Zusammenfassung des Vorhabens
In autokratischen Systemen kommt denjenigen, denen es gelingt, die Entscheidungen und Einstellungen des Machthabers zu beeinflussen, ebenfalls Macht zu. Dieser evidente, aber wenig erforschte Zusammenhang lässt sich besonders gut in der Spätantike untersuchen, in der sich wichtige Rahmenbedingungen von Einflussnahme infolge von politischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Umbrüchen veränderten. Nachdem das römische Reich im Zuge der sog. Völkerwanderung in zwei Hälften zerbrochen war, lebte das Kaisertum im byzantinischen Osten fort; im Westen traten germanische Könige auf. Das Ohr des Herrschers versuchten viele zu gewinnen: vom Hofeunuchen, der dem Kaiser besonders nah war, bis zum Bischof, den die Christianisierung auf den Plan brachte. Die Folge war scharfe Konkurrenz, die zu Konflikten führte und ein polemisches Schrifttum beförderte. Meist war es die Sicht des Stärkeren, die in die Geschichte einging.
Diese Einflussnehmer sind nicht gut erforscht, da sie einen heterogenen Personenkreis bildeten, der sich weder ganz über Institutionen noch allein über die Nähe zum Herrscher greifen lässt. Sie verfügten zudem über Mittel, die nicht nur Worte, sondern auch Gesten umfassten. Tendenziöse Quellen, die bestimmte Einflussnehmer mit Rollenbildern (z.B. Warner vs. Verführerin), Einflussnahme mit Ordnungsvorstellungen (z.B. Religion) und ihre Repräsentation mit Erzählmustern (z.B. guter Herrscher/ schlechter Ratgeber) überzeichnen, wurden lange von der Forschung fortgeschrieben oder gänzlich verworfen. Bis heute hat die Untersuchung von Einflussnahme in ihrer praktischen und diskursiven Dimension weder in der Alten Geschichte noch in der Mediävistik Tradition.
Das vorliegende Projekt adaptiert erstmals eine sozialpsychologische Heuristik (B. Ravens Power/ Interaction Model of Interpersonal Influence), um die Ressourcen und Strategien der Einflussnehmer sowie die Modi und Bedingungen der Einflussnahme zu analysieren. Dadurch lassen sich überkommene Dichotomien, in denen Einflussnahme oft gedacht wurde und wird, wie männlich/ weiblich, heidnisch/christlich, römisch/germanisch überwinden. Gleichzeitig soll die Überzeichnung der Akteure und Interaktionen mit den Mitteln der Diskursanalyse herausgearbeitet werden. Indem die Interdependenz von historischem Akteur, gesellschaftlichem Stereotyp und literarischer Figur aufgezeigt wird, lässt sich zwischen tatsächlichen und wahrgenommenen Machtverschiebungen unterscheiden. Durch die zeitliche und räumliche Staffelung der Teilprojekte (284-395, 395-565 Osten, 395-568 Westen) lässt sich ferner prüfen, inwieweit die Einflussnahme und ihre Diskurse mit den angesprochenen Umbrüchen korrelieren. Ihre historische und kulturelle Bedingtheit wird so illustriert. Ziel ist es, Einflussnahme als Gegenstand der historischen Betrachtung zu etablieren und durch die Untersuchung des (angeblichen) Einflusses auf Herrscher einen wichtigen Beitrag zu Politik- und Mentalitätsgeschichte zu leisten.
Weitere Informationen auf academia.edu und in unserem Blog.
Ergebnisse
Das Projekt, das die DFG von 2015 bis 2022 im Emmy Noether-Programm gefördert hat, untersuchte den Einfluss, den christliche Akteure auf spätantike Kaiser hatten. Die drei Teilprojekte, die zeitlich und räumlich gestaffelt waren (284-395 ganzes Reich, 395-565 Osten, 395-568 Westen) wurden im Kern von Fabian Schulz, Maurits de Leeuw und Kamil Choda bearbeitet. Die Mitarbeiter haben während der Förderdauer zwei Dutzend Vorträge auf wissenschaftlichen Tagungen und Kolloquien gehalten sowie mehrere Workshops und Tagungen veranstaltet. Zudem hat die Gruppe eine Reihe von Publikationen vorgelegt: einen Sammelband und dreizehn Aufsätze sowie zwölf Rezensionen und populärwissenschaftliche Beiträge. Schließlich haben beide Doktoranden ihre Dissertation eingereicht. Durch seine Aktivitäten hat das Emmy Noether-Projekt vier Ziele erreicht: Erstens hat es klarer konturiert, welchen faktischen Einfluss christliche Akteure zumal Bischöfe und Mönche auf die Entscheidungsfindung und Meinungsbildung spätantiker Kaiser hatten. Zweitens hat es die diskursive Dimension von Einflussnahme auf den Herrscher herausgestellt, indem die Überformungen der Einflussnehmer (z.B. durch Feindbilder, Geschlechterrollen und Leitfiguren), der Einflussnahme (z.B. durch Ordnungsvorstellungen und Wissenstraditionen) und ihrer Repräsentation (z.B. durch Erzählmuster wie „guter Kaiser“/ „schlechter Ratgeber“) herausgearbeitet wurden. Drittens hat es gezeigt, wie stark die Einflussnahme und die Diskurse über Einflussnahme von strukturellen Entwicklungen der Herrschaft abhängig waren (wie Kindkaiser und Residenzbildung). Durch die Rezeption und Weiterentwicklung eines sozialpsychologischen Modells (Bertram Ravens „Power/ Interaction Model of Interpersonal Influence“) ist viertens ein Instrument zur Untersuchung von interpersoneller Einflussnahme in die Geschichtswissenschaft eingeführt worden, das sich auf verschiedene Situationen und Konstellationen anwenden lässt.