Juristische Fakultät

Kriminologie am Scheideweg

von Hans Göppinger (Öffentliche Abschiedsvorlesung am 27. Juni 1986 in Tübingen)

 

1. Einführung

Es ist ein guter alter Brauch an der Universität, dass ein neu berufener Hochschullehrer eine Antrittsvorlesung hält, in der er aus seinem besonderen Arbeitsbereich innerhalb der von ihm vertretenen Wissenschaft berichtet und eventuell einen Ausblick auf seine Forschungsvorhaben gibt. Dies geschah auch bei meiner Berufung auf den kriminologischen Lehrstuhl im Sommer 1962. Damals umriss ich den gegenwärtigen Stand der Kriminologie und versuchte darzulegen, welche Aufgaben ich mir für meine Tübinger Tätigkeit gestellt hatte.

Wenn ich mich nun entschlossen habe, heute eine Abschiedsvorlesung zu halten, dann entspricht dies zwar nicht einer in gleicher Weise üblichen Tradition an deutschen Hochschulen; dennoch meine ich, dass es durchaus berechtigt ist, nach einer über 24jährigen Tätigkeit an der gleichen Universität nicht nur Rechenschaft darüber abzulegen, was in jener Zeit an diesem Lehrstuhl, in diesem Institut geschehen ist, sondern zu­gleich einen Überblick über die Entwicklung des Wissenschaftsgebietes Kriminologie in diesem Zeitraum zu geben. Dies bietet sich um so mehr an, als es sich bei der Kriminologie nicht um eine längst etablierte, in ihren Grundzügen mehr oder weniger festgelegte Wissenschaft handelt, sondern um ein sehr junges Wissenschaftsgebiet, das noch nach seiner Identität als Erfahrungswissenschaft sucht. Und aus diesem ungesicherten Stand der Kriminologie fühle ich mich geradezu verpflichtet, das eigene Tun im größeren Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung dieses Faches darzustellen und auszuloten.

Dass ich hierbei die Akzente setzen muss, die mir notwendig erscheinen, ist nicht nur aus Zeitgründen unumgänglich, sondern entspricht auch dem Sinn einer solchen Vorlesung. Das Bemühen um die wissenschaftlich gebotene Sachlichkeit soll gleichwohl den Vorrang haben.

 

2. Stand der Kriminologie 1962

Bei meiner Antrittsvorlesung wies ich darauf hin, dass es damals (und gibt es auch heute noch) zwar zahlreiche Definitionen von Kriminologie der sich mit kriminologischen Fragen befassenden Wissenschaftler aus den Bezugswissenschaften der Kriminologie und auch zahlreiche Forschungsergebnisse eben dieser Bezugswissenschaften, die in irgendeiner Beziehung zu kriminologischen Anliegen standen, gab, jedoch gab es zumindest in Deutschland noch keine Tradition bezüglich eines Faches mit dem Namen “Kriminologie”. Ich sagte damals: Von der Sache her sei diese Ungebundenheit nur zu begrüßen. Die Kriminologie sei keiner der traditionellen wissenschaftlichen Disziplinen unmittelbar zugehörig, wenngleich es vor allem Rechtswissenschaft und Medizin (hier besonders Psychiatrie) waren, von denen sie ihre Impulse erhielt, ehe sich auch die Soziologie mit ihr beschäftigte .... Sie sei damit das typische Beispiel einer in der Stellung zu den traditionellen Wissenschaften interdisziplinären Wissenschaft, welche ihren Forschungsgegenstand, ihr wissenschaftliches Problem niemals nur aus der Sicht einer der Wissenschaftsdisziplinen, in die sie hineingreift, untersuchen dürfe, falls man mehr erwarte, als einseitige Teilergebnisse.

Dass “Interdisziplinarität" inzwischen zum Aufhänger für allerlei bisweilen fragwürdige wissen­schaftliche Untersuchungen geworden ist, war damals nicht abzusehen. Für mich bedeutete dieser Ausgangspunkt jedoch die methodische Verpflichtung, bei der empirischen Forschung gleichsam unbefangen an das Verbrechen (bzw. den Verbrecher) heranzugehen, auch auf die Gefahr hin, Erkenntnisse zu gewinnen, die irgendwelche theoretischen Konzeptionen in Frage stellen, insbesondere natürlich solche, die von philosophischen oder gar politischen Wertungen durchsetzt sind. Nur so könne nach meiner Ansicht die Kriminologie ihrer Aufgabe gerecht werden und Tatsachen sehen und untersuchen, sowie Faktoren, Bedingungen und Zusammenhänge herausfinden, die zum Verbrechen führen. Besonders wies ich noch darauf hin, dass diese Zusammenhänge doch ungemein vielfältiger seien als oft vermutet werde.

 

3. Entwicklung grundsätzlich

Nunmehr hat die Kriminologie als Lehrfach an der Universität in der Bundesrepublik Deutschland heute eine zweieinhalb Jahrzehnte alte Tradition. Dem ersten Lehrstuhl in Heidelberg 1959 und dem ersten rein erfahrungswissenschaftlich arbeitenden Institut in Tübingen 1962 sind zahlreiche weitere Lehrstühle gefolgt. In der Regel sind zwar noch juristische Sachgebiete in der Venia des Lehrstuhlinhabers enthalten; doch gibt es heute keine Universität mehr, an der Kriminologie nicht in irgendeiner Weise vertreten ist.

Freilich ist es angezeigt, dieser Entwicklung durchaus ambivalent gegenüber zu stehen; denn obgleich bei der Entwicklung einer Erfahrungswissenschaft die Erarbeitung eines gediegenen Grundlagenwissens im Vordergrund stehen müsste, besteht vor allem dann, wenn deren Vertreter keine Erfahrungswissenschaftler sind ‑ ich komme darauf noch zurück die Gefahr, dass sie diese neue Wissenschaftsdisziplin in enge Verbindung mit der Ausgangswissenschaft (in unserem Fall also dem Strafrecht im weitesten Sinne) bringen, sich dabei der Methoden dieser oder einer anderen Wissenschaftsdisziplin bedienen und den Forschungsgegenstand unter Aspekten des aktuellen Zeitgeschehens wählen, vollends wenn das Wissenschaftsgebiet auch gesellschaftliche Bezüge aufweist.

Dass das Verbrechen bzw. die Reaktion darauf sehr stark von der geistigen und kulturellen Situation der jeweiligen Zeit geprägt ist ‑ wie übrigens in früherer Zeit auch, allerdings in geringerem Masse die Krankheit, insbesondere die Geisteskrankheit ‑ zeigt ein Blick auf die Geschichte: Wir finden eine Auseinandersetzung damit nicht nur in den ältesten Aufzeichnungen und heiligen Schriften der Menschheit, sondern in philosophischen Werken ebenso wie in theologischen Abhandlungen, oder aber auch in Dichtung und Schauspiel seit der Antike bis heute. Als man sich dann im 19. Jahrhundert auch mit krimino­logischen Fragen wissenschaftlich  befasste, standen sich schon am Anfang verschiedene Auffassungen im Zeichen der Vorherrschaft des Entwicklungs- und Fortschrittsgedankens, des Glaubens an die Überlegenheit der Naturwissenschaft und Technik gegenüber, wie ihn der Positivismus, der Darwinismus und andere Weltanschauungen im 19. Jahrhun­dert verkörperten und damit die Impulse der Aufklärung fortführten.

So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch auf die Entwicklung der Kriminologie in den letzten zwei Jahrzehnten die kulturellen Veränderungen jener Zeit ausgewirkt haben. Bezogen auf diesen kurzen Zeitraum haben wir einschneidende Veränderungen in der Einstellung zum Leben, zur Gesellschaft, zur eigenen Person erlebt, die nicht den Charak­ter einer langsamen in sich geschlossenen (kulturellen) Entwicklung trugen, sondern eher - wie es Janzarik einmal in Anlehnung an die 60er Jahre in China bezeichnete - einer Kulturrevolution gleichkamen: Die Gesellschaft ist es oder die Mächtigen, die sie beherrschen, sind es, denen das Unbill (ist es ein solches?) des heutigen Seins des Menschen vorgeworfen wird; sie gilt es zu verändern, will man glücklicheren Zeiten entgegengehen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse im weitesten Sinne, die Familie oder die Arbeitsstelle im engeren Sinne unterdrücken den einzelnen, nehmen ihm die Möglichkeit einer freien Selbstentfaltung und führen eine bestimmte Gruppe Benachteiligter, die sie stigmatisieren, schließlich auch zum Verbrechen. Dies konnte man hören und lesen, in vielerlei Schattierungen.

Damit sind wir bei dem Gegenstand unserer Betrachtung angelangt, der Entwicklung der Kriminologie in den letzten 25 Jahren.

 

4. Entwicklung im einzelnen

Wie sah nun diese Entwicklung aus?

4.1. Zur Institution

Grundsätzlich muss man zwei Phasen unterscheiden: Zum einen wurden am Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre die seit von Liszt anhaltenden Bemühungen um eine Strafrechtsreform wieder belebt. Bei der stark spezialpräventiven Ausrichtung dieses Reformbestrebens war die Er­arbeitung eines soliden erfahrungswissenschaftlichen Grundlagenwissens ein besonders dringliches Erfordernis, dies um so mehr, als die kriminalpolitischen Überlegungen vielfach von einem insoweit völlig unrealistischen Menschenbild ausgingen. Es erhob sich damals die Forderung nach kriminologischen Lehrstühlen, damit man endlich dem Phänomen “Verbrechen” näher kommen und einmal erfahre, warum es Kriminalität gibt und vor allem, warum sie laufend zunimmt. Hierzu wurden zunächst drei kriminologische Lehrstühle geschaffen, in Heidelberg, dann in Tübingen und Köln, denen nach zwei Jahren noch ein vierter in Frankfurt folgte. Diesen Fakultäten ging es darum, in Ergänzung zur Strafrechtsdogmatik durch einen Erfahrungswissenschaftler Erkenntnisse über kriminologische Zusammenhänge zu erhalten. Für diese erste Phase ist es geradezu bezeichnend, dass der Lehrstuhl in Köln über viele Jahre unbesetzt blieb, nachdem in der damaligen Zeit kein geeigneter Erfahrungswissenschaftler zur Verfügung stand. Jene Fakultät verzichtete lieber auf die Besetzung des Lehrstuhles als dass sie einen Nicht-Erfahrungswissenschaftler darauf berufen hätte.

Die Berufungspraxis änderte sich rasch, als in einer zweiten Phase die Kriminologie  in den Sog jenes allgemeinen kulturellen Umbruchs geriet. Die rasante Ausweitung der Lehr‑ und Forschungskapazitäten für die Human‑ und Sozialwissenschaften schlug sich auch in entsprechenden Forderungen im Bereich der Kriminologie nieder. Unter diesem Druck griffen die juristischen Fakultäten, nachdem sie schon einen Kriminologen einstellen mussten, auf Strafrechtler zurück, die das Fach eben mit zu vertreten hatten, obgleich es sich dabei um keine erfahrungswissenschaftlich ausgewiesenen Wissenschaftler handelte. Heute hat die Kriminologie in den juristischen Fakultäten einen festen Platz.

 

4.2. Zur Forschung

4.2.1. Kriminologische Lehrstühle

Schön früher wurden gelegentlich kriminologische Dissertationen von Juristen ausgegeben, jedoch stieg die Zahl der Dissertationen in den letzten Jahrzehnten zunehmend an. Waren es in den zehn Jahren von 1950 bis 1960 durchschnittlich zwei im Jahr, so fanden sich von 1970 bis 1980 dagegen durchschnittlich dreißig. Man kann diese Zahl durchaus für die Forschungen insgesamt setzen, da es nur relativ wenige Einzel- oder Sammelveröffentlichungen auf kriminologischem Gebiet gibt, bei denen es sich nicht um Dissertationen handelte, oder bei denen nicht Dissertationen die Grundlage bildeten. Hinzu kommen die unzähligen Diplom- und Magisterarbeiten zu kriminologischen Einzelfragen aus den Wissenschaftsgebieten Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Sozialpädagogik, ganz abgesehen von den zahllosen Prüfungsarbeiten bei den Fachhochschulen  ein enormer Zuwachs an Forschung. Welche Wissenschaft hat ihr Forschungspotential innerhalb von nur zwei Jahrzehnten schon um das rund 15fache gesteigert?

Dennoch ist dieser Befund keineswegs nur positiv. Man kann vielmehr mit gutem Gewissen von einer “Überproduktion" sprechen, wobei diese Überproduktion jedoch nicht etwa darauf zurückzuführen ist, dass ein institutionell und paradigmatisch gefestigtes Forschungsgebiet eine fruchtbare Phase womöglich kumulativen Erkenntnisgewinnes durchläuft. Vielmehr liegt eine eher anarchische Situation bezüglich der Literatur über Kriminalität vor; es fehlen klare Kriterien dafür, was überhaupt als relevanter Beitrag zu dieser Wissenschaft anzusehen ist und die Bezugsrahmen, die Forschungslage, die Ausgangspunkte für eigene Arbeiten bilden sollen, erscheinen oft willkürlich und unterscheiden sich auch entsprechend grundsätzlich. So stehen wir in einem Wissenschaftsbetrieb, in dem längst Beitrag = Beitrag, Untersuchung = Untersuchung gilt, wobei sozialwissenschaftliche Dokumentationen diesen Zustand verdinglichen und Doktoranden, Diplomanden, Magistranten ihn laufend weitertreiben.

Betrachtet man sich die Arbeiten im einzelnen, dann fällt auf, dass es wechselnde  Themenschwerpunkte gab, die weitgehend parallel liefen mit den genannten Phasen und dem kulturellen Umbruch, von dem sie getragen waren. Durchgängig wurden eigentlich nur die Rückfallkriminalität und die Kinder- und Jugenddelinquenz mehr oder weniger gleichbleibend, gewissermaßen als “Evergreens” der Forschung behandelt. Spätere Schwerpunkte bildeten dann Forschungen über die Strafverfolgungsorgane, beginnend bei dem Vorgehen der Polizei bis hin zur Rechtsfindung, sodann die Vollzugsforschung. Das Interesse war dabei von einem allgemeinen sozialkritischen Verdacht gegen alle Institutionen - die staatlichen zumal - getragen, in denen man die Instanzen einer angeblich den Herrschaftsinteressen bestimmter Schichten dienstbaren Strafrechtspflege entlarven wollte. Ähnliche Motive leiteten Arbeiten zu Theorien der sozialen Kontrolle und manche der zahlreichen Dunkelfelduntersuchungen.

Erweiterung des Spektrums der Kriminologie brachten sodann viktimologische und kriminalgeographische Forschungen, Meinungsforschungen, sowie bezüglich einzelner Deliktsgruppen besonders die Untersuchungen zur Betäubungsmittel-Kriminalität.

Von den Methoden her stand seit eh und je die Aktenforschung im Vordergrund. Der Frage-  bzw. Erhebungsbogen war im Instrumentarium der Forschungen kaum mehr wegzudenken und bei der Auswertung spielte entsprechend den technischen Fortschritten der Zeit die EDV-gerechte Statistik bzw. Auswertung eine bevorzugte Rolle.

Intensive und differenzierte Untersuchungen des Täters (in seinen sozialen Bezügen) traten weitgehend zurück; soweit man Untersuchungen über ihn anstellte, waren sie in der Regel deduktiv, theoriegeleitet oder hypothesentestend angelegt. Der Untersuchungsgegenstand wurde in Einzelaspekte oder Fakten zerlegt, wobei der Mensch expressis verbis als “Faktorenbündel” bezeichnet wurde. Die Interpretation erfolgte überwiegend mit Hilfe just gerade derjenigen Theorien, die erst noch zu überprüfen waren, so dass ein wirklicher Erkenntnisgewinn über zirkuläre Behauptungen hinaus selten zu verzeichnen war.

Trotz überaus dürftigen empirischen Beweisen beherrschten die soziologischen Theorien hierbei eindeutig das Feld, obwohl die Soziologie in einem wissenschaftlichen Grundla­genstreit lag und liegt. Auch dies entspricht dem damals allgemein der Soziologie als neuem Wundermittel entgegengebrachten Vertrauensvorschuss, der den Horizont der Fragestellungen und Methoden nicht weniger prägte als die Vergabe von Forschungsmitteln, die Berufungs- und Einstellungspolitik und nicht zuletzt die Phantasie mancher kri­minalpolitischer Reformer. Ein vom Erfahrungswissen getragenes, weitgehend induktives Vorgehen, das nicht von vornherein in allen Einzelheiten festgelegt, sondern dessen Ergebnis offen war, widersprach dagegen dem herrschenden Wissenschaftsideal und wurde, wenn es irgendwo durchgeführt wurde (z.B. in Tübingen), als hoffnungslos rückständig belächelt oder  zum Teil mit unrichtigen Angaben über diese Forschungen  angegriffen.

Wie sah es nun bei den Bezugswissenschaften aus?

 

4.2.2. Die Psychiatrie

In der Psychiatrie wurde das Interesse an kriminologischen bzw. forensisch‑psychiatrischen Fragen weitgehend zurückgedrängt. Zum einen hatte die Psychiatrie mit sich selbst zu tun, da in jener Zeit ‑- wiederum dem Zeitgeist folgend - von der Bewegung der Antipsychiatrie die Exi­stenz des psychisch Kranken als solchem in Frage gestellt  eine Parallele zum Labeling-Approach in der soziologischen Kriminologie (ich komme darauf noch zurück) und die Behauptung aufgestellt wurde, es gebe gar keine Geisteskranken, sondern an sich gesunde Menschen würden durch den Psychiater erst zum Geisteskranken gemacht, gewissermaßen psychiatrisiert.

Zum anderen wurde damals die forensische Psychiatrie einerseits als Büttel der Strafjuristen, die die Definitionsmacht haben, zum anderen aber auch als Beherrscher aufgrund ihrer antiquierten psychiatrischen Aussagen denunziert. Obgleich ähnliche Angriffe auch heute noch zu lesen sind - Diskussionen über die Willensfreiheit werden z. B. als “Schattenspiele der Freiheit” bezeichnet -, sind Probleme der forensischen Psychiatrie nunmehr wieder verstärkt Gegenstand der psychiatrischen Forschung.

 

4.2.3. Psychologie

Auch die Psychologie geriet in den Sog jenes Zeitgeistes. Einerseits wollte sie sich mehr oder weniger als exakte Wissenschaft präsentieren, angelehnt an naturwissenschaftliche Forschungsideale, andererseits wandte sie sich vor allem stark einer überwiegend sozialpsychologischen Betrachtung der Person zu. Die Kernannahme bestand darin, dass das Verhalten eben durch Situationen hervorgerufen wird. Die individuelle Persönlichkeit, die ja erst auf Situationen durch ihr Verhalten reagiert, blieb weitgehend außer Betracht. Der Beschreibung und Erfassung der Persönlichkeit kam nur geringe Bedeutung zu; die bisherigen auf die individuelle Persönlichkeit zielenden Methoden waren verpönt; wissenschaftliche Untersuchungen waren auch hier nur dann relevant, wenn sie dem Modell analytischer quantifizierender Wissenschaft entsprachen, mit dem Computer verarbeitet werden konnten und damit entsprechende statistische Ergebnisse lieferten. Trotz der Suche nach verbindlichen Persönlichkeitskonstrukten stand die Umwelt bei der psychologischen Betrachtung des Phänomens Straffälligkeit im Vordergrund. Noch vor zwei Jahren konnte man lesen, dass es aus psychologischer Sicht das Ziel einer Prävention sei, "delinquenzhemmende und der prosozialen Entwicklung förderliche Umwelten bzw. Lebensbedingungen zu gestalten”. Ein Zuwachs an Erkenntnissen, die uns Aufschluss über den Täter als Menschen geben, war in dieser Zeit von der Psychologie nicht zu erwarten.

In jüngster Zeit wird eine eher interaktionistische Position eingenommen, die vielleicht der Beginn einer Wende sein könnte. Die Kritik an der Psychologie, auch in Amerika, wird stärker und man kann nur hoffen, dass die Psychologie sich langsam wieder auf das besinnt, was ihr eigentliches Anliegen sein sollte und was Jaspers einmal schlicht formuliert hat, als "das ganz norma­le Seelenleben”. Dann wird sie auch die Ausschläge und Variationen dieses Seelenlebens eher in den Griff bekommen und damit der Kriminologie etwas zu geben vermögen, nicht zuletzt in Bezug auf die mögliche Intervention bzw. Behandlung bei Rechtsbrechern.

 

4.2.4. Soziologie

In der Soziologie kam schon Ende der 60er Jahre ganz vehement der sogenannte Labeling-Approach zur Geltung und bestimmte damit weitgehend das wissenschaftliche Geschehen. Man setzte sich in der Diskussion viele Jahre hindurch weit mehr mit verschiedenen theoretischen Positionen auseinander, statt sich der praktischen Forschung zuzuwenden.

Nach dem Labeling-Approach ist nicht die kriminelle Handlung per se, also die Straftat entscheidend, sondern sie wird erst durch die Reaktionen der Strafverfolgungsorgane (Polizei; Gericht usw.) dazu gemacht. Der nun einmal von der Polizei erwischte Mensch wird kriminalisiert, als Krimineller definiert und damit stigmatisiert, und von diesem Augenblick an ist er bei all seinem Tun den “Vorurteilen" seiner Be­zugspersonen und dem besonderen Zugriff der strafrechtlichen Instanzen ausgesetzt ist, wodurch er sich immer wieder erneut verstrickt. Er unterscheidet sich nach diesem Ansatz nicht von all jenen Menschen, die irgendwann einmal eine Gesetzesübertretung begangen haben, sei es als Jugendlicher, z.B. in einer Mutprobe oder aus Übermut, sei es später in Form eines Bagatelldeliktes; der einzige Unterschied liegt eben darin, dass er erwischt und dann kriminalisiert und stigmatisiert wurde. Vor diesem Hintergrund müssen natürlich alle Untersuchungen über den Straftäter in seinen sozialen Bezügen diskreditiert werden, weil man dabei nur die sozial ungerechten gesellschaftlichen und strafrechtlichen Selektionsprozesse reproduziere und damit den "Herrschenden” in die Hände arbeite.

Auch nachdem einige Dunkelfelduntersuchungen, die in diesem Zusammenhang über eine gewisse Zeit eine Rolle spielten, sehr schnell zeigen konnten, dass zwischen der sogenannten ubiquitären Kriminalität und den Straftaten der wiederholt Straffälligen große Unterschiede bestehen und sich auch für den angeblichen sozialpsychologischen Automatismus von Stigmatisierung und "krimineller Kar­riere" relevante empirische Belege nicht fanden, entfaltete dieser Ansatz lange Zeit außerordentliche Wirksamkeit. Die Hauptfunktion einer darauf fußenden sogenannten “kritischen Kriminologie" wurde darin gesehen, Kritik an der bestehenden gesellschaftlichen und insbesondere strafrechtlichen Ordnung zu üben, bis hin zu der Forderung nach Abschaffung des Strafrechts. In Zusammenhang mit diesem Ansatz, aber auch mit dem Import anderer kriminalsoziologischer Theorien wurde vor allem auf die Zugehörigkeit zur Unterschicht, in der sich neben sozioökonomischen Belastungen auch eine breite Palette weiterer sogenannter "defizitärer Sozialisationsbedingungen” findet, als potentielle Ursache für Kriminalität bzw. Kriminalisierung abgestellt. Dies wurde dann durch entsprechende deduktiv angelegte Untersuchungen, deren Ergebnisse unter dieser Leitlinie interpretiert wurden, "bewiesen”.

Dabei sei bemerkt, dass diese Thesen auch starken Einfluss auf die öffentliche Meinung gewannen, so dass man bei Allgemeinbefragungen entsprechende Einstellungen der Bevölkerung feststellen konnte. Hier wurde ein Vorgang wirksam, der allgemein im Verhältnis von Wissenschaft und öffentlicher Meinung (nicht nur hier) gilt: Es werden wissen­schaftliche Thesen ausgestellt, die - wenn sie dem Zeitgeist gerecht sind - von den Massenkommunikationsmitteln mit Freude aufgegriffen und in ihren Publikationen und Sendungen immer wieder angeboten werden. Auf diese Weise entsteht ein ständiger Kreislauf bzw. Aufschaukelungsprozess von einseitiger Datenproduktion und massenmedialer Konditionierung der öffentlichen Meinung, so dass sich schließlich die vorgefaßten Leitideen der Wissenschaftler, auf denen sie ihre Ergebnisse aufbauen und die Bereitschaft der wissenschaftlichen und allgemeinen Öffentlichkeit, gerade solche Ergebnisse als einzig möglichen zu glauben, gegenseitig gegen andere Auffassungen immunisieren und diesen von vornherein die Chance auf ernsthafte Prüfung nehmen.

So stößt man heute geradezu auf ungläubiges Staunen, wenn man durch erfahrungswissenschaftliche Vergleichsuntersuchungen feststellt, dass die meisten der so verbreiteten Ansichten insbesondere über die Kriminalitätsgenese in keiner Weise stimmen, dass es nicht die böse Gesellschaft ist, die den armen Menschen zu Kriminalität treibt, sondern vielmehr der selbst gewählte Lebensstil, der sich in seinen spezifischen Ausformungen häufig schon in der frühen Jugend bemerkbar macht und schließlich mehr oder weniger zwangsläufig zu Kriminalität führen muss. Da zudem inzwischen unter diesem Eindruck auch die öffentlichen Instanzen große Programme entwickelten, um diesen gesellschaftsbedingten Missständen abzuhelfen und man diese Programme auch nicht ohne weiteres abblasen kann, nützen alle neuen Erkenntnisse zumindest solange nichts, solange sie den vorherrschenden Ansichten widersprechen. Schon Galilei konnte davon ein Lied singen.

Der Labeling-Ansatz hatte jedoch weit über die Probleme der Kriminalität hinaus Wirkungen auf die wissenschaftliche Diskussion und die öffentliche Meinung gehabt. Sein - dem eigentlichen Ansatz vorgelagertes - Menschenbild, dass das “Selbst” des Menschen nichts weiter sei als der Spiegel der Meinungen der “Anderen”, muss geradezu notwendig dazu führen, dass die Forschung laufend “stigmatisierte” Außnseitergruppen namhaft macht und stets “Anderen” die Verantwortung aufbürdet, da eben diese Anderen ja das “Selbst” des Außenseiters buchstäblich konstituieren: Den schlechten Schüler, den psychisch Auffälligen, den eingebildeten Kranken, aber auch alle anderen zu den normalen Anforderungen des Lebens nicht Motivierten.

Der eingetretene Perspektivenwechsel zeigt sich schon sprachlich: “Kriminelle” werden zu “Kriminalisierten”, Asoziale zu “sozial Verachteten”, die Institutionen zu “Instanzen” usw., womit die Leitidee der gesellschaftlichen Verursachung die Herrschaft selbst über die Sprache gewann und erst so wirklich kulturprägend wurde.

So kam es dazu, dass Außenseiter-Gruppen aller Art im Denken, auch dem legislativen, heute eine ganz besondere Rolle spielen und mit Sonderbehandlungen und Vorrechten bedacht werden im Gegensatz zu denen, die in sozial unauffälliger Weise ihr Leben führen, für ihren Unterhalt sorgen, sich um ihre Kinder kümmern und ihre Steuern bezahlen.

 

4.3. Zur Lehre

Für die Lehre ergibt sich von selbst die Konsequenz aus der Lage der Forschung. Dabei kann es keineswegs befriedigen, wenn es heute praktisch kaum ein Lehrbuch gibt, das nicht betont, die Kriminologie sei eine empirische Wissenschaft. Entscheidend ist, ob unter "empirisch" nur das verstanden wird, was eben im Zusammenhang mit der kriminalsoziologischen, die tatsächlichen Sachverhalte einseitig und damit irreführend darstellenden Forschung vorgetragen wird. Ich gebrauche daher bewusst im Gegensatz zu dem heute geläufigen Begriff ''empirisch" den Begriff "erfahrungswissenschaftlich" (eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Begriffen "empirisch" und “erfahrungs-wissenschaftlich" ist noch nicht erfolgt, wenngleich sich bei BOCK erste Ansätze hierzu finden. Mit dem Wort erfahrungswissenschaftlich ist vorausgesetzt, dass der Wissenschaftler auch eine eigene Erfahrung mit dem Gegenstand seiner Wissenschaft und nicht nur mit einer für ihn praktikablen Methode hat. Bei der Kriminologie ist dies der Täter in seinen sozialen Bezügen, denn er ist es, der das Crimen begeht und nicht die Gesellschaft. Hierzu ver­mögen freilich die meisten Autoren der Lehrbücher aus eigener Forschungserfahrung keinen Beitrag zu leisten.

Man fragt sich unter diesen Aspekten, ob Kriminologie, wie sie heute vielfach angeboten wird, wirklich das vermittelt, was man Erfahrungswissen nennt, ob sie dem Juristen für seine tägliche Arbeit mit dem je einzelnen Straffälligen überhaupt hilfreich sein kann, und es wirft sich letztlich die Frage nach der Berechtigung einer solchen Kriminologie im Lehrangebot der juristischen Ausbildung auf.

 

5. Kriminologie in Tübingen seit Errichtung des Lehrstuhls  und Gründung des Instituts

Sowohl in Heidelberg als auch in Tübingen wurde die Kriminologie seit Einrichtung der Lehrstühle bzw. Institute stets als unmittelbare Erfahrungswissenschaft verstanden. Leferenz, der bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl in Heidelberg innehatte, war innerhalb der Kriminologie wohl der engagierteste Verfechter einer erfahrungswissenschaftlichen Kriminologie und zugleich scharfer Kritiker der theoriegeleiteten bzw. ideologie-gesteuerten überwiegend einseitig soziologischen Ansätze.

In meiner Antrittsvorlesung habe ich darauf hingewiesen, dass es in der erfahrungswissenschaftlichen Kriminologie zunächst einmal des systematischen Vergleichs wiederholt Straffälliger mit der Durchschnittspopulation bedürfe, weil nur so die Eliminierung kriminologisch wichtiger und die Herausarbeitung kriminologisch relevanter Fakten und Zusammenhänge gelingen könne. Daher haben wir die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung bewusst als eine solche Vergleichsuntersuchung angelegt.

Heute und vor diesem Kreis erübrigen sich detaillierte Aussagen über Ansatz und Methode dieser Untersuchung. Daher will ich mich mit einigen Stichworten begnügen: Die Untersuchungsgruppen bestanden aus je 200 Personen aus der männlichen Durchschnittsbevölkerung und Häftlingen, die mindestens sechs Monate Freiheitsstrafe zu verbüßen hatten, aus dem gleichen Raum und jeweils im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Die Untersuchungen wurden von Juristen, Psychiatern, Psychologen, Soziologen, Sozialarbeitern und mir durchgeführt mit jeweils überschneidenden Kontrollen der einzelnen Gruppen und Bereiche. Im Vordergrund stand zunächst die Richtigkeit der Erhebungen. Nachdem sich bei entsprechenden Kontrollen sehr schnell gezeigt hatte, dass teilweise über die Hälfte der Angaben der Probanden nicht stimmten, war ein erheblicher Aufwand notwendig, um durch Akten- und sonstige Informationen, Umgebungsuntersuchungen sowie wiederholte zusätzliche Befragungen allein zur Abklärung von Widersprüchen und zur Berichtigung von Vervollständigung des Ausgangsmaterials zu gelangen. Hätten wir nur die Erhebungen verarbeitet, die wir zunächst bekommen hatten, wäre relativ schnell ein völlig anderes - aber eindeutig falsches - Ergebnis herausgekommen.

Leider vergisst man die Beachtung dieser Grundvoraussetzungen einer seriösen wissenschaftlichen Untersuchung bei einer großen Zahl der in den letzten 20 Jahren vorgelegten kriminologischen Arbeiten. Die einzige Hypothese, unter der die Untersuchung stand, lautete: es gibt - keine - Unterschiede zwischen Straffälligen und der Durchschnittsbevölkerung. Diese Hypothese blieb unausgesprochen; es war jedoch das Grundanliegen der Untersuchung festzustellen, ob es Unterschiede gibt und wenn ja, welche. Bewusst wurde auf jede Art von Theorie verzichtet, um eine einseitige Einengung der Untersuchungen zu vermeiden. Neben den auf möglichst umfassenden Informationsgewinn ausgerichteten Einzelfalluntersuchungen wurde auch ein Erhebungsbogen angelegt, in dem vor allem Ergebnisse anderer multifaktorieller Untersuchungen des Auslandes als Erhebungspunkte eingingen. Die Untersuchungen selbst erforderten großes Engagement der Mitarbeiter, da die Vergleichsprobanden ganz überwiegend nur am Samstagnachmittag und sonntags zur Verfügung standen und es trotz angebotener Vergütung des Lohnausfalls ablehnten, während der Arbeitszeit zur Untersuchung zu kommen, da sie nicht einfach einen oder zwei Tage vom Betrieb wegbleiben könnten. Natürlich war die Teilnahme an der Untersuchung freiwillig und die Probanden durch Nummern anonymisiert.

Über die Ergebnisse brauche ich ebenfalls nicht viel Worte zu verlieren: im gesamten Lebensbereich der Probanden, den wir in Einzelbereiche (Erziehungsbereich/Herkunftsfamilie - Aufenthaltsbereich - Leistungsbereich - Freizeitbereich - Kontaktbereich) aufgeteilt hatten, brachte die rein statistische Auswertung hochsignifikante Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungsgruppen; sie stimmten teils unmittelbar, teils der Tendenz nach mit den wenigen Vergleichsuntersuchungen im internationalen Bereich überein. Es war jedoch aufgrund der differenzierten und umfassenden Einzelfalluntersuchungen sehr schnell zu erkennen, dass entscheidende Kriterien, die im Leben des Probanden von großer Bedeutung waren, durch die rein statistische Auswertung untergingen.  Bei dem Versuch einer komplexen Betrachtungsweise schälten sich dann auch Kriterien anderer Art heraus, in denen die spezifischen Eigenarten des Lebensstils und der Lebensführung zum Ausdruck kamen. Für den Lebensquerschnitt entstanden die kriminovalente und die kriminoresistente Konstellation. Bezüglich des Lebenslängsschnitts wurden die hochsignifikant trennenden Verhaltensweisen  idealtypisch verdichtet und der Lebenszuschnitt in Bezug zur Delinquenz gebracht. Schließlich wurde die Bedeutung der Relevanzbezüge und der Wertorientierung der Probanden für ihren jeweiligen Lebensstil herausgeschält. So ergab sich das Bezugssystem der Kriminologischen Trias.

Besonders wichtig für die Bewertung der Ergebnisse war die Tatsache, dass es sich bei der Vergleichsgruppe  nicht etwa um eine “nichtkriminelle” Gruppe handelte, sondern eben um eine solche aus der Durchschnittsbevölkerung mit der Folge, dass rund ein Viertel der Vergleichsprobanden vorbestraft war, was in etwa der durchschnittlichen Quote der in der Bundesrepublik vorbestraften Männer in dieser Altersgruppe entspricht. Dadurch, dass wir also auch die Gruppe der “gelegentlich einmal straffällig Gewordenen” mit erfasst haben, ließen sich in besonders eindrucksvoller Weise Differenzierungen zwischen den verschiedenen Straffälligen darstellen.

Sehr interessant war auch das Experiment, aus Probanden beider Untersuchungsgruppen mit zunächst gleichen Schicksalen gewissermaßen “Zwillingspaare” zu bilden. Die unterschiedlichen Entwicklungen und das unterschiedliche Verhalten machten hierbei deutlich, dass es eben andere als soziale Fakten sind und dass es nicht die äußeren (sozioökonomischen) Bedingungen sind, die den einen zur Bewältigung der Probleme, den anderen zur Straffälligkeit führen.

Unser Anliegen war jedoch letztlich nicht nur Grundlagenforschung, sondern wir wollten diese auch für die Praxis nutzbar machen. Daher arbeiteten wir sehr lange an den damit verbundenen methodischen Problemen und entwickelten schließlich die Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse mit dem Bezugsystem der kriminologischen Trias. Dabei handelte es sich um ein rein kriminologisches Instrumentarium, das sich von den Methoden und den Bezugssystemen der anderen Erfahrungswissenschaften grundsätzlich unterscheidet und eine spezifisch kriminologische Erfassung des individuellen Täters mit Diagnosestellung und allen daraus resultierenden Konsequenzen für Prognose und Intervention erlaubt. Damit hat auch der mit dem Straffälligen befasste Richter oder sonstige Praktiker ohne besondere psychologische oder psychiatrische Fachkenntnisse die Möglichkeit, sich in der täglichen Praxis in kurzer Zeit ein differenziertes Bild vom Täter (in seinen sozialen Bezügen) zu machen. Wir sprechen von “Angewandter Kriminologie” und zwar in dem Sinne, wie dieser Terminus auch in sonstigen Erfahrungswissenschaften für die unmittelbare Anwendung  erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis verwendet wird. Dass wir damit diesen Begriff anders gebrauchen, als dies vielfach im kriminalpolitischen Kontext üblich geworden ist, sei nur am Rande vermerkt.

Was die zahlreichen sonstigen Tätigkeiten am Institut betrifft, so möchte ich die im engeren Sinne wissenschaftlichen nicht besonders ansprechen. Dass im Institut viele Einzelforschungen aus der breiten Palette der erfahrungswissenschaftlichen Kriminologie durchgeführt und als Monographien veröffentlicht wurden, dass Zeitschriften und wissenschaftliche Reihen herausgegeben bzw. gegründet sowie sonstige Publikationen auch in zahlreichen Fremdsprachen vorgelegt und auch für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses viel Zeit investiert wurde, gehört zu den normalen Aufgaben des Hochschullehrers.

Anders steht es mit dem Bemühen um einen fruchtbaren Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis. Hierzu dienten die zusammen mit Flemming vor knapp 30 Jahren gegründeten medizinisch-juristischen Schwerpunkthefte der Neuen Juristischen Wochenschrift, von denen in diesem Jahr das 100. Heft erscheinen wird. Mitte der 60er Jahre wurde in Tübingen ein kriminologischer Arbeitskreis für Praktiker aus allen Disziplinen, die mit Straffälligen zu tun haben, eingerichtet, der inzwischen 95 Tagungen hinter sich hat und in dem der Gesamtbereich der Kriminologie durch kompetente  Wissenschaftler und Praktiker aus der Bundesrepublik und dem Ausland behandelt wurde. Inzwischen wurden auch mehrere Fortbildungskurse in Angewandter Kriminologie für Praktiker durchgeführt, wobei die in Tübingen veranstalteten Kurse jeweils aus drei zweitägigen Kompaktseminaren bestanden und die Teilnehmer aus der ganzen Bundesrepublik kamen und sich aus allen Bereichen, die sich mit Straffälligen befassen, zusammensetzten: also aus Juristen (Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Vollzugsbeamte), Psychologen, Psychiater, Soziologen, Polizei- und Kriminalbeamte, Lehrer, Sozialarbeiter in verschiedenen Positionen ebenso wie Hochschullehrer und Assistenten, jeweils auch unter Beteiligung von Ausländern. Anfang September wird in Tübingen auf Veranlassung und unter Mitgestaltung durch die Internationale Gesellschaft für Kriminologie eine internationale Forschungswoche über Angewandte Kriminologie stattfinden.

 

6. Kritische Zusammenfassung

Lassen Sie mich die Entwicklung der Kriminologie in den letzten 25 Jahren kritisch zusammenfassen. Möglicherweise erscheinen einige der vorherigen Aussagen überspitzt und sind es vielleicht auch tatsächlich, zumal man letztlich von dem Kriminologen ebenso wenig sprechen kann wie von dem Juristen, das heißt diese Ausführungen treffen sicher nicht alle Kriminologen. Dennoch wurde eine klar erkennbare Tendenz aufgezeichnet, die uns zu denken geben muss.

Es geht um drei Fragen, nämlich um das methodische Vorgehen, um die Theorieorientierung und um die Einstellung des Wissenschaftlers.

Bei den üblicherweise angewendeten Methoden handelt es sich keineswegs um originäre kriminologische Methoden; vielmehr werden unreflektiert die Methoden der empirischen Sozialforschung mit ihren deduktiven  und quantifizierenden Ansätzen übernommen und dann geradezu zum Dogma erhoben. Daher sind mit den folgenden kritischen Ausführungen nicht nur jene Kriminologen, sondern ein weit größerer Kreis von Wissenschaftlern aus den Bezugswissenschaften angesprochen. Die Verwendung dieser Methoden in der Kriminologie ist leicht verständlich, weil es den meisten Kriminologen eben an Erfahrung im Hinblick auf den eigentlichen Forschungsgegenstand, den Straftäter, mangelt und sie sich die Methoden der empirischen Sozialforschung ohne große Schwierigkeiten aneignen und dann ohne weiteres auf die entsprechenden Forschungen anwenden können. Dabei wird - darauf sei mit Nachdruck verwiesen - da es unter den Aspekten des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns nicht zu vertreten ist - der Forschungsgegenstand diesen Methoden angepasst und auf das reduziert, was mit diesen Methoden erfassbar ist. Im Grunde sind jedoch diese Forschungen kriminalsoziologischer Art. Dazu freilich - das möchte ich ebenfalls deutlich aussprechen - bedarf es keiner Kriminologie und keiner Kriminologen an juristischen Fakultäten; diese Forschungen können ebenso gut Soziologen im Rahmen ihrer soziologischen bzw. kriminalsoziologischen Interessen durchführen.

Dem Alleinanspruch dieser Methoden ist die Erkenntnis jedes Erfahrungswissenschaftlers entgegenzuhalten, dass er eine ganze Anzahl verschiedener  Methoden beherrschen und bisweilen neue entwickeln muss, um dem Gegenstand seiner Wissenschaft gerecht zu werden. Eine Erfahrungswissenschaft, die sich auf eine Methode und deren Varianten festlegt, bleibt steril.

Diese Methodenhörigkeit mit ihren bedenklichen Auswirkungen ist meist noch kombiniert mit einem geradezu unfasslichen Glauben an die Zahlen in Form von rein quantitativen Forschungsergebnissen, die geradezu zu einer Diktatur des Computers geführt haben.

Sieht man denn nicht, dass diese Guru-Hörigkeit einen Wissenschaftler geradezu daran hindert, eigene schöpferische Gedanken (und damit eventuell auch neue Methoden) zu entwickeln? Man will offenbar nicht erkennen, dass die Verarbeitung von Daten durch den Computer zwar in vielen Bereichen des täglichen Lebens, vor allem in den technischen Bereichen und natürlich auch in der Wissenschaft unerlässlich ist  - auch wir haben ihn unter anderem verwendet - dass der Computer aber nicht überall und ausschließlich dort einsetzbar ist, wo es um die Erfassung oder gar um die Erforschung menschlichen Handelns geht.

Selbst wenn ich alle verfügbaren Daten von einer menschlichen Hand eingebe - und deren gibt es viele, da sie ja anatomisch präpariert werden kann - wird der Computer niemals eine Hand in ihrer ganzen Differenziertheit, mit allen ihren Fähigkeiten, auch des Ausdrucks (des Künstlers z. B.) auch nur annähernd darstellen können. Eine Antwort über den Menschen als Ganzes oder gar über den Menschen in seinen sozialen Bezügen, bei dem man im Vergleich zur Hand nur einen Bruchteil harter Daten zur Verfügung hat, erwartet man jedoch von Rechenoperationen. Noch weit weniger ist eine solche zu erwarten, wenn es um Wertentscheidungen und deren Hintergrund geht. Jeder Straftat liegt eine Wertentscheidung gegen die Rechtsnorm zugrunde - wenn ich bei Rot über die Kreuzung fahre, ist dies eine Wertentscheidung ebenso wie wenn ich in einem Buchladen ein Buch wegnehme oder einen Bankraub begehe -.  Jede Straftat steht eben auch in den Sinn- und Wertbezügen, und so fragt man sich in der Tat, was eigentlich ein Wissenschaftler, der seine Erkenntnis nur über den Computer gewinnen will, sich dabei denkt.

Eng verbunden mit dieser Methodenabhängigkeit ist die Reduktion der Wirklichkeit auf eine oder mehrere Theorien. Dies entspricht einem der Naturwissenschaft entlehnten Wissenschaftsideal, eine möglichst allgemeine Theorie zu finden. Je allgemeiner die Theorie, desto inhaltsleerer ist sie jedoch. Auch das Verbrechen lässt sich mehr noch als jedes andere menschliche Handeln allenfalls ganz global und damit nichtssagend in eine Theorie packen, nicht aber in seiner ganzen individuellen Differenziertheit darstellen.

Soweit die Forschungen nicht dem Ziel einer allgemeinen Theorie dienen, sind sie häufig genug Themen und Thesen verpflichtet, die gerade “en vogue” oder “up to date” und kriminalpolitisch aktuell sind, das heißt, der Forschungsgegenstand wird nach den gerade herrschenden Modeströmungen ausgesucht. Von einem Erfahrungswissenschaftler erwarte ich jedoch, dass er erkennt, wo Grundfragen seiner Wissenschaft ungelöst sind, und dass er diese Grundfragen - die stets vom Zeitgeist unabhängig sind - dann auch bearbeitet, ehe er sich Tagesthemen zuwendet, für die die Grundlagen eben noch gar nicht erforscht sind. Wer so handelt, muss allerdings damit rechnen, mangels vordergründiger Aktualität nur wenig Resonanz und kaum einmal finanzielle Zuwendungen für seine Forschungen zu finden oder gar angefeindet zu werden, wenn seine Position dem herrschenden Wissenschaftsbetrieb widerspricht.

Dieses Abweichen der Kriminologie von ihren eigentlichen Aufgaben mag durch einen hypothetischen Vergleich, durch eine bewusste “Verfremdung”, noch näher veranschaulicht werden. Man stelle sich einen Juristen vor, der mit dem gleichen Anspruch, mit dem er erfahrungswissenschaftliche Kriminologie betreibt, sich nun auch der Medizin zuwendet. Die Forschungen wären praktisch dieselben wie jetzt bezüglich der Kriminologie: Ebenso wie hier der Täter als der eigentliche Gegenstand der Kriminologie ausgeklammert wird, würden dort eben die Kranken bezüglich ihrer Krankheit ausgeklammert. Es würden zwar - soweit man sich mit dem Kranken befassen würde - alle möglichen Fragen über ihre äußeren und sozialen Verhältnisse gestellt werden. Das Hauptaugenmerk der Forschung würde sich jedoch dabei - ebenso wie in der Kriminologie - auf die Institutionen konzentrieren. Bezüglich der Institution Krankenhaus könnte man die Entscheidungsprozesse und Leitungsmechanismen innerhalb des Personals, die Ausstattung, die Auslastungsquote und die Verweildauer der Patienten feststellen. Man könnte darüber hinaus statistische Zusammenhänge, z.B. zwischen Bettenzahl pro Zimmer und Verweildauer der Patienten herstellen und daraus Schlüsse für die schnelle und langwierige Genesung der Patienten ziehen. Man würde feststellen, dass die Umgebung der Kranken draußen in ihrem Leben nicht genügend Rücksicht auf sie nimmt, dass es höchste Zeit ist, die Gesellschaft umzufunktionieren, zumal man am Ende unter Umständen dann zu einem Ergebnis käme, dass die Leute ja eigentlich gar nicht krank sind, sondern nur krank gemacht wurden, weil sie sich aufgrund ihres sozialen Status oder welcher Umstände auch immer, nicht dagegen wehren konnten. Die Therapie wäre entsprechend; es würden alle möglichen Zentren errichtet, in denen eine andere Einwirkung stattfindet und man würde sich am Ende wundern, dass die Kranken immer noch krank sind.

Doch jenseits der Frage von Forschungsgegenstand und -methoden wird eine andere letztlich entscheidende Frage sichtbar, nämlich die der Einstellung eines Wissenschaftlers zu seiner beruflichen Tätigkeit. Fühlt er sich in erster Linie seiner Wissenschaft verpflichtet, der er gewissermaßen zu dienen hat, auch unter Verzicht eigener Profilierung? Es ist nicht einfach, in aller Zurückgezogenheit über viele Jahre hinweg erfahrungswissenschaftlich (Grundlagen) Forschung zu betreiben, ehe man mit den Ergebnissen an die Öffentlichkeit treten kann, wobei man unter Umständen noch Gefahr läuft, dass die Ergebnisse relativ mager bleiben und weit hinter den Erwartungen zurückliegen.

Aber kann man heute noch erwarten, dass ein Forscher die Verantwortung seiner Wissenschaft gegenüber als Leitlinie seiner Arbeit sieht? Ich habe nicht nur eine Umfrage gelesen und nicht nur einen Entwurf der zuständigen Verwaltungsbehörden gesehen, welche die Feststellung der Qualität eines Wissenschaftlers oder einer ganzen Wissenschaftsdisziplin zum Gegenstand hatten, in denen vor allem auf die Zahl der veröffentlichten Arbeiten hingewiesen wurde, die es allein rechtfertige, eine entsprechende Ausstattung eines Wissenschaftlers bzw. Instituts usw. vorzunehmen.

Kann man dem Wissenschaftler verübeln, wenn er - nun greife ich wieder hinaus in die gesamtkulturellen Zusammenhänge - in einer Zeit, in der sich die Moral gewandelt hat, in der ethische Grundsätze unserer abendländischen Kultur in Frage  und teilweise sogar lächerlich gemacht werden, in der das “Ego” jedes einzelnen im Mittelpunkt steht, weil (inadäquate) Ansprüche an das Leben weit wichtiger sind als die Sache, mit der man zu tun hat oder der Nächste, dem man begegnet, kann man also dem Wissenschaftler verübeln, wenn er in erster Linie an sich denkt, an seine Karriere und entsprechend opportunistisch handelt bzw. - was sich besser anhört - sich den Sachzwängen beugt?

Kann man von ihm verlangen, das er seriös bleibt, wenn er sieht, dass Unkorrektheit, Unwahrhaftigkeit, Desinformation nicht nur toleriert werden, sondern bisweilen sogar sich als der beste Weg zum Erfolg darstellen?

Wie auch immer man den Einfluss solcher Fakten einschätzen mag, sie gehören jedoch zu den Rahmenbedingungen, unter die sich heute jeder Wissenschaftler  gestellt sieht und angesichts derer er zur eigenen Stellungnahme aufgefordert ist, will er nicht im “Betrieb” und einer allgemeinen “Geschäftigkeit” untertauchen.

Nun mag sich bei manchen der Verdacht einstellen, dass in diesen, an die Fundamente der Wissenschaft reichenden Fragen sich etwa die Besorgnis eines “alten Mannes” dokumentieren, der noch aus den antiquierten wertmäßigen Beständen einer besseren Zeit lebt und dessen Mahnungen man sich wie die kulturpessimistischen Einsprengsel mancher Sonntagsredner zur Erbauung zur Kenntnis nimmt, um dann aber desto forscher zur Tagesordnung überzugehen. Einem solchen Verdacht und den aus ihm resultierenden Konsequenzen wird man letztlich nur begegnen können, wenn man dem Gegner sozusagen auf dem eigenen Felde gegenübertritt: Am bleibenden wissenschaftlichen Ertrag muss sich letztlich erweisen, ob das wissenschaftliche Ethos eben nur ehrenwert ist, oder ob es der Sache dient.

Unterpfand und argumentativer Kernpunkt der heute bei der überwiegenden Zahl der Kriminologen vertretenen Lehre ist die angeblich empirisch-methodische Überlegenheit. Darauf gründet sich auch ihr immer wieder lautstark angemeldeter praktisch politischer Führungsanspruch innerhalb der Kriminologie. Unterzieht man jedoch eben diesen empirischen Gehalt einer Probe, dann zeigt sich schnell, wie wenig fundiert diese Aussagen sind. Dies lässt sich gerade bei den heute vorherrschenden kriminalsoziologischen Varianten und ihrem Versuch, Kriminalität als Folge sozialer Mängellagen darzustellen, leicht zeigen. Sie arbeitet in empirischen Forschungen vorwiegend mit der sogenannten “Unterschichtsthese” und mit der These von den “defizitären Sozialisiationsbedingungen” und leitet daraus bzw. aus einer selektiven Strafverfolgung deren hohe Straffälligkeit her. Doch gelingt es trotz großen theoretischen und statistischen Aufwandes  nicht, diesen Nachweis zu führen. Der größte Teil der Varianz bleibt un”erklärt”, weil nämlich die sogenannten Sozialisiationsdefizite auch bei einer Vielzahl von Menschen vorliegen, die gar nicht oder doch nur vorübergehend und bagatellhaft straffällig werden.

Freilich gibt es bezüglich der Start- und Lebensbedingungen des Menschen im sozialen Leben keine “Chancengleichheit”. Die wirtschaftlichen Startverhältnisse insbesondere, auf die heute unter Hinweis auf die Chancengleichheit abgehoben wird, spielen dabei jedoch eine weit geringere Rolle als die mit der betreffenden Person an sich zusammenhängenden Probleme und Belastungen. Fraglos haben viele Menschen, die psychisch keineswegs als abnorm zu bezeichnen sind, dennoch immer wieder mit sich und damit häufig auch mit ihrer sozialen Umwelt Schwierigkeiten - Menschen, die sich oftmals selbst gewissermaßen im Weg stehen, während andere wiederum ohne Schwierigkeiten ihren Weg gehen. Dennoch steht diese Unterschiedlichkeit durchaus in Übereinstimmung mit der Vorstellung vom Menschen als einem eigenständigen, eigenverantwortlichen zur Selbstbestimmung fähigen Individuum. Der einzelne muss eben gemäß seiner individuellen Persönlichkeit jeweils spezifische Fähigkeiten entwickeln, um im Sozialverhalten nach außen unauffällig zu bleiben. Für den einen ist das Bewältigen der alltäglichen Hürden fast belanglos, für den anderen dagegen immer wieder eine neue Aufgabe. Diese Aussage resultiert nicht aus einem Bekenntnis, sondern aus der Erfahrung im Umgang mit sehr vielen Menschen, die ich im Laufe meines Lebens untersucht habe - und nicht zuletzt aus den Erfahrungen der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung. Dabei wurden die unterschiedlichen Lebenschancen nicht etwa ignoriert, wohl aber im Verhältnis zur eigenen Lebensführung der Probanden betrachtet, da der Mensch sich als geistiges Wesen zu den inneren und äußeren Umständen, die er vorfindet, immer noch so oder so stellen kann. Bei dieser Untersuchung fiel eben immer wieder auf, dass es zahlreiche Straffällige mit guten und zahlreiche Nichtstraffällige mit schlechten Lebenschancen gab. Die Erklärung für die Differenzierung im sozialen Leben fand sich schließlich in einem spezifischen Lebensstil, der das Sozialverhalten der wiederholt Straffälligen in allen Lebensbereichen durchzog. Denn ganz gleich, ob ihre Lebenschancen unter sozioökonomischen oder sozialisationstheoretischen Gesichtspunkten gut oder schlecht waren, im Gegensatz zu den Probanden aus der Durchschnittspopulation waren sie nicht bereit, über ihre Antriebe, Ansprüche, Interessen einen Vergleich mit dem jeweils anderen Menschen ihrer Umgebung anzustellen und von hier aus die Berechtigung dieser Ansprüche für sich und andere zu prüfen, zu begründen und gegebenenfalls in ihrer Unmittelbarkeit zu brechen.

Im kleinen und im großen, in der Zurückweisung kleinster familiärer Pflichten und Rücksichten, ebenso wie in der mangelnden Bereitschaft, Verantwortung im Beruf zu übernehmen, oder in der mangelnden Verlässlichkeit bezüglich aller zwischenmenschlichen Kontakte, brachten sie das nicht auf, was der Tübinger Pädagoge und Philosoph Bollnow als “einfache Sittlichkeit” bezeichnet. Es geht hier nicht um das Fehlen hoher Ideale und sogenannter “bürgerlicher” Wertvorstellungen. Vielmehr war bei der Gruppe der Straffälligen der Mangel einer Ausrichtung des Handels an den elementaren Grundsätzen der Gegenseitigkeit, Billigkeit und Rücksicht ein besonders markanter Befund. Und so waren es denn auch Kriterien wie “Vernachlässigung familiärer Pflichten”, “inadäquat hohes Anspruchsniveau”, oder “paradoxe Anpassungserwartung”, die auch quantitativ die beiden Untersuchungsgruppen weitaus stärker trennten als alle Kriterien “defizitärer” Lebenschancen.

Im übrigen wird sich derjenige, der nur kriminologische oder soziologische Aussagen über die Verhältnisse der sogenannten “Unterschicht” kennt, kaum vorstellen können, dass in Wirklichkeit die Grundzüge dieser “bürgerlichen” Wertvorstellungen bei den sozial unauffälligen Angehörigen der sogenannten Unterschicht nicht minder vertreten sind, vielfach sogar eindrucksvoller gelebt werden als in der sogenannten Mittel- und Oberschicht.

Welche Folgen nun hat eine Kriminologie, wie sie zuvor skizziert wurde, für Recht und Gesetzgebung? Lokalisiert man die für die Kriminalität relevanten Bedingungen allein in Unzulänglichkeiten der vorgegebenen Lebensbedingungen und bezeichnet man alle Auffälligkeiten nur als “Defizit” oder “Selektion”, dann lassen sich leicht kriminalpolitische oder auch sozialpolitische Kompensationen als Aufgabe staatlicher Gesetzgebung herausstellen. Wenn tatsächlich Rechtstreue einerseits bzw. Gesetzesverletzung andererseits nur vom “Glück” oder vom “Pech” bezüglich der sozialen Herkunft abhängen, dann ist in der Tat der Gesetzgeber zum Nachdenken aufgerufen.

Wie weit die Grundlage unseres Strafrechts bereits in Frage gestellt wird, zeigt sich an Erlas­sen mancher Justizminister, Diebstahlsdelikte nur noch dann zu verfolgen, wenn der Wert eine entsprechende Höhe - in Hamburg zum Beispiel 100 DM - erreicht hat. Als Begründung wird dabei nicht nur angeführt, dass die Verfolgungsorgane überlastet seien, sondern dass eben auch nach der heutigen Auffassung Diebstähle solch geringen Wertes nur einen geringen Un­wertcharakter hätten. Hier kann ich meinem Kollegen Baumann nur meine Hochachtung dafür aussprechen, dass er als Justizsenator in Berlin in aller Deutlichkeit darstellte, dass Diebstahl Diebstahl ist, auch wenn es sich nur um zehn Mark handelt. Ich meine, dass auch die Kriminalpolitik aufgerufen ist, diesen Problemen zu begegnen und sich nicht einseitig von vermeintlich leidenschaftslos-nüchtern-empirischen, in Wahrheit jedoch einseitig-reduktionistischen kriminologischen Lehren beeinflussen zu lassen, sondern diese an ihrem Anspruch zu messen und kritisch auf ihren erfahrungswissenschaftlichen Gehalt zu befragen.

 

7. Stand der Kriminologie heute

Lassen Sie mich als letzten Gesichtspunkt die Frage aufwerfen, wie es um die Fortentwicklung der Kriminologie bestellt ist und wie von dort aus Impulse für die Strafrechtspraxis ausgehen können.

Wie bereits dargestellt, liegen nur wenige Forschungen vor, die sich um die Grundlagen der Kriminologie bemühen, und die dann entscheidende Kriterien und Zusammenhänge aufdecken , hinsichtlich derer, die immer wieder straffällig werden und sich von der Durchschnittspopulation unterscheiden. Dabei bedürfen diese Untersuchungsergebnisse über die Straffälligen keiner an irgendeiner Leitidee ausgerichteten Interpretation - sie sprechen in ihrer Gegenüberstellung zu den entsprechenden Ergebnissen bei der Durchschnittspopulation für sich selbst. Daraus resultiert letztlich auch ihre Praxisrelevanz.

Demgegenüber sind Untersuchungen mit dem Ziel statistischer Aussagen von geringem praktischem Wert. Der Jurist in der Praxis kann mit Forschungsergebnissen dieser Art nichts anfangen, wenn er den individuellen Straffälligen zu beurteilen hat, wie dies bei der stark spezialpräventiven Ausrichtung unseres Strafrechts regelmäßig der Fall ist. Es handelt sich dabei ausschließlich um Wahrscheinlichkeitsaussagen, und jeder Anfänger weiß, dass solche statistischen Ergebnisse und deren Interpretation nicht auf den Einzelfall anwendbar sind. Überträgt jedoch der Richter diese Pauschalaussagen auf den Einzelfall, dann ist dies schlicht ein bedenklicher Kunstfehler.

Mit der Zielsetzung, kriminologisches Erfahrungswissen für die Praxis anwendbar zu machen, entwickelten wir daher Methoden und Bezugskriterien, die es erlauben, den individuellen Straftäter kriminologisch aufgrund relativ einfacher und relativ leicht erhebbarer Einzelkriterien zu erfassen. Ich habe bereits darauf hingewiesen. Dies ist international absolut neu und die Konsequenzen aus diesen Forschungsergebnissen sind prinzipieller Art: Die Kriminologie hat sich mit einem eigenen Gegenstand und einer eigenen Methode die Grundlage für eine selbständige Erfahrungswissenschaft geschaffen. Sie ist damit keineswegs mehr eine Clearing-Zentrale, als die sie noch immer einige Kriminologen sehen wollen, und sie ist nicht mehr abhängig von ihren Bezugswissenschaften in dem Sinne, das sie die entscheidenden Fragen bezüglich desjenigen, der das Crimen begeht, an jene weitergeben muss, ohne aber von ihnen eine kriminalpolitisch kompetente Antwort zu erhalten.

Der Außenstehende - und möglicherweise auch jene Kriminologen, die sich über den Täter und seine diagnostische Erfassung keine differenzierten Gedanken gemacht haben - mögen sich wundern, warum ich der Entwicklung spezifisch kriminologischer Methoden zur Erfassung des Täters (in seinen sozialen Bezügen) eine solch fundamentale Bedeutung beimesse.

Mit dem Täter können sich ja auch Soziologie, Psychologie, Psychiatrie befassen. Dieser Einwand erscheint auf den ersten Blick berechtigt. Dem vordergründigen rein pragmatischen Argument, dass man dann in der täglichen Rechtspraxis eben jeweils einen Gutachter aus einer dieser Disziplinen benötige, was nicht nur den Ablauf der Strafverfolgung erschwert,  sondern auch das Gericht in eine nicht unbeträchtliche Abhängigkeit bringt, könnte damit begegnet werden, dass man dann eben prozessual neue Methoden entwickeln müsse, um dem abzuhelfen.

Entscheidend ist jedoch ein anderer, sachlicher Aspekt: Keine der kriminologischen Bezugswissenschaften ist in der Lage, mit ihren Methoden den Straffälligen sachgerecht kriminologisch zu erfassen:  Von den kriminalistischen Bezugswissenschaften entfällt das Strafrecht, das eine völlig andere Aufgabe hat, aber auch die eigentliche Kriminalistik, der es um die technischen und taktischen Fakten geht, die mit der Tat und ihrer Verhütung zusammenhängen, so mit der Aufklärung des Tatgeschehens, der praktischen Verbrechensverfolgung und -vorbeugung. Aber auch die empirischen Bezugswissenschaften versagen hier: Die Soziologie entfällt, da sie sich mit gesellschaftlichen Zusammenhängen, nicht aber mit  der einzelnen Person beschäftigt und zu deren Erfassung ohnehin über keine Methoden verfügt.

Der Gegenstand der Psychiatrie ist der seelisch abnorme Mensch und nur soweit - bezüglich etwaiger seelischer Abnormität - ist sie für einen Menschen, der eine Straftat begangen hat, zuständig. In diesen Fällen wird der psychiatrische Sachverständige trotz der Angewandten Kriminologie nach wie vor im Prozess unentbehrlich sein. Bei der ganz überwiegenden Zahl der Straftäter, die eben nicht psychisch krank oder erheblich auffällig sind, reicht jedoch das psychiatrische Sachwissen nicht aus. Ich selbst habe dies in eindrucksvoller Weise erlebt, als ich mit meinen Untersuchungen des “ganz normalen Straftäters” begonnen habe. Wohl kann der Psychiater im Einzelfall bestimmte psychische Eigenarten und Auffälligkeiten feststellen; es sind jedoch die gleichen Eigenarten und Auffälligkeiten, die bei unendlich vielen Menschen vorliegen, ohne dass sie straffällig werden.

Das Gleiche gilt im Prinzip für die Psychologie, selbst wenn sie sich neuerdings wiederum erfahrungswissenschaftlich um den Menschen bemüht und dies nicht nur mit statistischem oder sozialpsychologischem Ansatz. Psychische Eigenschaften sind grundsätzlich wertneutral. Mit den gleichen Eigenschaften kann ein Mensch sozial Wertvolles leisten oder zum Verbrecher werden. Er kann zum Beispiel ein hochqualifizierter Automechaniker sein oder ein perfekter “Friseur” gestohlener Autos. Es war bei der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung eindrucksvoll, dass die üblichen psychologischen Tests zwischen der Häftlingsgruppe und der Vergleichsgruppe nicht nennenswert trennten. Lediglich bei der Intelligenz fanden sich gewisse Unterschiede, jedoch nicht im zahlenmäßig erheblichen Delinquenzbereich. Die Frage, wie es kommt, dass der eine Mensch mit den entsprechenden psychischen Eigenschaften Automechaniker bleibt, während der andere seine Fachkenntnisse in strafbare Handlungen umsetzt, kann die Psychologie jedoch nicht beantworten. Freilich wird trotz der Angewandten Kriminologie auch der psychologische Sachverständige gelegentlich bei speziellen und differenzierten psychologischen Fragen unentbehrlich sein.

Jedenfalls kann keine der empirischen Bezugswissenschaften eine spezifisch kriminologische Aussage über die Lebenszusammenhänge im Längsschnitt und im Querschnitt, in denen letztlich die Straftat steht, machen.Die Soziologie hat ein anderes Forschungsanliegen, und mit Theorien ist hier ohnehin nichts anzufangen. Zudem werden soziale Mängellagen überwiegend ohne Straffälligkeit bewältigt. Die psychischen Eigenschaften allein genügen nicht, und eine psychische Abnormität liegt nur selten vor und auch die rein analytischen Methoden der (Psycho-)Analyse auf dem Boden einer Theorie reduzieren die Wirklichkeit auf diese Theorie. Hier nun ist die Kriminologie aufgerufen. Bisher war sie nicht in der Lage, zu diesem ihrem Kardinalproblem eine Aussage zu machen, weil ihr spezifisch kriminologische Methoden dazu fehlten. Insofern bedeutet die Entwicklung eines kriminologischen Instrumentariums zur kriminologisch-diagnostischen Erfassung eines Täters (in seinen sozialen Bezügen) einen fundamentalen Einschnitt für die Kriminologie.

Ich würde sogar meinen, dass die Bezeichnung der Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaft nicht mehr zutrifft, es sei denn, man würde die Medizin ebenfalls als interdisziplinäre Wissenschaft bezeichnen. Das Verhältnis der Kriminologie zu ihren Bezugswissenschaften ist heute mit dem zu vergleichen, das die Medizin zu ihren Bezugswissenschaften hat. Die Auseinandersetzung mit dem einzelnen Kranken ist allein Sache der Medizin, ebenso wie sie bezüglich des einzelnen Straffälligen allein Anliegen der Kriminologie ist. Allerdings kann die diagnostische Differenziertheit in der Kriminologie heute noch nicht annähernd mit der Medizin standhalten, weshalb dort noch ungleich viel mehr unmittelbare erfahrungswissenschaftliche Grundlagenarbeit zu leisten ist. Darüber hinaus stellen sich jedoch der Kriminologie weitere typisch kriminologische Aufgaben, die sie aber ohnehin zum Teil bereits wahrnimmt, nicht anders, als entsprechend die Medizin. Und ebenso, wie die Medizin heute ohne ihre Bezugswissenschaften (Chemie, Pharmazie, Physik usw.) keine Fortschritte verzeichnen kann, benötigt auch die Kriminologie nach wie vor ihre Bezugswissenschaften, allerdings nur als “Bezugs-Wissenschaften” im wahren Sinn des Wortes.

Aber auch in einem anderen Punkt ist die Kriminologie weitergekommen. Es wurden erstmals klare Syndrome zur Früherkennung krimineller Gefährdungen von Personen herausgearbeitet, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht straffällig sind. Diese Syndrome beziehen sich bereits auf den für eine frühzeitige prophylaktische Einwirkung so wichtigen schulischen Bereich, weiterhin auf den Leistungsbereich, den Freizeitbereich und den Kontaktbereich. Ein näheres Eingehen darauf würde hier zu weit führen. Mit diesen Syndromen wendet sich die Kriminologie weniger an das Strafrecht, als vielmehr an jeden, der mit Menschen zu tun hat, insbesondere etwa an Eltern, Lehrer, Lehrherrn, Angehörige von Vereinen, Jugendgruppen usw. usw. Doch ebenso wie bei der Angewandten Kriminologie gilt es auch hier, weiterzuarbeiten, zu differenzieren und zu verfeinern, um schließlich noch weitere Kriterien zu gewinnen, die ein Abgleiten in Straffälligkeit rechtzeitig signalisieren und die Möglichkeit entsprechend frühzeitiger Intervention bieten.

Trotz dieser unleugbaren Fortschritte muss offen bleiben, ob sich die Forschungen in dieser Richtung weiterentwickeln und ob die Praxis bereit ist, diese Erkenntnisse aufzunehmen. Prüft man unter diesem Aspekt den Stand der kriminologischen Forschung, so muss man feststellen, dass es insoweit heute weit schlechter um die Kriminologie bestellt ist als 1962. Damals lag noch ein unbeackertes Feld vor den Kriminologen; heute ist vieles festgelegt und der Ausstieg aus dieser Fehlentwicklung wird vermutlich sehr schwierig sein.

Ein Fragezeichen ist hier nicht zuletzt wegen der Personen zu setzen, die das Fach Kriminologie vertreten. Ich meine in erster Linie jene Juristen ohne erfahrungswissenschaftliche kriminologische Ausbildung, die im Grunde Juristen geblieben sind. Für sie ist die Subsumtion eines Sachverhaltes unter einem bestimmten Tatbestand bare Selbstverständlichkeit, ebenso wie die eindeutige Lösung eines bestimmten Falles. - In den Erfahrungswissenschaften vom Menschen bleibt jedoch vieles ungeklärt und die Subsumtion von komplexen Sachverhalten unter ein bestimmtes Kriterium oder gar eine Norm ist vielfach geradezu ein Kunstfehler.

Die Frage lautet nun ganz korrekt: Wie groß ist die Chance, dass ein Jurist zum Erfahrungswissenschaftler wird, oder wie groß ist die Chance, dass ein Erfahrungswissenschaftler, der Erfahrung im täglichen Umgang mit dem (straffälligen) Menschen mitbringt, einen kriminologischen Lehrstuhl besetzt?

Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass ich die Chance nicht sehr groß ansehe. Zum einen kann Erfahrung nicht gelernt, sondern muss erfahren werden. Man muss sich dazu intensiv unmittelbar mit dem entsprechenden Gegenstand befassen. Das erfordert Zeit, für viele als verloren angesehene Zeit. Zum anderen erfordert der erfahrungswissenschaftliche Ansatz noch andere Qualitäten als der juristische Ansatz und mit ihm das juristische Denken.

Schon zu der Zeit, während der ich noch wissenschaftlich auf arztrechtlichem Gebiet gearbeitet habe, fiel mir auf, dass es sich bei den Juristen und Ärzten um zwei ganz verschiedene Welten mit völlig verschiedenem Zugriff handelte, die sich um den gleichen Gegenstand bemühten. Dabei gelang es von Seiten der Juristen meist nicht, die Situation der Ärzte und deren Wissenschaft, die Medizin, die nun einmal die Erfahrungswissenschaft vom Menschen par excellence ist, sachgerecht zu erfassen, was zur Folge hatte, dass die Mediziner oftmals juristischen Argumentationen von der (medizinischen) Sache her sprachlos gegenüberstanden.

Selbst bei meinen Lehrveranstaltungen jetzt erkenne ich immer wieder, wie schwierig es für den Studenten der Rechtswissenschaft ist, sich auf eine sachgerechte Betrachtungsweise des Gegenstandes seines erfahrungswissenschaftlichen Interesses, der Kriminologie, einzustellen. Wenn er es allerdings schafft, leistet er nicht gerade wegen seines geschulten Denkens Hervorragendes.

Fällt schon dem Jurastudenten eine Umstellung auf die ganz andere Betrachtungsweise des Erfahrungswissenschaftlers schwer, denn wird es noch schwieriger für einen gestandenen juristischen Wissenschaftler, der nun das Fach Kriminologie vertritt. Er muss sich zuvor in aller Regel vor allem juristisch profilieren, ehe er an einen Ruf denken kann. Meistens lesen die juristischen Fachvertreter für Kriminologie dann auch noch Strafrecht und prüfen im Strafrecht, bleiben also voll und ganz in ihrer juristischen Denk- und Arbeitsweise befangen. Freilich könnte dem durch entsprechende Überlegungen der juristischen Fakultäten bei der Erteilung der Venia legendi für Kriminologie einerseits und durch die Berufung von Erfahrungswissenschaftlern auf kriminologische Lehrstühle entgegengesteuert werden.

1962 war es zum Beispiel für die Tübinger Juristen-Fakultät keine Frage, dass ein Erfahrungswissenschaftler auf den kriminologischen Lehrstuhl zu berufen sei, und es war auch selbstverständlich, dass dieser eine für juristische Verhältnisse ungewöhnliche Ausstattung, also unter anderem auch eine große Zahl von Assistenten benötigt, um überhaupt arbeiten zu können. Zum einen sah jeder ein, dass Erfahrungswissenschaft nur auf diese Weise sinnvoll betrieben werden kann, und zum anderen wusste jeder, dass sein eigener Wert nicht durch die Assistentenzahl dokumentiert wird.  Hier haben sich in der Zwischenzeit erhebliche Veränderungen ergeben. Vielfach fehlt heute bei den juristischen Kollegen das Verständnis für die personellen Voraussetzungen einer erfahrungswissenschaftlichen Kriminologie. So wurden am Kriminologischen Institut in Tübingen zugunsten anderer Lehrstühle der juristischen Fakultät bisher drei Assistentenstellen gestrichen und bei der Neubesetzung des Lehrstuhls fällt eine weitere Assistentenstelle den gleichen Gründen zum Opfer. Dennoch hat die Fakultät die Kriminologie in ihrem Strukturplan als Schwerpunkt akzeptiert. Dafür gebührt ihr Dank.

Die Chance dafür, dass in Zukunft die wenigen jüngeren juristischen Kriminologen, die sich intensiv mit der erfahrungswissenschaftlichen Kriminologie beschäftigt haben und einige jüngere Erfahrungswissenschaftler aus den Bezugswissenschaften vom Menschen, die die Fähigkeit hätten, eine erfahrungswissenschaftliche Kriminologie in Forschung und Lehre zu vertreten, auf einen kriminologischen Lehrstuhl berufen werden, stehen nicht sonderlich gut.  Man wird nur in Ausnahmefällen damit rechnen können, dass die Gruppe der Strafrechtler in einer juristischen Fakultät - im Gegensatz zu den Strafrechtskollegen in Tübingen - die Gelegenheit nicht beibehalten bzw. wahrnehmen will, durch die Besetzung eines kriminologischen Lehrstuhls mit einem Strafrechtler zugleich entsprechend entlastet zu werden. Dies ist menschlich, nur allzu menschlich; ob es der erfahrungswissenschaftlichen Kriminologie dienlich ist, bleibt dann die zweite Frage.

 

8. Ausblick

Insoweit ist der Ausblick auf die Kriminologie von morgen nicht gerade rosig. Die Kriminologie steht heute am Scheideweg. Will sie sich, nachdem sie nunmehr als selbständige Erfahrungswissenschaft konstituiert ist, weiterhin in dieser Richtung entwickeln, oder soll sie ein Anhängsel des Strafrechts mit entsprechend einseitigen Forschungen bleiben?

Ich könnte mir vorstellen - falls kein grundlegender Wandel bei den kriminologischen Fachvertretern bezüglich Lehre und Forschung und bei den Berufungsgepflogenheiten der juristischen Fakultäten eintritt -, dass es über kurz oder lang eine zweigespaltene Kriminologie gibt: eine juristische und eine, die von einer Erfahrungswissenschaft übernommen wird. Dies wäre keineswegs eine ermutigende Aussicht. Freilich hoffe ich zuversichtlich, dass die erfahrungswissenschaftliche Kriminologie, für die nicht zuletzt die Tübinger Kriminologie steht, trotz allem im Rahmen der juristischen Fakultäten  eine kraftvolle Fortentwicklung erfährt.

 

9. Schluss

Bitte erlauben Sie mir trotz der fortgeschrittenen Zeit, dass ich in dieser Abschiedsvorlesung meinen Ausführungen zum gegenwärtigen Stand der Kriminologie noch einige persönliche Worte anführe. Im Rückblick auf mein bisheriges Berufsleben möchte ich sagen: es war - trotz zahlreicher Entbehrungen und Überforderungen - wie man heute sagen würde - eine schöne Zeit, obgleich alles anders gelaufen ist, als ich es mir als junger Mensch einmal vorgestellt hatte.

Das Leben in der Gemeinschaft überhaupt hatte seinen Höhepunkt für mich während der Nachkriegsjahre, teils noch als Student, teils als Assistent an der Heidelberger Klinik, also während einer Zeit, zu der wir alle praktisch nichts hatten, zu der wir umsonst oder für 50 Mark bzw. später, verheiratet für 100 DM - dafür bekam meine Frau ihre bisherigen 50 Mark nicht mehr -, arbeiteten, kaum einmal unter 60 Stunden in der Klinik, wozu dann noch die Zeit für die wissenschaftliche Arbeit kam. Es war eine Zeit, in der eigentlich jeder für jeden einstand und man sich untereinander menschlich nahe war; eine geistig erfüllte Zeit, gewissermaßen vom Materiellen abgehoben. Wahrscheinlich war es nur vor diesem Hintergrund möglich, in kurzer Zeit zwei Studien nebeneinander zu absolvieren, zwei Studien, die ich seinerzeit mit der Überlegung in Angriff genommen hatte, dass ich aufgrund meiner Behinderung irgendwie ein Mehr bieten muss als andere, um später beruflich einigermaßen mithalten zu können. Als ich nach zahlreichen Operationen eine gewisse Aussicht sah, den von mir angestrebten Beruf des Arztes eine Tages doch auszuüben, begann ich mit viel Optimismus das Studium der Medizin und ließ dafür die Volkswirtschaft, die ich neben Jura zunächst als Zweitstudium angefangen hatte, fallen. Der Medizin blieb ich dann auch treu bis 1962. Jene Zeit der ärztlichen Tätigkeit war für mich eine glückliche Zeit. Ich hatte mit dem Menschen zu tun, konnte ihm als Arzt manches geben und - was häufig nicht erkannt wird - von ihm, dem Patienten, immer wieder so viel Zuwendung erfahren, dass ich die Strapazen jener Zeit kaum als solche empfand. Freilich wurde mir im Laufe meiner Bonner Zeit als Oberarzt der Nervenklinik auch bewusst, dass ich wohl kaum auf Dauer körperlich in der Lage sein werde, etwa eine Klinik oder ein Landeskrankenhaus zu leiten oder eine Praxis durchzustehen. So orientierte ich mich auf Kriminologie um und nahm dann den Ruf nach Tübingen mit Freuden an. Hier habe ich nun die längste Zeit meines Lebens verbracht. Ich wurde in eine Fakultät aufgenommen, die zu jener Zeit ihresgleichen in der Bundesrepublik suchte, und es entstanden zahlreiche tragfähige zwischenmenschliche Kontakte.

Mit dem Wechsel zur Kriminologie sah ich die Aufgabe, diese Wissenschaft weiterzuführen und dazu mein Erfahrungswissen, das ich als Psychiater gewonnen hatte, zur Verfügung zu stellen. Ich war nunmehr Kriminologe, und nur Kriminologe, und versuchte in meinen Forschungen, dieser Wissenschaft ein erfahrungswissenschaftliches Fundament zu geben. Es war wohl das erste Mal, dass ein reiner Erfahrungswissenschaftler voll als Kriminologe einstieg, was auch gar nicht verwunderlich ist, da die Kriminologie im Grunde ein Fach ist, in dem man kaum irgendwelche materiellen Schätze sammeln kann.

Freilich war die Arbeit mit dem Straffälligen eine ganz andere als vorher die mit dem psychisch Kranken. Wo hier Not und Suche nach Hilfe, der Drang im normalen Leben weiter zu bestehen, die Zuwendung zum Arzt brachte, waren es dort problematischere Aspekte, die die Begegnungen kennzeichneten. Allerdings war es das Anliegen des Instituts, die Straffälligen, mit denen wir einmal zu tun hatten, auch in Zukunft nicht allein zu lassen, ein Anliegen, das dann freilich weitgehend in die Hände der Sozialarbeiterin überging.

Das Gesicht des Instituts war geprägt von dem Bemühen um den Menschen, und ich kann nur mit großer Dankbarkeit an meine Mitarbeiter während der vielen Jahre zurückdenken, die mit wenigen Ausnahmen mit mir an einem Strang zogen und schließlich zu einer ganz spezifischen menschlichen Atmosphäre in der Corrensstrasse beitrugen. Jeder fühlte sich eingebunden und, welche Probleme auch immer an ihn herantraten, nicht allein gelassen.

Von einer ähnlichen Atmosphäre waren anfangs auch meine Beziehungen zu den Studenten geprägt, deren Zuwendung und Vertrauen mir unendlich viel gaben und den Verlust der Kranken im täglichen Leben beinahe vergessen ließen. Die Kriminologie war damals noch kein Prüfungsfach, das Auditorium wurde im Laufe der ersten Zeit immer größer, bis schließlich das Audimax fast aus den Nähten platzte, so dass ich mich dann zu einer gewissen Umgestaltung der Vorlesungen entschloss, um aus der Masse ausscheidend dem einzelnen Studenten wieder etwas näher zu sein.

Einen großen Einbruch brachten die Studentenunruhen, bei denen sehr schnell zu erkennen war, dass es sich nicht um Modeerscheinungen handelte, wie bei verschiedenen Jugenderscheinungen früherer Zeit, sondern dass sich relativ bald handfeste politische Interessen herauskristallisierten. Ich machte die Erfahrung, dass wenige entsprechend aggressive Menschen, die zudem nicht einmal zu meinen Hörern gehört hatten, eine ganze Vorlesung stören und zerschlagen konnten, und es war eine Erfahrung, dass die Masse sich nicht dagegen wehrte. Aber auch das Verhalten mancher Kollegen an den Universitäten, das plötzliche Einschwenken auf die neue moderne Richtung, musste verarbeitet werden.

Während ich selbst bis zu dieser Zeit der Studentenunruhen eher als fortschrittlich und zu liberal galt und meine Anliegen teilweise mit Stirnrunzeln verfolgt wurden, galt ich danach, jedenfalls während der ersten Zeit, fast als Prototyp des Reaktionärs, obwohl sich nichts, aber auch gar nichts der von mir vertretenen Auffassung von Kriminologie und Studium usw. geändert hatte. Die Lenkbarkeit der Massen wurde mir ebenso vor Augen geführt wie die Macht des Zeitgeistes, der scheinbar fundierte Werte  in kurzer Zeit umzupflügen vermochte. Es war für mich unfassbar, dass Einstellungen zum Leben, wie wir sie bei unserer Straffälligengruppe bevorzugt vorgefunden hatten, nun plötzlich - in verdünnter Form zwar - den mündigen Bürgern - wie es damals hieß - anempfohlen wurden.

Ich erlebte, wie eine große Gemeinschaft, ein weitgehend grundsätzlicher Konsens nicht nur an den Universitäten, sondern überhaupt in der Gesellschaft, durch hart vorgetragene Polarisierungen zertrümmert werden konnte. Ein Freund-Feind-Denken machte sich breit, wie ich es in ähnlicher Form während der vorhergegangenen 23 Jahre nach Kriegsende nicht erlebt hatte.

Die Lehrveranstaltungen wurden vielfach zur Qual; statt konstruktiver Kritik wie zuvor ging es bei manchen Studenten um Destruktion und Durchsetzung bestimmter Ideologien. Dennoch waren es innerhalb des beruflichen Bereiches neben den meisten Mitarbeitern sowie Kollegen auch immer wieder gerade Studenten, die mir die Liebe zum Beruf bewahrten. Und ich sehe es geradezu als ein Geschenk an, dass ich es in den letzten Semestern wieder mit jungen Menschen zu tun hatte, die aufgeschlossen und kritisch, wenn auch in den Formen verhältnismäßig unkompliziert waren, was schließlich zum Teil wieder zu einer ähnlichen Gemeinsamkeit und auch Verbundenheit führte, wie ich sie zu Beginn meiner Lehrtätigkeit in Tübingen so schätzte. Dafür bin ich gerade Ihnen, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, die Sie in den letzten Semestern meine Hörer waren, ganz besonders dankbar.

Ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft von Herzen alles Gute. Seien Sie auf der Hut vor Ideologien jeder Art und vor denen, die sie vertreten und versuchen, Ihren Idealismus, der Sie als junge Menschen auszeichnet, für Ihre Zwecke zu missbrauchen. Messen Sie diese Menschen an deren eigenem Verhalten und bisherigem Leben und messen Sie die Ideologien an den Möglichkeiten des realen Lebens. Sehr schnell wird dann die Diskrepanz zwischen Sein und Schein sichtbar und die Ihnen vorgegaukelte Fata Morgana als solche entlarvt. Denken Sie daran, dass es für die Ideologie einen Todfeind gibt, die Wirklichkeit und die Erfahrung, die sie demaskiert.

Lassen Sie sich nicht durch Parolen bezüglich der aussichtslosen Zukunft der Jugend entmutigen. Jede Jugend hat zu allen Zeiten ihre Probleme gehabt und sie bewältigt. Finden Sie Ihren Weg zu einer eigenen starken Persönlichkeit, die ethischen Werten unserer abendländischen Kultur verpflichtet ist, die zur Zeit zwar bisweilen in Frage gestellt werden zugunsten irgendwelcher ach so bequemer Aspekte, die aber dennoch allein die Basis jedes wahrhaft menschlichen Seins darstellen. Nur ein Mensch mit klaren Wertvorstellungen wird seinen Weg machen. Ohne diese ist er ein Spielball der Meinungen und Einflüsterungen anderer, ein Schiff ohne Steuer. Ich wünsche Ihnen Erfüllung in Ihrem Leben - beruflich und persönlich. Warten Sie nicht auf die Hilfe anderer oder der Institutionen, sondern packen Sie Ihr Leben selbst an. Helfen Sie dabei, die Welt zu ändern - nicht durch fanatische Proteste oder Forderungen nach radikalen Umwälzungen -, sondern in Ihrem Umfeld durch Ihr Vorbild. Bewahren Sie sich einen realistischen Idealismus. Ich selbst glaube an Sie und möchte Ihnen vertrauen.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen.

Wenn man sich mit dem Menschen befasst, ist es unausbleiblich, dass auch menschliche Enttäuschungen eintreffen. Davon blieb auch ich nicht verschont, sondern wurde und bin teilweise tief betroffen. Doch das gehört nun einmal zum Leben.

Freilich - und dies meine ich, ist etwas Beglückendes - bin ich nur wenigen Menschen begegnet, bei denen sich nicht irgendwelche liebenswerten Züge, teilweise jedoch verschüttet oder abgedrängt, fanden, bei denen es sich nicht gelohnt hätte, auf sie einzugehen. Ein Berufsleben lang mit Menschen umzugehen, vermittelt Reichtum. Ein Berufsleben mit Menschen macht aber auch empfindlich gegen Verallgemeinerungen, die nichts als Nivellierung und letztlich Degradierung des einzelnen Menschen bedeuten. Vielleicht liegt darin die Wurzel meiner Aversion gegen jene kriminologischen Auffassungen, die eben am Menschen, über den sie Urteile abgeben, vorbeigehen. Ich erinnere mich sehr wohl an die Empörung zahlreicher unserer Vergleichsprobanden aus der Durchschnittsbevölkerung, die aus der sogenannten Unterschicht stammten, über die Ausführungen in den Medien bezüglich des Zusammenhangs zwischen Unterschicht und Kriminalität. Sie waren für diese Menschen schlechthin beleidigend. Daher bitte ich um Verständnis dafür, dass jene Auffassungen für mich ein Ausdruck grenzenloser Gedankenlosigkeit und Menschenverachtung bei denjenigen sind, die sie vertreten. Den individuellen Menschen zu achten, gebietet uns Kriminologen unsere Wissenschaft. Tut man dies, dann kann man ihn nicht einfach nivellieren. Sie fordert aber ebenso unsere Mitmenschlichkeit. Diese zu erfahren, die gegenseitige Achtung und selbstlose menschliche Zuwendung, um der Zuwendung willen, während der vielen Jahre in meinem Umfeld zu spüren, war beglückend. Und so kann ich sagen: trotz aller Schwierigkeiten und Enttäuschungen, die zu bewältigen waren, waren es glückliche Berufsjahre, die ich in Tübingen verbracht habe und die mich zugleich zu Vorträgen in viele Länder unserer - trotz allem - schönen Erde führten.

Die private Seite klammere ich heute bewusst aus bzw. beschränke mich auf den Satz, dass mein berufliches Leben nicht die Erfüllung gebracht hätte, wenn mir nicht stets meine Frau rückhaltlos zur Seite gestanden wäre und wenn meine Kinder während jener unruhigen Zeit keine so klare Haltung gezeigt hätten.

Wenn ich mich heute als amtierender Hochschullehrer von Ihnen verabschiede, dann verbindet sich mit diesem Abschied mein aufrichtiger Dank an alle diejenigen, die mich als Weggefährten während jener Jahre vorübergehend oder auch durchgängig begleitet haben.