Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Warum wir über Anwender*innen sprechen sollten - Eine kritische soziologische Perspektive auf den Nutzer*innenbegriff

von Céline Gressel

02.09.2022 · Die Entwicklung innovativer Technologien soll zunehmend nicht mehr nur auf technische Aspekte fokussieren, sondern überdies positive Einflüsse auf die Gesellschaft nehmen. Zu diesem Zweck werden vermehrt Forschungsprogramme wie die integrierte Forschung, RRI (=Responsible Research and Innovation) oder die ELSI-Forschung (ELSI= ethical, legal and social implications) gefördert. Auch Partizipative Methoden, die Menschen als Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelt einbeziehen, gewinnen in diesen Kontexten an Bedeutung. All diese Ansätze verfolgen das gemeinsame Ziel, die Bedarfe von Menschen besser zu identifizieren und diese in der Entwicklung zu adressieren. Dabei gibt es jedoch unterschiedliche Perspektiven auf den späteren Einsatz der Technologie, die sich in Begrifflichkeiten niederschlagen und auf den Entwicklungsprozess auswirken.

In meiner Arbeit als Techniksoziologin in Technikentwicklungsprojekten, stolpere ich immer wieder über den Begriff der Nutzer [1]. Dieser führt die Perspektive auf die Menschen aus meiner Sicht zu eng. Denn, was bedeutet Nutzen im eigentlichen Sinn? Etwas, das einen Nutzen hat, ist für die Erreichung eines Ziels geeignet, oder wird zu einem bestimmten Zweck benutzt. Damit impliziert der Nutzerbegriff, dass Technologien eine ‚richtige‘ Nutzungsweise hätten und, dass Nutzer mit der Nutzung einen vorbestimmten Zweck verfolgen. Wie ein Hammer, der genutzt wird, um einen Nagel in die Wand zu schlagen. Dieser Zweck wird von den Entwickler*innen vorgegeben. Die Nutzer sind dann als Technikempfänger*innen zu verstehen, die nur insofern eine zentrale Rolle für die Technikentwicklung spielen, als dass sie die Technologien akzeptieren und später bedienen können sollen (vgl. Spiekermann 2010). Eine aktive Technologieaneignung, die aus den tatsächlichen Bedürfnissen der Anwender*innen entsteht (im Fall des Hammers wäre das Bedürfnis nicht, den Nagel in die Wand zu schlagen, sondern das Bild aufzuhängen, was vielleicht auch anders als durch einen Hammer erfüllt werden könnte), wird hier nicht – oder zu wenig – mitgedacht.

Eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf die verwendeten Konzepte und damit verbundenen Menschenbilder, kann zu einer Erweiterung des Fokus vom nutzenden Individuum oder einer Gesellschaft hin zu ihren sozio-technischen Anwendungszusammenhängen führen. Innerhalb dieser größeren Kontexte wird die Antizipation ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte der zu entwickelnden Technologie erleichtert bzw. deren Notwendigkeit virulent. Deshalb plädiere ich dafür, nicht nur von Nutzern zu sprechen, sondern den Begriff der Anwender*innen zu etablieren.

Der Frage nach der einer Entwicklung zugrundeliegenden Sicht auf Menschen kommt eine wichtige Rolle zu. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass im Prozess der Entwicklung immer wieder richtungsweisende Entscheidungen getroffen werden müssen, die sich auf die späteren Anwender*innen beziehen. Diese Entscheidungen wirken sich unmittelbar auf die Interaktionen zwischen Menschen und Technik aus. So wird ein Tablett, das für den Einsatz auf einer medizinischen Station im Krankenhaus entwickelt wurde, andere Eigenschaften und Interaktionsmöglichkeiten aufweisen als ein Tablett, das speziell für Kinder hergestellt wurde.

Der Fokus auf die mutmaßlich nutzenden Individuen ist also unverzichtbar. Er führt jedoch dann zu Problemen, wenn Nutzer in Technikentwicklungsprojekten mit Personas gleichgesetzt und diese wie folgt verwendet werden: Personas sind idealtypische Darstellungen von Menschen, die im gesamten Entwicklungsprozess verwendet werden. Die zu Projektbeginn erdachten Personas laufen jedoch nur allzu leicht Gefahr, Stereotypen – wie die technikablehnende Rentnerin oder den technikaffinen jungen Mann – zu bedienen.
Dass eine Reduktion der Vielfalt späterer Anwender*innen notwendig sein kann und dass Personas möglichst Gruppen widerspiegeln sollen, die sich so auch mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit in der Gesellschaft finden lassen, soll gar nicht in Frage gestellt werden. Ein unreflektierter Umgang mit (isolierten) Personas kann jedoch zur systematischen Diskriminierung bestimmter Menschen (-gruppen) führen. Doch auch wenn Personas sehr divers und reflektiert konstruiert und eingesetzt werden, müssen noch weitere Faktoren berücksichtigt werden, wenn über die spätere Anwendung der Technologie nachgedacht werden soll.

Da jede technologische Innovation von, durch oder mit Menschen angewendet wird, ist es notwendig, sie innerhalb der sozialen Einbettung zu betrachten, innerhalb derer sie wirksam wird. Denn der Einfluss von Technologien und Handlungs- und Lebensbezüge ihrer Anwender*innen ist ein wechselseitiger. Folglich werden durch Entwicklung und Anwendung nicht nur Technologien sozial konstruiert, sondern auch Nutzungsweisen, -zusammenhänge und die Menschen selbst.

Es lässt sich beispielsweise empirisch nachweisen, dass dieselbe Technologie, wenn sie in unterschiedlichen Umgebungen eingesetzt wird, ganz unterschiedliche Wirkungsweisen haben kann, die erst aus dem wechselseitigen Zusammenwirken zwischen Technologien und ihren (sozialen) Umwelten entstehen. Denken wir an das Beispiel eines Mikrowellenherds. Dieser wird so entwickelt und hergestellt, dass er mit zuverlässiger Sicherheit genau das tut, was die Entwickler*innen beabsichtigt haben. Er erwärmt Lebensmittel oder andere wasserhaltige Gegenstände wie Wärmekissen. Dennoch kann sich seine Nutzungsweise bzw. deren Auswirkungen auf ihre Anwendungskontexte stark unterscheiden. Menschen, die einen Mikrowellenherd zum Kochen verwenden, kaufen unter Umständen spezielles Kochgeschirr, bereiten andere Lebensmittel darin zu, kochen und essen nach der Anschaffung anders als davor. Sie benötigen für die Zubereitung weniger Zeit und können dadurch auch andere Dinge in ihrem Alltag ändern. Die Anwendung des Mikrowellenherds geht also über die bloße Funktion des Erhitzens hinaus. Gleichzeitig lässt er aber auch die Möglichkeit offen, ihn nur sehr unregelmäßig zu verwenden, beispielsweise um bei Bauchschmerzen ein Wärmekissen darin aufzuwärmen. Wie sich die Einflüsse einer Technologie auf ihre Anwendungskontexte gestalten, ist also nicht nur von der ihr eingeschriebenen Nutzungsweise abhängig. Sie impliziert zwar eine gewisse Wirkungsweise, diese kommt in ihren Konsequenzen aber erst im aktiven Zusammenspiel mit den Anwender*innen, im Sinne sozio-technischer Ensembles, zu tragen. So können in der Interaktion ganz neue, nichtintendierte Arten der Anwendung entstehen, die wiederum die Technologie mitgestalten und zu Anwendungsweisen und Weiterentwicklungen der Technologie führen können, die fernab der ursprünglich erdachten Nutzungsweisen und -praktiken liegen.

Diese Art der Betrachtung wird durch die begriffliche Verschiebung von ‚Technologie und Nutzer‘ zu ‚Anwendung und Anwender*in‘ als Teile eines Anwendungszusammenhangs erleichtert. Denn Anwenden bedeutet, mit etwas zu arbeiten (um etwas zu erreichen) oder auch etwas zu übertragen. Wenn wir in der Technikentwicklung mehr von Anwender*innen an Stelle von Nutzern sprechen, erleichtern wir es uns, die wechselseitigen Aneignungsprozesse mitzudenken. Somit eröffnet die Perspektive auf Menschen als Anwender*innen anstelle von Nutzern größere Handlungsspielräume. Auch für die Entwickler*innen selbst.

Literatur:

Spiekermann, Sarah (2010): Über die Bedeutung von Menschenbildern für die Gestaltung „Allgegenwärtiger Technik“. In: Bölker, M., Gutmann, M., Hesse, W. (Hg.): Information und Menschenbild. Ethics of Science and Technology Assessment, vol 37. Springer, Berlin, Heidelberg. doi.org/10.1007/978-3-642-04742-8_4

 

[1] Tatsächlich ist schon die geschlechtergerechte Schreibweise Nutzer*innen eher die Ausnahme als die Regel, weshalb ich, wenn ich mich auf den gängigen Nutzerbegriff beziehe, diese Schreibweise verwende.

 

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