Die 'transgenerische' Ausweitung der Narratologie (Nünning/Nünning 2002) nimmt zunehmend auch kleine Formen literarischer Texte in den Blick. Dazu gehören etablierte Textsorten wie z.B. lyrische Gedichte, Epigramme und Elegien, die sich konzeptionell von klassischen Großnarrativen unterscheiden und deshalb auf den ersten Blick nicht zu den typischen Untersuchungsgegenständen der Narratologie zählen. Gerade moderne Medien begünstigen die Entwicklung neuer kleiner Formen wie z.B. die der sogenannten 'Six-Word Stories' (Fishelov 2019).
Aber was ist eine 'kleine Form'? Aktuelle Debatten vermeiden starre Definitionen und bevorzugen dynamische Konzepte, in denen gleichermaßen quantitative wie qualitative Kriterien Berücksichtigung finden (Jäger 2020). Weitere Aspekte sind: (1) 'Kürze' und 'Kleinheit' lassen sich oft vor allem relational im Abgleich mit literarischen Großformen bestimmen. (2) Kleine Formen zeichnen sich durch Merkmale wie Dichte und Komprimierung aus, und lassen sich in ihrer reziproken Konfiguration auch unter dem Gesichtspunkt literarischer Ökonomie analysieren. (3) 'Kleine Formen' enthalten oft eine dezidiert praxeologische Komponente, wenn sie aus konkreten "Verkleinerungsoperationen" enstanden sind, die sich aus ökonomischen oder anderweitigen "Nutzenerwägungen" ergeben haben (Jäger et al. 2020, 6).
Zu den kleinen Formen gehören neben den schon genannten Textsorten auch die bukolischen Gedichte des hellenistischen Dichters Theokrits (Εἰδύλλια, Eidyllia = ‚kleine Formen‘) und die Gedichte seines römischen Nachfolgers Vergil (Eklogen). Auch hier könnte man von einer Verkleinerungsoperation sprechen, aber eher in einem ästhetischen Sinne, denn eine wesentliche Referenzgattung für die Entstehung der Bukolik liefern die Epen Homers, mit denen sie sich die metrische Form des Hexameters teilen. Klein ist bei diesen neuen Gedichten nicht nur ihr Umfang, sondern sie widmen sich zugleich auch kleinen Themen, wie der Lebenswelt einfacher Berufe (Hirten), und grenzen sich damit von der heroisch und aristokratisch geprägten Sphäre von Epos (und Tragödie) ab. Dort, wo mythologische Themen behandelt werden, erfahren Figuren wie Herakles Umdeutungen, indem sie etwa in Ihrer Rolle als Kinder und nicht in der von erwachsenen Helden gezeigt werden (Theokrit, Idyll 24). Der Reiz dieser Dichtung entsteht allerdings durch eine Vielzahl von Brechungen und Ambiguitäten, denn auch Theokrit und Vergil integrieren Herrscherfiguren wie Ptolemaios oder Augustus mal implizit, mal explizit in ihre Dichtungen. Theokrits Idyll 7 und Ovids Elegie Amores 1.5 enthalten jeweils eine Ich-Erzählung, die ein vergangenes Erlebnis thematisiert. Auch dies ist unter dem Aspekt kleiner Formen bemerkenswert, denn solche retrospektiven Ich-Erzählungen sind sonst eher als Teilelemente großnarrativer Werke wie Odyssee (Bücher 9-12 und Aeneis (Bücher 1-2) bekannt (Hunter 1999, 144).