander, warum, was und wie der Sozialstaat ›für die Menschen‹ oder ›für die Gesellschaft‹ da ist oder da sein soll. In solchen Narrativen wird "der Sozialstaat" eine Gesamtheit, wo doch vieles nur zeitgleich nebeneinander besteht und keine Einheit ist. Was der Sozialstaat "macht", das wird Vereinfacht, indem bestimmte Strukturen und bestimmte Leistungen hervorgehoben und andere hingegen verschwiegen oder stillschweigend vorausgesetzt werden. Vor allem aber wird dem narrativ erzeugten Ganzen einen Sinn gegeben – und dieser Sinn ausdrücklich intendiert. Man ›erzählt‹ einander, warum und wozu das Ganze eigentlich da ist und wieso es gut ist, dass es da ist. Narrativ wird der Sozialstaat ›erzeugt‹, von dem ›erzählt‹ wird.
Mit Narrativen arbeitet auch die Sozialstaatskritik. Gegen die offizielle Komplexität erzählt sie, wie der Sozialstaat wirklich ›ist‹, wie er tatsächlich wirkt und was er mit den Menschen ›macht‹, die auf seine Leistungen angewiesen sind. Gegen den schönen Schein, die nicht zuletzt sozialstaatliche Institutionen halten, werden die ›wahren‹ Geschichten über ›den Sozialstaat‹ erzählt. Narrative bringen die Sozialstaatskritik auf den Punkt – und sorgen dafür, dass die jeweilige Kritik evaluativ und affektiv besetzt wird.
In der aktuellen Ausgabe von **ethikundgesellschaft** werden Narrative der Sozialpolitik und der Sozialstaatskritik vorgestellt. Zwei Beiträge (Tanja Klenk und Johanna Kuhlmann) führen in die sozialpolitische Narrationsforschung ein und stellen den Forschungsstand dar. Sodann werden Erzählungen über den Sozialstaat untersucht, der in Zeiten der Pandemie heroische Staat (Johanna Kuhlmann) sowie der ›Gewährleistungsstaat‹ (Matthias Möhring-Hesse). Christoph Butterwegge untersucht Narrative über Arme und Arbeitslose im Mediendiskurs über Hartz IV und Bürgergeld – und Stephanie Simon die Narrative, die sie im Kontext der extrem-rechten und der rechtspopulistischen Sozialpolitiken zur Bekämpfung von Armut eingesetzt werden. In den fünf Beiträgen finden die Leser:innen Hinweise darauf, warum und wie über den Sozialstaat erzählt wird und wie Sozialpolitik »gemacht« und Sozialstaatskritik betrieben wird, indem der Sozialstaat erzählt wird.
Die Ausgabe 2/2022 finden Sie hier