Philologisches Seminar

Fiktion

Im Englischen dient fiction zur Bezeichnung von narrativen Texten, in einer erweiterten Verwendung werden darunter auch künstlerische Ausdrucksformen in anderen Medien wie Film, Theater, Comic oder Video-Games verstanden. Die Begriffsbestimmungen von Narrativität und Fiktion sind jedoch nicht deckungsgleich, weil die Narratologie nach den Strukturen von Texten (und anderen Medien) fragt, während für die Fiktionstheorie der Wahrheits- bzw. Geltungsanspruch im Vordergrund steht (Ryan 2007, 32–33).

Terminologisch kann man die Begriffe fiktional und fiktiv mit Wolf Schmid so verwenden, dass Fiktionalität sich auf den Status des Textes bezieht, Fiktivität dagegen auf das, was innerhalb eines fiktionalen Textes dargestellt wird ("Ein Roman ist fiktional, seine dargestellte Welt fiktiv”; Schmid 2014, 31). Der Fiktionalität entspricht dann als Gegenbegriff das Faktuale, dem Fiktiven wiederum das Reale. Texte wie IliasOdyssee und Aeneis sind in diesem Sinne fiktionale Texte und die in ihnen erzählten Objekte fiktive Objekte, während Gesetzestexte faktual sind und die zugehörigen Objekte wie Orts- und Zeitangaben real. Aber was macht einen Text zu einem fiktionalen Text? Gibt es, wie Käthe Hamburger und andere postulieren, textinterne Marker, die einen fiktionalen Textstatus etablieren? Oder handelt es sich um einen prätendierten Sprechakt im Sinne von John Searle, der die Existenz textinterner Markierungen verneint (“[there is] no textual property, syntactical or semantic, that will identify a text as a work of fiction”, 1975, 325). Folgt man Searle, wird der fiktionale Textstatus einzig durch textexterne Kommunikationsbedingungen festgelegt. Die Thesen von Searle, aber auch von anderen Theoretikern wie Iser weisen Berührungspunkte zu Konstruktionen eines ‘Als-ob’ auf, wie sie aus Hans Vaihingers gleichnamiger Philosophie bekannt sind. Relevant wird Fiktionalität  unter anderem in solchen Genres und Texten, die multiple Deutungen erlauben, wie z. B. die Briefkorrespondenz Plinius’ des Jüngeren, die sowohl faktual als ‘echte’ Kommunikation als auch fiktional im Sinne reiner Buchliteratur aufgefasst worden ist.

Durch die Possible Worlds Theory (PWT) hat die Fiktionalitätsdebatte seit den 1970er Jahren zusätzliche Impulse erhalten. Ursprünglich aus der analytischen Philosophie stammend (Rudolf Carnap, Saul Kripke), ist das Modell durch David Lewis, Umberto Eco, Thomas Pavel, Uri Margolin, Ruth Ronen, Marie-Laure Ryan und andere für die Analyse narrativer Texte herangezogen worden. Die PWT-Theorie ist unter anderem deshalb so interessant, weil sie die ‘Wahrheitsfrage’ von der Grenze zwischen fiktionaler und nicht fiktionaler Welt (borders of fiction) verschiebt und nun innerhalb der fiktionalen Welt lokalisiert. Wie steht es mit den Wünschen, Träumen, Hoffnungen und Befürchtungen von Figuren, die sich innerhalb einer erzählten Welt nicht realisieren, im Verhältnis zu dem, was in der erzählten Welt ’tatsächlich’ passiert? Gerade für die emanzipatorisch ausgerichteten Romane der Moderne hat das Modell Anwendung gefunden (Gutenberg 2000 zu Romanen wie Doris Lessings The Summer before the Dark), es ist aber ebenso relevant für die Analyse antiker Texte wie Ovids Tristia, in dem das Wunschdenken des dichterischen Exil-Ichs ‘Ovid’ diesen in die ihm verbotene urbs Roma versetzt.

Artikel Fictionality im Living Handbook of Narratology

Infografik Texttypen (Fiktionale und faktuale Texte)

Literatur zum Thema (Auswahl)

Einführende Literatur:
  • Schmid, Wolf (2014), Elemente der Narratologie, Berlin, Boston: De Gruyter, 31–44.

  • Surkamp, Carola (2002), Narratologie und possible-worlds theory. Narrative Texte als alternative Welten, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, 153–183.
  • Zipfel, Frank (2001), Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Erich Schmidt.
Weiterführende Literatur:
  • Eco, Umberto (1979), The Role of the Reader. Explorations in the Semiotics of Texts, Bloomington u.a.: Indiana University Press, 200–260.

  • Feddern, Stefan (2018), Der antike Fiktionalitätsdiskurs, Berlin, Boston: De Gruyter.

  • Gutenberg, Andrea (2000), Mögliche Welten. Plot und Sinnstiftung im englischen Frauenroman, Heidelberg: Winter.

  • Hose, Martin (1996), Fiktionalität und Lüge. Über einen Unterschied zwischen römischer und griechischer Terminologie, in: Poetica 28, 257–274.

  • Kirstein, Robert (2015), Ficta et Facta. Reflexionen über den Realgehalt der Dinge bei Ovid, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 60/2, 257–275.
  • Konstan, David (1998), The Invention of Fiction, in: Ronald F. Hock/J. Bradley Chance/Judith Perkins (Hrsg.): Ancient Fiction and Early Christian Narrative, Atlanta: Scholars Press, 3–17.
  • Pavel, Thomas G. (1986), Fictional Worlds, Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

  • Ronen, Ruth (1994), Possible Worlds in Literary Theory, Cambridge u.a.: Cambridge University Press.

  • Ryan, Marie-Laure (2007), Toward a Definition of Narrative, in: David Herman (Hrsg.), The Cambridge Companion to Narrative, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 22–35.