Lawinen als Bedrohung sozialer Ordnungen. Katastrophentraditionen im zentralen Alpenraum
Projektlaufzeit | 07/2011-06/2015 |
Projketleitung | Prof. Dr. Reinhard Johler |
Wissenschaftliche Mitarbeiter | Jan Hinrichsen, M.A. Sandro Ratt, M.A. |
Im Rahmen des Tübinger SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“ befasste sich das Teilprojekt der Empirischen Kulturwissenschaft mit lokalen Formen alpiner Katastrophenkultur. Am Beispiel zweier Lawinenunglücke (Blons 1954 und Galtür 1999) sollte hierbei erörtert werden, ob und inwiefern solche Extremereignisse die spezifischen Ordnungskonfigurationen der betroffenen Gesellschaften bedrohen. Zugleich ging das Teilprojekt der Frage nach, vermittels welcher Deutungsmuster und Handlungsstrategien die jeweiligen Gruppierungen den plötzlichen, systemgefährdenden Einbruch dieser Katastrophen zu bewältigen suchen.
Katastrophen als Untersuchungsgegenstand
Das Projekt der Empirischen Kulturwissenschaft ist dem Themengebiet „Katastrophen“ zugeordnet, das neben „Aufruhr“, „Ordnungszersetzung“ und „Ordnungskonkurrenz“ einen zentralen Teilbereich des SFB bildet. Katastrophen sind durch ein starkes immanentes Bedrohungspotential gekennzeichnet, das zumeist unvermittelt freigesetzt wird und sich in einschneidenden Folgen wie Zerstörung, Verletzung und Tod äußert. Sie besitzen daher einen hohen Grad an Evidenz: Die Bedrohung, die von Katastrophen ausgeht, wird als solche in der Regel nicht bestritten, führt zugleich aber oftmals zu unterschiedlichen Deutungen. Katastrophen rufen starke Emotionen hervor; sie drängen zur Kommunikation, müssen vermittelt und verarbeitet werden und erzwingen dadurch die Notwendigkeit zu raschem Handeln. Folglich beinhalten sie ein enormes Veränderungspotential und lassen sich somit auch als Motor für Innovationen und beschleunigten sozialen Wandel verstehen.
Zwei Fallbeispiele: Blons (1954) und Galtür (1999)
Zwei katastrophale Ereignisse stehen im Fokus des Projekts, wobei sich ein Teilprojekt dem Untersuchungsraum Blons (Vorarlberg), das andere Galtür (Tirol) widmet. In der Vorarlberger Gemeinde Blons gingen im Januar 1954 dreizehn Lawinen ins Tal, denen zahlreiche Bewohner zum Opfer fielen. Der Tiroler Skitourismusort Galtür wurde im „Lawinenwinter“ 1999 von einer zerstörerischen Lawine getroffen, die 31 Menschenleben forderte und große Teile des Dorfes verwüstete. Beide Katastrophen hatten weitreichende Folgen, die über die unmittelbaren Schäden hinausgingen. Sie prägten die sozialen Ordnungen der Dörfer nachhaltig und stellten das Selbstverständnis der alpinen Gemeinden zur Disposition, offenbarten ihre Belastbarkeit (resilience) und Verwundbarkeit (vulnerabililty). Sowohl in Blons als auch in Galtür wurden mediale, kulturelle, religiöse, technologische und ökonomische Verarbeitungsstrategien herausgefordert.
Lawinen können als für den durch Katastrophen besonders gefährdeten Alpenraum typische, gewissermaßen „ikonische“ Katastrophen verstanden werden, die sich als Bedrohung der sozialen Ordnung tief in die Organisation des Alltags und in die kollektive Erinnerungskultur eingeschrieben haben. Das Projekt fragt daher nach spezifischen alpinen Katastrophentraditionen, die sich vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Bedrohung durch Lawinen herausbildeten und es ermöglichen, das erneute plötzliche Eintreten eines Katastrophenfalles einzuordnen, es mit Sinn zu versehen und zu verarbeiten.
Ziel ist es zu untersuchen, wie überlieferte Katastrophentradition, aktuelle Krisendiagnose und antizipierende Katastrophenprognose miteinander verbunden sind. Im Einzelnen befassen sich die beiden Teilprojekte dabei mit sieben Aspekten, die Vergleichbarkeit auf weiter Fläche garantieren sollen: Gefragt wird nach der Rekonstruktion der Katastrophe, nach der Bildung von Gefahren- und Solidargemeinschaften, nach der Katastrophenhilfe, nach der eigentlichen Katastrophendeutung, nach dem Bewältigungshandeln, nach der innovationsfördernden oder -hemmenden Wirkung von Lawinen sowie nach den Auswirkungen auf lokale und überlokale Machtbeziehungen.
Da im Vergleich zu anderen Projekten des SFB die räumliche und zeitliche Distanz der gewählten Fallbeispiele verhältnismäßig gering ausfällt, kann hierbei vermittels komparativer Analyse auch regionalen, gleichsam feiner nuancierten Transformationsprozessen nachgegangen werden. Es geht also nicht zuletzt darum, durch den Vergleich zweier Lawinenunglücke zeittypische Muster der Bedrohungskommunikation und des Bewältigungshandelns zu markieren, diese aufeinander zu beziehen und somit Veränderungen in der sozialen Ordnung des Alpenraums herauszuarbeiten.