Deutsches Seminar

19. Nachwuchsforum: Tübingen 2013

Gattungstypik und ihre Grenzen: Tübingen, September 2013

Am 28. und 29. September 2013 traf sich das Mediävistische Nachwuchsforum in Tübingen zu seinem mittlerweile 19. Austausch. Das Programm war bunt gemischt und reichte von der klassischen Vorstellung des Dissertationsprojekts über die Diskussion von Tagungsvorträgen und Editionsprojekten.

GUDRUN FELDER (Köln) bot einen Editionsbericht aus dem Bereich der Versnovellistik und stellte die verschiedenen Redaktionen der Heidin zur Diskussion – eine Erzählung, an der man die Varianz der Überlieferung besonders gut demonstrieren kann. In einer Synopse wurden die einzelnen inhaltlichen Partien der verschiedenen Redaktionen bzw. Handschriften kartographiert, wobei für Redaktion II, die bis zu 2600 Verse umfasst, diskutiert wurde, inwiefern die Überlieferung eine Aufspaltung in zwei eigenständige Redaktionen rechtfertigen könnte. Ebenfalls in den Bereich der Kurzerzählungen führte die Vorstellung eines Editionsprojekts des Meerwunders durch NORA ECHELMEYER und ANJA BRAUN (Stuttgart). Die Bastardgeschichte im Berner Ton ist im Dresdner Heldenbuch (letzte Hälfte 15. Jh.) überliefert, und für die elektronische Ausgabe des wenig bekannten Textes ging es in der Diskussion um einzelne editorische Entscheidungen wie etwa den a-o-Ausgleich und um die Abgrenzung und Profilierung des neuen Web-Projekts gegenüber den älteren Papiereditionen.

Mit dem Titel „Jungfrau, Frau und Witwe. Geistlich? Weltlich? Märe?“ gehörte auch die Projektvorstellung von MATTHIAS KIRCHHOFF (Stuttgart) zum Spektrum der Versnovellistik. Am Beispiel der kurzen Erzählung „Von einer Jungfrauen“, die von Fischer als Grenzfall aus dem Märenkorpus ausgeschlossen wurde, wurden die vielfältigen Übergänge zwischen geistlichen und weltlichem Diskurs, zwischen der Suche nach dem Weg zum Seelenheil und einer humoristischen Konstellation zwischen abgeklärtem Pfaffen und leichtgläubigem Mädchen herausgearbeitet und an die Gattungsdiskussion der Märenforschung angebunden. Im Bereich der geistlichen Literatur präsentierte JANINA SOLLBACH (Tübingen) in ihrer Projektvorstellung die Offenbarungen der Christine Ebner, eine frauenmystische Offenbarungsschrift aus dem frühen 14. Jh., in einem sprechakttheoretischen Zugriff. An den Dialogen zwischen Gott und der Seele wurde mit den Kategorien von Austin, Searle und Wunderlich gezeigt, wie sich die Güte Gottes gegenüber der fordernden Seele in einem ungleichen Sprachhandeln manifestiert.

In das Forschungsfeld zu Körperlichkeit und Emotion führte der Vortrag von PAMELA KALNING (Heidelberg), die unter dem Stichwort der gemischten Gefühle die Mehrdeutigkeit von Körperzeichen als Ausdruck von Emotionen in der Literatur des Mittelalters analysierte. Besonders interessant waren dabei Konstellationen, in denen sich einander widersprechende Emotionen nicht nacheinander, sondern gleichzeitig in einer Figur realisieren und im literarischen Medium zur Darstellung gebracht werden. Um ein Nebeneinander verschiedener innerer Zustände und Haltungen ging es auch im Beitrag von SANDRA LINDEN (Tübingen), die für die Gattung Minnerede das schwierige Nebeneinander von liebendem und lehrendem Ich, von affektiver Einbindung und lehrhafter Distanz in der Rede von der Minne diskutierte. Es konnte gezeigt werden, wie vor allem die erzählenden Minnereden etwa über die Einführung von Personifikationen oder hilfreichen Nebenfiguren Strategien entwickeln, um das problematische Ineinander von lehrhaftem und affektivem Sprechen in der Ich-Darstellung zu entschärfen.

Wie die Visualität zur Effektivität der Belehrung beiträgt, diskutierte CHRISTOPH SCHANZE (Gießen) am Beispiel Thomasins von Zerclaere, dessen Welscher Gast mit einem relativ konstanten Illustrationszyklus überliefert ist. Dabei ging es weniger um die bereits häufig bearbeiteten Text-Bild-Beziehungen, sondern um ein Konzept der Textbildlichkeit, d.h. um imaginäre Bilder, die in der Phantasie des Rezipienten nach bestimmten textuellen Vorgaben evoziert werden und bei der Vermittlung der Lehrinhalte der Evidenz zuarbeiten. Um die in der Literatur ausgestaltete Autorinszenierung, nicht so sehr um die historische Autorpersönlichkeit, ging es im Beitrag von ANTJE WITTSTOCK (Mannheim), die nach dem Konnex von Krankheit und literarischer Produktivität fragte. Während der Zusammenhang von Körper, Krankheit und Literatur für die moderne Literatur bereits breit erforscht ist, stellt sie für die vormoderne noch ein Desiderat dar. Am Beispiel von Notker von St. Gallen, Hermannus Contractus und Ulrich von Hutten wurde gezeigt, wie sich ein topisches Argumentationsmuster entwickelt, das körperliche Gebrechen und Versehrungen mit einer besonderen geistigen und literarischen Aktivität koppelt.

Der Austausch beim Treffen war – das gilt es, auch wenn es sich in jedem Bericht des Nachwuchsforums wiederholt, immer wieder aufs Neue festzuhalten – produktiv und rege, und der zeitliche Rahmen erlaubte es, Ideen in der Diskussion nicht nur kurz anzureißen, sondern auch weiter auszuführen, untereinander aufzugreifen und in Ruhe zu Ende zu denken. Dabei war in diesem Jahr auffällig, dass die Diskussion immer wieder auf die Frage nach Gattungsgrenzen und Gattungstypik zielte, sei es nun am Beispiel der Verserzählungen oder der Minnereden, bei der Klärung, was ein Offenbarungstext ist, oder der Frage nach den Übergängen zwischen geistlichem und weltlichem Sprechen.

Ob das Nachwuchsforum sein kommendes zwanzigstes Jubiläum nach langer Zeit wieder einmal in Blaubeuren, wo die ersten Treffen stattfanden, abhalten wird oder einen neuen Tagungsort besucht, steht in den kommenden Wochen zur Entscheidung an.

Organisation und Bericht: Sandra Linden (Tübingen)