Dass Narratologie heute aktueller denn je ist, liegt nicht zuletzt an ihrer transgenerischen und transepochalen Ausweitung zu einem übergreifenden Wissens- und Kommunikationsmodell. Innerhalb dieser Entwicklung kommen zunehmend neben fiktionalen auch ‘faktuale’ Texte in den Blick. Das vielleicht prominenteste Beispiel bietet Hayden Whites (1973, 1986) provokant formulierte These, dass jedes Geschichtswerk notwendig auch narrativ sei (“Auch Klio dichtet”).
In einem dynamischen und interdisziplinären Prozess (Fludernik/Falkenhayner/Steiner 2015) sind weitere Untersuchungsfelder hinzugekommen, unter ihnen Recht und Philosophie, Medizin und Naturwissenschaften, Journalismus und Politik. Solche “Wirklichkeitserzählungen” (Klein/Martínez 2009) prägen unseren Alltag und haben zugleich eine historische, bis in die Antike reichende Dimension, wodurch sie einen wichtigen Beitrag zum Projekt einer übergreifenden diachronen Narratologie (Fludernik 2013, 124–133; Tilg/Contzen 2019) leisten können. Die Werke von Herodot und Livius, aber auch von Caesar und Sueton, sind in einem hohen Maße ’narrativ’, so dass sie mit der ’normalen’ Toolbox der Narratologie analysiert werden können (de Jong 2014, 167–195). Spannende Untersuchungsfelder öffnen sich zudem bei solchen Textsorten, die auf einem Kipppunkt zwischen Fiktionalität und Faktualität stehen bzw. stehen können, wie dies etwa bei Plinius’ Briefbüchern der Fall ist (s. auch Kleine Formen). Mitunter liegen auch Hybridisierungen von fiktionalen und faktualen Erzählverfahren vor, dies gilt etwa für Suetons Kaiserviten (Kirstein 2020) oder auch die Pangeyrici Latini (Cordes 2020).