Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“
Bedrohte Solidaritäten. Mobilisierende Diskurse und Praktiken in der Geflüchtetenhilfe

Projektlaufzeit 2019-2023
Projektleitung

Prof. Dr. Monique Scheer

Projektmitarbeiter

Tim Schumacher, M.A.

Die hier untersuchte Bedrohte Ordnung ist das lokale Zusammenleben im Kontext der Migrationsdebatte, die zu einer Polarisierung der deutschen Identitätsnarrative geführt hat. Vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Konsenses darüber, dass die Katastrophen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert vor allem auf einen überhöhten Nationalismus, Rassismus, eine Missachtung von Menschenrechten und Abkehr von Demokratie zurückzuführen waren, sollte es dazu nie wieder in Deutschland kommen. Bildung und öffentlicher Diskurs sind seither vom allgemein geteilten Verständnis darüber geprägt, dass Deutschland – eingebettet in den gemeinsamen europäischen Wertehorizont und die Staatengemeinschaft – Solidarität mit Menschen in Not zu zeigen hat, vor allem mit jenen in verfolgungs- und kriegsbedingter Not. Genau so ist der spontane Ausspruch der Bundeskanzlerin bei einer Pressekonferenz am 15. September 2015 zu verstehen: „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Dieser Satz stieß auf eine enorme öffentliche Resonanz und wurde medial mit den Menschenmengen am Münchner Bahnhof zusammengeführt, die die ankommenden Geflüchteten mit Applaus und freudigen Begrüßungsgesten empfingen. Für eine kurze Zeit schien es, als ob die überwiegende Mehrheit der Deutschen das nationale Selbstverständnis der Kanzlerin – und ihre Gefühle – teilte, bis das Erstarken des Rechtspopulismus (Pegida, AfD) sowie die Zunahme gegen Geflüchtete gerichteter Gewalttaten darauf hinwiesen, dass das womöglich anders sein könnte. 
Seither ist der politische Diskurs in Deutschland von einer Emotionalität gekennzeichnet, die im Rahmen des im SFB praktizierten Modells eindeutig auf Bedrohungskommunikation hinweist. Die gesellschaftliche Bearbeitung der ‚Flüchtlingskrise‘ führte zu einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft, deren ordnungsbedrohende Züge allgemein konstatiert werden. Das Teilprojekt will anhand des Beispiels der ehrenamtlichen Geflüchtetenhilfe in Tübingen und Reutlingen untersuchen, wie sich dieser gesamtgesellschaftliche Werte- und Ordnungskonflikt um die Zukunft der ‚deutschen Gesellschaft‘ auf der Seite derjenigen, die Pluralismus und Menschenrechtsorientierung, zugewandt sind, darstellt und wie er reflektiert und bearbeitet wird. Dabei soll der Frage besonderes Augenmerk gelten, welche Formen der Reflexion, Mobilisierung und Bewältigungspraktiken an die Bedrohungsdiagnose der aus Sicht der Beteiligten von Nationalismus und Rassismus bedrohten politischen und moralischen Ordnung ansetzen. Geflüchtetenhilfe soll als eine Bewältigungspraxis verstanden werden, die zu einem re-ordering zum einen des politisch-moralischen Selbstverständnisses lokaler Akteur*innen, zum anderen des Solidaritätsgefühls führt.
In diesem Teilprojekt werden also diejenigen Akteur*innen in den Blick genommen, die aus der Überzeugung heraus, dass man die Bedrohung durch einen erneuten Nationalismus, Rassismus und damit zusammenhängende Missachtung von Menschenrechten abwehren muss, ihre spezifischen Kompetenzen, Energien und Ressourcen gemeinsam in das Projekt der Geflüchtetenhilfe und der politischen Mobilisierung für die Erhaltung einer offenen Gesellschaft einbringen. Das ist jedoch nicht der einzige Grund, sich hier zu engagieren. Deshalb wird das Teilprojekt in einer intensiven Feldforschung bei lokalen Geflüchteteninitiativen der Frage nachgehen, welchen Stellenwert dieser Grund hat im Vergleich zu anderen Motiven, etwa aus religiösen und/oder humanistischen Überzeugungen und/oder antirassistischem Aktivismus heraus. Diese Ehrenamtliche wollen womöglich nicht oder in anderer Weise zum Bild eines ‚guten Deutschland‘ beitragen, werden Konflikte untereinander ausgetragen, eigene Diskriminierungsmuster und Intoleranzen an den Tag legen. Es ist nämlich eine recht heterogene Allianz von Kräften, die sich zu der neuen solidarischen „Bürgerbewegung“ seit 2015 verdichtet hat (Schiffauer et al. 2017), die sich auch in großen Versammlungen und Demonstrationen äußert. Diese Äußerungen sind von einer besonders deutlichen Bedrohungsdiagnose geprägt, wie zuletzt im online-Aufruf der Demonstration ‚Unteilbar‘ am 13.10.18 in Berlin, an der über 240.000 Menschen teilnahmen: „Es findet eine dramatische politische Verschiebung statt: Rassismus und Menschenverachtung werden gesellschaftsfähig. Was gestern noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist kurz darauf Realität. Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat werden offen angegriffen. Es ist ein Angriff, der uns allen gilt“ (vgl. unteilbar.org/aufruf). Lässt diese Bedrohungsdiagnose innerhalb der Bewegung neue Solidaritäten und Bündnisse entstehen? In den alltäglichen Praktiken der Geflüchtetenhilfe werden die Bewältigungspraktiken dieser Bewegung untersucht, die „die Vision einer offenen multikulturellen Gesellschaft, neue Formen von Solidarität, eine neue Experimentierfreudigkeit und Risikobereitschaft, neue politische Allianzen […], neue Formen von Identität und eine Wiederbelebung des Traums von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit deutlich“ werden lassen (Schiffauer et al. 2017, 26). Gefragt wird nach dem Zusammenspiel von Mobilisierungsorten, Protest und Hilfsprojekten, nach der Operationalisierung der Vision der Solidarität im Alltag und der Auswirkung von Erfahrungen ihres Gelingens und Misslingens. 

Projekthomepage des SFB 923