Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Welche Ernährung wollen wir?

von Dr. Birgit Hoinle

21.12.2020 · Wie kann ein zukunftsorientiertes Ernährungssystem aussehen? Wie können wir als Bürger*innen dies mitgestalten? In vielen Städten weltweit haben sich Ernährungsräte auf den Weg gemacht, um Akteur*innen entlang der Wertschöpfungskette zwischen Stadt und Land in Dialog zu bringen und um mehr Mitbestimmung in der Ernährungspolitik auf kommunaler Ebene zu ermöglichen. In Kern geht es dabei um Grundfragen der öffentlichen Versorgung und Ernährungsgerechtigkeit.

Lieferengpässe, Corona-Hotspots in Fleischfabriken und Skandale bei der Spargelernte. Covid-19 hat einige Missstände im Lebensmittelsektor offengelegt, die zwar schon länger bekannt waren, es aber nun wieder mal in die öffentliche Diskussion geschafft hatten: Gerade die Abhängigkeit von globalisierten Warenketten und prekäre Arbeitsbedingungen von Gastarbeiter*innen in der hiesigen Landwirtschaft rückten damit mehr ans Licht. Gleichzeitig hat das Virus dafür gesorgt, dass scheinbar Selbstverständliches wieder mehr ins Bewusstsein kam: Erzeugnisse aus der Region, Brot vom Bäcker nebenan oder nachbarschaftliche Hilfe, wenn Menschen nicht selbst einkaufen gehen können. Ebenso haben sich spontane Solidaritätsstrukturen aufgetan: Als viele Tafeln schließen mussten, da die meisten der ehrenamtlichen Helfer*innen zur Risikogruppe gehören, hat sich beispielsweise in Tübingen die Initiative Grundversorgung gegründet, damit bedürftige Menschen weiterhin Zugang zu günstigen Lebensmitteln erhalten. Manche hatten zudem Zeit, um längst vergessene Fertigkeiten wiederzuentdecken, wie das Brotbacken am eigenen Herd. Das sind kleine Schritte, die zu einem Umdenken und Ausbrechen aus Routinen beitragen können. Im Grunde geht es jedoch um die Frage: Welche Ernährung wollen wir? Derzeit funktioniert unser Ernährungssystem auf Kosten anderer – auf Kosten von Mensch und Natur hier und in anderen Teilen der Welt. Dies wird auch als „imperiale Lebensweise“ bezeichnet (vgl. Brand & Wissen 2017). Der ökologische Fußabdruck des derzeitigen Ernährungssystems zeichnet sich durch einen enormen CO2-Verbrauch aufgrund der Transportwege und agroindustriellen Produktionsformen aus. Gleichzeitig hat es auch einen sozialen Abdruck: Dieser zeigt sich etwa in der Vertreibung von Menschen für die Errichtung von Palmölplantagen in Indonesien und Kolumbien oder an der weiter zunehmenden Kinderarbeit in westafrikanischen Kakaoplantagen.

Essen ist politisch. Was auf unsere Teller kommt, ist eng verknüpft mit kolonial geprägten, vergeschlechtlichten und klassenbasierten Machtverhältnissen. Wer sorgt für unser Essen? Wer verdient wie viel daran? Wo findet die Verarbeitung von Rohstoffen und damit die Mehrwertgenerierung statt? Wer zahlt welchen Preis? Die Arbeit zur Herstellung von Lebensmitteln und (Care-)Arbeit zur Zubereitung von Speisen ist entlang der Kategorien von Klasse, Migrationshintergrund und Geschlecht in den meisten Gesellschaften ungleich verteilt. Ebenso zeichnen sich in vielen Städten postkoloniale Linien der Inklusion und Exklusion im Zugang zu gesunden Lebensmitteln ab. Beispielsweise wurde in nordamerikanischen Städten im Kontext der Bewegung gegen environmental racism die Kritik öffentlich gemacht, dass gerade diejenigen Stadtviertel mit einem hohen Anteil schwarzer Bevölkerung am meisten von Ernährungskrankheiten betroffen sind. Anstelle einer Individualisierung solcher Probleme wurden die strukturellen und institutionellen Gründe dahinter aufgedeckt. In ihrem Buch „Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit“ beschreibt Hanna Augustin (2020) am Beispiel der Stadt Bremen, dass es auch in deutschen Städten zu sozialräumlichen Ausgrenzungen in Bezug auf eine ausgewogene Lebensmittelversorgung kommt. Der Begriff ‚food deserts‘ (Essenswüsten) bringt solche Missstände auf den Punkt. Als Antwort darauf wurde im Kontext der Bewegungen in Nordamerika das Konzept der Ernährungsgerechtigkeit hervorgebracht, um eine gerechte Verteilung der Zugangschancen zu gesunder Ernährung und um mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten einzufordern. Es ist kein Zufall, dass gerade dort die ersten Ernährungsräte bereits in den 1990er Jahren gegründet wurden.

Ernährungsräte setzen daran an, Stadt und Land wieder zusammenzubringen. Sie sind als Plattform gedacht, um Akteure entlang der Wertschöpfungskette zu vernetzen: Produzent*innen, Lebensmittelhandwerk, Gastronomie, Verbraucher*innen, Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. In Deutschland gibt es bereits 20 aktive Ernährungsräte, etwa 40 weitere befinden sich derzeit im Aufbau. Im Kern geht es um die Demokratisierung von Ernährungspolitik und um die Mitgestaltung der Wege, wie das Essen vom Acker auf unsere Teller kommt. Ein wesentliches Betätigungsfeld von Ernährungsräten ist zum Beispiel die Gemeinschaftsverpflegung in Kitas, Schulen und Mensen. Das Anliegen besteht darin, dass dort mehr ökoregionale und faire Kriterien bei der Zusammenstellung der Speisen berücksichtigt werden. Damit werden Fragen von Ernährungsgerechtigkeit direkt adressiert: dass eine gesunde Ernährung keine Frage des Einkommens sein soll. In Tübingen hat sich seit Anfang 2020 eine Initiative auf den Weg gemacht, einen Ernährungsrat für die Region aufzubauen. Ziel ist es, verschiedene Initiativen zu bündeln, die sich bereits jetzt für ein nachhaltigeres Ernährungssystem einsetzen. Mit der Kick-off-Veranstaltung am 14. Oktober 2020 unternahm der Tübinger Ernährungsrat den Schritt in die Öffentlichkeit, um weitere Interessierte zum Mitmachen einzuladen.

Was bedeutet Ernährungsgerechtigkeit für Tübingen? Damit wird sich der Ernährungsrat im weiteren Aufbauprozess beschäftigen. In der Diskussion mit bestehenden Ernährungsräten hat sich bereits gezeigt, dass eine wesentliche Herausforderung darin liegt, nicht nur bereits interessierte Menschen (oftmals mit höherem Bildungshintergrund) anzusprechen, sondern auch niederschwellige Formate zu schaffen, um diejenigen zu erreichen, die am meisten von Ausschlüssen im Ernährungssystem betroffen sind. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung sollten dabei die Zieldimensionen einer ökologischen und regionalen Ernährung nicht zu Lasten sozialer Kriterien gehen. Dafür sind jedoch geeignete Organisationsstrukuren erforderlich, um eine diverse Beteiligung zu ermöglichen. Ernährungsgerechtigkeit erfordert jedoch zudem einen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus, um die globale Dimension von Ernährung mitzudenken: In seinem Leitbild spricht der Tübinger Ernährungsrat daher von einer „weltoffenen Regionalität“ um zu verdeutlichen, dass es nicht nur um die Situation von Erzeugerbetrieben vor Ort geht, sondern auch um eine Solidarisierung mit kleinbäuerlichen Bewegungen, die sich für agrarökologische Alternativen einsetzen.

Welche Ernährung wollen wir? Diese Frage diskutierten auch die Gäste beim Worldcafé während der Kick-off-Veranstaltung. Als Vision formulierte einer der Teilnehmenden: „Wir wissen, wo unsere Lebensmittel herkommen und wer sie produziert hat.“ (s. Dokumentation). Der Ernährungsrat ist dabei angetreten, Ernährung nicht allein als persönliche Frage des Geldbeutelvolumens zu begreifen. Das Ziel besteht darin, die Ernährungsfrage von der individuellen Ebene der Konsument*innenentscheidungen zu lösen und gemeinschaftliche Strategien für eine Ernährungswende vor Ort zu entwickeln. Die kommunale Ebene bietet hierfür besonderes Potential, da dort Politik greifbarer als beispielsweise auf EU-Ebene ist und mehr Handlungsspielräume möglich sind. Dabei bietet vor allem das Feld der öffentlichen Beschaffung (z.B. städtischer Kantinen) Möglichkeitsräume, um Veränderungen vor Ort zu bewirken, die auch auf andere Ebenen ausstrahlen. Damit sind Veränderungen gemeint, um die Ernährungskreisläufe zwischen Stadt und Land, zwischen Produktion und Konsum engmaschiger und nachhaltiger zu gestalten – sowohl auf lokaler wie globaler Ebene.

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