Das Münchner Abkommen in multiperspektivischer Betrachtung
unter der Leitung von PD Dr. Natali Stegmann, Wintersemester 2008/2009
Im September 1938 wendeten Chamberlain und Daladier, Mussolini und Hitler den drohenden Zweiten Weltkrieg noch einmal ab. Im Münchner Abkommen vereinbarten sie die „Abtretung des Sudentenlands“ an das Deutsche Reich. Hitler hatte mit Unterstützung des Führers der Sudetendeutschen Partei Henlein das Selbstbestimmungsrecht der Völker dafür ins Feld geführt. Die tschechoslowakische Seite unterzeichnete nur unter dem schweren Druck ihrer vormaligen Bündnispartner Großbritannien und Frankreich. Nachdem das Kalkül der Appeasement-Politik nicht aufgegangen war, aberkannte die britische Regierung auf Betreiben der Londoner Exilregierung unter Beneš dem Abkommen im August 1942 die Gültigkeit. Vertreter der Sudentendeutschen Landsmannschaften beharrten jedoch noch den 1970er Jahren auf der Gültigkeit des Abkommens. Im tschechischen Diskurs ist „München“ bis heute ein Symbol für die Machtlosigkeit der „kleinen Nation“: Die kampflose Niederlage gegen Hitler und insbesondere gegen die „eigenen“ Deutschen war immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Damit steht das Abkommen am Schnittpunkt deutsch-tschechischer Konflikte um die Bewertung der Ursachen und Folgen des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
Projektinhalt
Diese Seite dokumentiert die Ergebnisse Seminars „Das Münchner Abkommen, 1938“, das ich im Wintersemester 2008/09 am Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen gehalten habe. An dem Seminar nahmen sechs Studierende teil. Es wurde (vierzehntägig) in vierstündigen Sitzungen abgehalten, so dass eine sehr intensive Arbeitsatmosphäre entstand. In den meisten Sitzungen haben wir drei Textgattungen besprochen und miteinander konfrontiert: Forschungsliteratur, methodisch-theoretische Texte und Quellen. Dabei ging es auch um die Frage, ob der Ansatz der Kulturgeschichte der Politik eine Neubewertung des Ereignisses ermöglicht. Als besonders hilfreich erwies sich dabei der Gedanke der Multiperspektivität, durch welchen jenseits der tradierten Konfliktmuster ein Zugang zu den Quellen und eine wissenschaftliche Betrachtung ermöglicht werden. Das Kernstück der Veranstaltung bildete die gemeinsame Arbeit an Quellen ganz unterschiedlicher Prominenz, die im Kontext des Ereignisses entstanden sind. Die Studierenden haben jeweils eine dieser Quellen interpretiert und bieten sie hiermit Interessierten zur Information an. Es sind jeweils die Quelle und die Interpretation verfügbar. Bei den Interpretationen handelt es sich um reflektierte Analysen der Texte, die jeweils in mehreren Arbeitsschritten diskutiert und überarbeitet wurden. Die Ergebnisse sind natürlich nicht die einzig möglichen Schlussfolgerungen. Aber sie stellen einen kleinen Beitrag zur wissenschaftlichen und politischen Diskussion um das Ereignis dar. Wie sich gezeigt hat, erweist sich gerade die parallele Lektüre, rückgebunden an Kontextinformationen, als besonders lehrreich.
Behandelte Quellen und die jeweiligen Interpretationen
Konrad Henlein, Wir alle sind unlösbare Teile des großen deutschen Volkes. Auslandsdeutscher Appell zum 1. Turn- und Sportfest in Breslau, in: ders., Heim ins Reich. Reden aus den Jahren 1937 und 1938, Reichenberg (Liberec) 1939, S. 124-126.
Helft den Kriegsopfern! Im Jahre der Republik gedenkt vor allem derer, die ihre Pflicht für Volk und Heimat mit Blut geleistet haben und dabei arm und nicht reich geworden sind. Eine beachtenswerte Rede des Abg. Ing. Schreiber der Sudetendeutschen Partei im Parlament, in: Der Kriegsverletzte 20 (1938), Nr. 4, S. 1-2.
Letter from Lord Runciman to President Benes, in: Woodward, E. L., Butler, Rohan, Lambert, Margaret (Hrsg.), Documents on British Foreign Policy 1919-1939, Third Series, Vol. II: 1938, London 1949.
Avigdor Dagan, „München“ aus jüdischer Sicht, in: Peter Glotz (Hrsg.), München 1938: das Ende des alten Europa, Essen 1990, S. 345-355.
George F. Kennan, Personal notes on the Munich crisis, written in Early October 1938, in: ders., From Prague after Munich. Diplomatic Papers 1938-1940, Princeton 1968.
1940, 11. Dezember, London – Auszüge aus dem Einführungsteil der Rede des Präsidenten der Republik bei der Eröffnung des Staatsrates, in: Karel Jech, Jan Kuklík, Vladimír Mikule (Hrsg.), Die Deutschen und Magyaren in den Dekreten des Präsidenten der Republik, Studien und Dokumente 1940-1945, Brno 2003.