Institut für Kriminologie

Institut und Lehrstuhl: Entwicklung im Überblick

Das Institut für Kriminologie (IfK) wurde 1962 an der Eberhard Karls Universität in Tübingen als erstes deutsches kriminologisches Forschungsinstitut gegründet. Entsprechend der in Deutschland traditionellen Verbindung der Kriminologie mit der Rechtswissenschaft gehört das Institut organisatorisch zur Juristischen Fakultät der Universität Tübingen. Aufgabe des Instituts ist die Forschung im Bereich der Kriminologie. Gründer, erster Institutsdirektor und Ordinarius für Kriminologie war Hans Göppinger. Er leitete das Institut von den Anfängen bis zum September 1986. Aufgrund seiner Doppelausbildung repräsentierte er sozusagen in Personalunion jene beiden Gebiete, durch die in Deutschland bis in die 70er Jahre hinein die Kriminologie vorrangig geprägt wurde: das Strafrecht und die Psychiatrie.

Die Gründung des Tübinger Instituts fiel in eine Zeit, zu der der Kriminologie noch kein gesicherter Platz im Kreis der Wissenschaften eingeräumt worden war. Vor diesem Hintergrund stellte die Aufnahme der wissenschaftlichen Tätigkeit des Instituts insofern eine Neuerung dar, als dass einerseits weitere Disziplinen (Psychologie, Soziologie, Sozialpädagogik) miteinbezogen wurden und andererseits der üblicherweise auf die jeweilige Bezugswissenschaften beschränkte Forschungsansatz in der Kriminologie durch ein interdisziplinäres und letztlich spezifisch kriminologisches Vorgehen ersetzt wurde.

Den Forschungsschwerpunkt der Ära Göppinger stellte die „Tübinger-Jungtäter-Vergleichsuntersuchung“ (TJVU) dar mit dem Ziel, überhaupt erst einmal Grundlagenwissen über den Straftäter als Einzelperson zu erlangen. Dies geschah vorwiegend mithilfe von qualitativ ausgerichteten und zugleich sehr umfangreichen wie detaillierten Einzelfalluntersuchungen. Damit sollte eine ganzheitliche Betrachtung des „Täters in seinen sozialen Bezügen“ ermöglicht werden. Aus den durch diese Untersuchung gewonnenen Erkenntnissen wurden letztlich sowohl Ableitungen für die Wissenschaftskonzeption der Kriminologie insgesamt als auch für die Praxis der Strafrechtspflege („Angewandte Kriminologie“) getroffen. Parallel zu den Einzelfallerhebungen wurden für alle Probanden der TJVU, mit Hilfe von verschiedenen Erhebungsbögen, vielfältige quantitative Merkmale anhand von unterschiedlichen Quellen erfasst, beispielsweise von Akten (etwa zur Heimerziehung, zu Strafverfahren, zur Strafvollstreckung, zum Jugendstrafvollzug, zum allgemeinen Strafvollzug), von Auszügen aus Registern oder anderen amtlichen Auskünften. Damit sollte es auf der einen Seite ermöglicht werden, qualitative und quantitative Befunde miteinander zu vergleichen; auf der anderen Seite sollte durch die Art und Weise der in den Erhebungsbögen aufgenommenen Items geprüft werden können, ob und inwieweit die damals gängigen kriminologischen Theorien aus der Perspektive einer Erfahrungswissenschaft spezifische Erklärungskraft beanspruchen konnten.

Von Oktober 1986 bis September 2011 leitete Prof. Dr. Hans-Jürgen Kerner, ein ehemaliger Schüler des ersten Institutsdirektors, das Institut. Der damalige Wechsel führte sowohl zu einer Spektrumserweiterung als auch zu einer Neuorientierung.

Der Tradition Göppingers folgend wurde, was die täterorientierte Forschung anbelangt, eine Folgeuntersuchung der ehemaligen Probanden der Tübinger-Jungtäter-Vergleichsuntersuchung zwischen 1987-1995 durchgeführt. Ziel dieser Folgeuntersuchung war es, den weiteren Lebensweg der Probanden samt etwaiger (erneuter) Straffälligkeit bis teilweise in das 5. Lebensjahrzehnt hinein zu verfolgen, um unter anderem Schlussfolgerungen in Bezug auf Rückfälligkeit im Langfristverlauf allgemein ziehen zu können.

Die Spektrumserweiterung bestand darin, dass die TJVU stärker international „verortet“ wurde. Der Datenbestand der TVJU wurde mit anderen Methoden neu aufbereitet und in Beziehung zu anderen internationalen Verlaufsstudien gesetzt, nachdem deren Datenmaterial auch erneut analysiert worden war. Somit war der Weg frei für eine vergleichende Betrachtung.

Ebenso konnten daraus neue Fragestellungen entwickelt und überprüft werden. Dazu gehörte etwa die Untersuchung zur Unterschiedlichkeit von Kriminalitätsverläufen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter und deren Entwicklungsdynamik in Abhängigkeit von sozialer Einbindung und etwaigen Wandlungen im Selbstkonzept. Weiter interessierte der Zusammenhang zwischen Viktimisierung und Täterschaft im Lebensverlauf. Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang grundsätzlich eine dynamischere Betrachtungsweise, im Rahmen derer nun also auf Kontinuität und Veränderung von Kriminalität als sozusagen verschiedene Seiten derselben Medaille fokussiert wird.

Die Neuausrichtung der Ära Kerner zeigte sich schließlich in der Zuwendung zu völlig anderen Themenbereichen:

In Folge des Niedergangs der DDR bot sich an, den Transformationsprozess von einer zentral organisierten Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu einem freiheitlichen System wissenschaftlich zu begleiten. So wurde zusammen mit Wissenschaftlern anderer kriminologischer Institute der Bundesrepublik ein groß angelegtes Forschungsprojekt zum sozialen Umbruch und dessen Auswirkungen auf Kriminalität durchgeführt.

Weitere Forschungsarbeiten beschäftigten sich mit den Bereichen Prävention, Verfolgung und Sanktionierung von Kriminalität. In zwei Bürgerbefragungen (Tübingen und Aalen) beispielsweise wurden das Sicherheitsgefühl und die subjektiv wahrgenommene Kriminalitätslage ebenso wie Vorschläge zur Verbesserung der Sicherheit eruiert. Die Frage, wie mit Blick auf rechtsextremistische und fremdenfeindlich gesinnte Gewalttäter Erfolg versprechende Präventionsbemühungen aussehen könnten, war der Ausgangspunkt einer weiteren Präventionsstudie. Wissenschaftlich von Interesse war darüber hinaus in diesem Zusammenhang noch, ob diese Art der Taten phänomenologisch betrachtet den im angloamerikanischen Raum viel diskutierten „Hate Crimes“ entspricht und ob damit eine Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse überhaupt möglich ist.

Am IfK wird seit 1993 die bundesweite TOA-Statistik geführt, bei der es um Datenerhebungen zur Praxis von Täter-Opfer-Ausgleich, Konfliktschlichtung und Schadenswiedergutmachung im Bereich des Allgemeinen Strafrechts und des Jugendstrafrechts geht, woraus sich letztlich Folgerungen für Wissenschaft, Praxis und Rechtspolitik ableiten lassen.

Weitere Studien befassten sich mit der wissenschaftlichen Begleitung von Modellprojekten, die neue Ansätze im Umgang mit bzw. in der Behandlung von jungen Straftätern prüfen: Zum einen den „Jugendstrafvollzug in freien Formen“ als Alternative zum herkömmlichen Jugendstrafvollzug, zum anderen ein Nachsorgeprojekt, bei dem es um die intensive Betreuung von zu einer Freiheitsstrafe verurteilten jungen Strafgefangenen geht, die ohne anschließende Bewährung entlassen wurden („Übergangsmanagement“). Auch die freie Straffälligenhilfe als eine Institution, die Unterstützung für die Straftäter und ihre Angehörigen bereitstellt, wurde einer Analyse unterzogen, um Entwicklungstendenzen und Veränderungsprozesse aufgrund des Rückbaus des Sozialstaats sowie Veränderungen in der Sozialarbeit (Stichwort: „Ökonomisierung“) zu untersuchen.

Mit Themen zur Jugendkriminalität beschäftigen sich mehrere Projekte, teilweise im Verbund mit ausländischen Wissenschaftlern: Eine Studie zur Jugendgewalt fokussierte primär auf biographische Aspekte und auf die subjektive Bedeutung von Gewalt bei unterschiedlichen Befragtengruppen.

Eine weitere Untersuchung widmete sich der Fragestellung, welche internen und externen Faktoren und Prozesse speziell bei der Gruppe jugendlicher Aussiedler Delinquenz bzw. soziale Integration begünstigen. Weitere Studien erforschten bei jugendlichen Mehrfachtätern die Hintergründe und Bedingungen, die zum Abbruch einer kriminellen Karriere führen können oder eine Reintegration möglich machen. Zu Gangs wurden auch Forschungsarbeiten durchgeführt, vor allem unter dem Aspekt der Berücksichtigung und des Vergleichs von länderspezifischen Besonderheiten. Inhaltlich war insbesondere von Interesse, welche Motivation für den Anschluss an eine Gang auszumachen ist und welche Bedeutung und Funktion die Gruppe für ihre Mitglieder innehat.

Eine Reihe von Forschungsarbeiten legte den Schwerpunkt der Bemühungen noch dezidierter als manch andere Studien der IfK auf die Subjektseite einer Person. Gemeint ist damit, dass man sich mit Einstellungen und Werten wissenschaftlich auseinandersetzt, wobei es nicht immer nur um die Bezugnahme zur Straffälligkeit geht. So wurde z. B. das Kriminalitätsverständnis von Kindern und Jugendlichen erforscht, wobei es sich zentral um die Fragestellung handelt, wie nach deren Auffassung Recht und Unrecht zu definieren ist.

Die subjektive Wahrnehmung und Einstellungen von Jugendlichen, die strafrechtlich relevante Auffälligkeiten gezeigt haben und deshalb mit unterschiedlichen Reaktionen / Sanktionen belegt werden sind, sind Gegenstand einer weiteren Untersuchung. Konkret geht es darum, wie gerade diese Jugendlichen staatliche und nichtstaatliche (informelle) „Reaktionen“ bewerten.

Weitere Untersuchungen des IfK in der Ära Kerner widmeten sich schließlich dem Themenkomplex von „Werten und Religiosität“ im Zusammenhang mit Delinquenzbereitschaft einerseits und dem Einfluss sozialer Milieus andererseits.

Eine Übersicht zu den aktuellen Forschungsprojekten finden Sie unter folgendem Link

Seit dem 1. Oktober 2011 wird das Institut für Kriminologie durch Prof. Dr. Jörg Kinzig geleitet.