Anders als die Zeit ist der Raum erst in jüngerer Zeit, angeregt durch den spatial turn, in den Fokus der Narratologie getreten.
Unter spatial turn wird eine Beschäftigung mit dem Raum in den Kultur-, Sozial- und Literaturwissenschaften zusammengefasst, die zu einem neuen Verständnis von Raum als wissensproduzierender Größe geführt und Möglichkeiten eröffnet hat, Räume und Raumdarstellungen als konstitutive Elemente übergreifender Weltaneignungsprozesse zu analysieren. Raum erscheint darin nicht mehr als unveränderliche Größe, sondern als fluide, subjektiv erfahrene und verarbeitete Konstituente. Als „Kind der Postmoderne“ (Bachmann-Medick 2010, 284) ist der spatial turn verbunden mit einer übergreifenden Tendenz, sich von einer der Moderne eigenen Fixierung auf Zeit und temporale Phänomene zu lösen und den Raum als vormals „unreinen Stiefbruder der Zeit“ zu rehabilitieren (Böhme 2005, XII; Assmann 2008, 139). Diese Distanzierung von einem als idealistisch empfundenen Interesse an Geist und Zeit bedingt ein neues, pragmatisch verstandenes Interesse nicht nur am Raum, sondern auch an Körper und Körperlichkeit, an der Welt der Dinge und Aspekten von Materialität.
Die Raumnarratologie differenziert u. a. zwischen dem eigentlichen Schauplatz einer Handlung (setting) und solchen Räumen, die durch Berichte, Träume, Imaginationen Teil der erzählten Welt sind (frames; de Jong 2014, 107). Andere Ansätze analysieren den literarisch repräsentierten Raum in einem triadischen Modell, das drei unterschiedliche Arten der Wahrnehmung durch das Bewusstsein zugrunde legt: Gestimmter Raum, Aktionsraum und Anschauungsraum (Haupt 2004). Je nachdem, ob (a) die atmosphärische Färbung des Raumes im Vordergrund steht, (b) die Wechselwirkung zwischen Figuren und Raum oder (c) die Frage, wie das Subjekt den Raum sieht und wie sich umgekehrt der Raum dem wahrnehmenden Subjekt darbietet (‚Sehen und Gesehen-Werden)‘, liegt der Schwerpunkt eines Erzähltextes oder einzelner Partien auf einem der drei genannten Raumarten. Diese bilden dabei keine getrennten, einander ausschließenden Räume, sondern lassen sich wie Folien übereinanderlegen. In Ovids Erzählung von Actaeon (Metamorphosen 3, 131-252), wird eingangs eine Ortsbeschreibung gegeben: Der Held kommt zu einem Tal, das mit Zypressen bewaldet ist (Vers 155 vallis erat piceis et acuta densa cupressu): durch die mit der Zypresse verbundene Todessymbolik erfährt der Raum eine bestimmte Stimmung oder Atmosphäre, die auf das schlimme Ende Actaeons hindeutet, der, nachdem er versehentlich die Göttin Diana beim Bade gesehen hat, zur Strafe in einen Hirsch verwandelt und dann von den eigenen Jagdhunden getötet wird.