Reutlingen - Pfäfflinshofstraße 4
Auf dem Grundstück des bislang ältesten datierten Wohngebäudes im Kreis Reutlingen, des Gebäudes Pfäfflinshofstraße 4 in Reutlingen, wurde im Sommer 1996 von August bis Oktober eine archäologische Untersuchung als Lehrgrabung der Universität Tübingen unter Leitung von Frau Prof. B. Scholkmann durchgeführt. Zur Finanzierung des Projekts trug ein namhafter Betrag vom LDA Baden-Württemberg, Stuttgart bei, die technische Ausstattung stellte Herr Oberkonservator Schmidt, LDA Außenstelle Tübingen zur Verfügung. Im Rahmen eines Auswertungspraktikums und darüber hinaus bemühten sich zahlreiche Studierende um die Aufarbeitung des Fundmaterials. Allen voran steht jedoch die spontane und großzügige finanzielle Unterstützung durch die Stadt Reutlingen, Herrn Kulturbürgermeister Fuchs, initiiert von Herrn Dr. Ströbele, Heimatmuseum der Stadt Reutlingen. Ohne sie hätte die Grabung, die im Zuge der drastischen Sparmaßnahmen des Landes bereits abgesagt war, nicht durchgeführt werden können. Ihnen allen gebührt dafür größter Dank.
Die archäologische Untersuchung war aufgrund von zu erwartenden Bodeneingriffen im Zuge der Neugestaltung der Pfäfflinshofstraße notwendig geworden. Sie wurde nach Abbruch des bauarchäologisch erforschten Gebäudes durchgeführt. Das Ausgangsniveau bildete die dadurch entstandene moderne Oberfläche. Um die Verknüpfung der untersuchten, aufgehenden Bausubstanz mit den archäologischen Quellen zu gewährleisten, wurde auf eine Abplanierung moderner Schichten verzicht
Zur topographischen Lage
Das Grundstück Pfäfflinshofstraße 4 liegt am nordwestlichen Stadtrand, mitten in dem als "Gerberviertel" überlieferten Teil der ehemaligen freien Reichstadt Reutlingen. Hier befand sich ein geschlossen wirkender Häuserblock, der westlich unmittelbar an den sich zwischen Tübinger Tor und Mühltor erstreckenden Teil der Stadtmauer grenzt. Südlich, östlich und nördlich wird die ehemalige Häuserzeile von dem im Katasterplan von 1842 als "Bachgasse" (heute Pfäfflinshofstraße) bezeichneten Straßenzug begrenzt. Unmittelbar östlich davon liegt das Areal der sogenannten Hofstatt, die in der lokalen Geschichtsforschung als eine der frühen Keimzellen Reutlingens angesehen wird. Die sich daran anknüpfende Frage nach archäologischen Hinweisen auf eine vorstädtische Besiedlung in diesem Bereich war eine der Problemstellungen der Grabung.
Die bauarchäologische Untersuchung
Das Gebäude Pfäfflinshofstr. 4 wurde vor dem Abbruch im Juli 1996 durch eine teils auch an der nachfolgenden Grabung beteiligte Arbeitsgruppe Tübinger Studierender bauarchäologisch und gefügekundlich untersucht. Durch die dendrochronologische Datierung der Bauhölzer durch H.-J. Bleyer (Rottenburg) konnten größere Teile einer 1337 errichteten Wand (die Nordwand des bestehenden Baus) als ältestem erhaltenen Bauteil ermittelt werden. Sie gehörte zu einem ursprünglich zweigeschossigen, traufständigen Fachwerkbau, welcher sich gesichert nach Norden hin in den Bereich von Pfäfflinshofstr. 2 erstreckte. Ansätze von Unterzügen und einer Bretterwand belegten jedoch auch eine konstruktive Verbindung zu einem südlich angrenzenden Gebäude (Pfäfflinshofstr. 4), dessen südliche Wandseite eine noch in Erdgeschosshöhe erhaltene, ursprünglich wohl ebenfalls zweigeschossige, massive Brandschutzwand mit einer Wandstärke von 0,7-0,8 m bildete. Beide Wandteile wurden in den nur 27 Jahre später, nun dreigeschossig aufgeführten Neubau des Hauses Pfäfflinshofstraße 4 integriert. Beobachtungen an der Nordwand ließen vermuten, daß das ältere Gefüge zur Errichtung der neuen Westwand gekürzt wurde.
Der Überprüfung dieser Beobachtung sowie der Frage nach dem Grund dieser so rasch aufeinanderfolgenden Bauvorgänge, insbesondere in Bezug auf das bauliche Verhältnis zu der in diesem Bereich verlaufenden Stadtmauer, galt das Hauptinteresse der archäologischen Untersuchung. Hinzu kamen die Fragen nach einer möglichen Vorgängerbebauung sowie nach archäologischen Nachweisen für die einstige Nutzung des Gebäudes. Die Lage im historischen Gerberviertel mit dem seit dem Ende des 13. Jh. in schriftlichen Quellen belegten Gerberhandwerk ließ eine Gerberei vermuten, von der sich jedoch am erhaltenen Gebäude keine Spuren fanden.
Die Ergebnisse der Ausgrabung
Der geologische Untergrund konnte an keiner Stelle der Grabung erreicht werden. Als ältester Befund trat eine humose Schicht mit Holzkohleeinschlüssen zutage, die möglicherweise auf eine ältere vorgeschichtliche Besiedlung hinweist. Darüber lag der überall im Reutlinger Stadtgebiet anzutreffende gelbe Echazschotter. Dieser wird wiederum überdeckt von einer bis zu 0,5 m mächtigen Kulturschicht, die aufgrund von Streufunden zumindest eine in der Nähe liegende, wohl vorstädtische Siedlung belegt. Zuordenbare Befunde konnten jedoch nicht erfaßt werden.
Das älteste bauliche Zeugnis stellen Teile der nach Ausweis der Schriftquellen in der ersten Hälfte des 13. Jh. errichteten Stadtmauer dar, welche im Westen der Grabungsfläche angeschnitten wurde. Das Nord-Süd- gerichtete Mauerfundament ist in die schon erwähnte Kulturschicht eingetieft. Das Ausgangsniveau für die Errichtung konnte nicht erfaßt werden, da es durch den Einbau von Gerberfässern und Sickergruben am Ende des 19. Jh. stark gestört war. Das Mauerfundament wurde als Zweischalenmauerwerk errichtet. Davon konnte nur die östliche Mauerschale aus großen, grob zubehauenen Sandsteinen in einer Breite von bis zu 0,8 m freigelegt werden. Bemerkenswert ist, daß die Mauer im südwestlichen Teil einen deutlichen Knick nach Westen hin aufweist, wie es auch der Katasterplan von 1842 im Gegensatz zum Urkataster von 1820 wiedergibt. Unmittelbar nach Errichtung der Stadtmauer scheint die Parzelle zunächst noch nicht überbaut worden zu sein. Eine Nutzung belegt jedoch der im nördlichen Hofbereich angeschnittene Überrest einer Filterzisterne, zu der eine mit ausgewaschenen Kieseln und Hohlziegeln verfüllte Ausschachtung gehört. Von einem ersten Gebäude konnten die erhaltenen Umfassungswände des Kellers, die massive Südwand sowie größere Teile des westlichen Schwellfundamentes nachgewiesen werden. Während sich die Flucht der ehemals aufgehenden Ostwand mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Verlauf der Kellerostwand deckte, kann über die Lage der nördlichen Außenwand des Gebäudes keine konkrete Aussage gemacht werden. Denkbar wäre aber auch hier ein Wandverlauf in der Flucht der Kellerwand, wodurch sich ein außerordentlich langgestreckter, leicht trapezförmiger Grundriß von etwa 7,6-9,2 m Breite und 4 m Länge ergeben würde.
Die etwa 0,5 m starken Wände des ca. 4,0 x 3,5 m großen Kellers bestehen aus grob zubearbeiteten Kalksandsteinen, die in regelmäßigen Lagen gegen die Grubenwandungen geschichtet wurden. Der dabei verwendete, graue Lehmmörtel diente gleichzeitig zur Abdichtung der Kellerwände gegen das feuchte Erdreich. Die Westwand des ursprünglich flach gedeckten Kellers bildete dabei einen etwa 0,3 m aus dem Boden aufragenden Schwellsockel für eine darauf verlegte Schwelle oder Mauerlatte, von der sich Reste nachweisen ließen. Das Schwellholz war in eine Aussparung in der massiven Südwand eingelassen. Den westlichen Abschluß des ältesten Baus bildete ein etwa 0,4 m breites Schwellfundament, das unmittelbar an die Stadtmauer gesetzt wurde. Der aus unregelmäßig ohne Mörtelbindung aufgeschichteten, unbearbeiteten Steinen gebildete Schwellsockel ist an seinem nördlichen Ende punktfundamentartig auf 0,7 m Breite verstärkt, was für die Annahme eines kräftigen Wandständers an dieser Stelle spricht. Die Südwestecke und damit die Anbindung an die massive Südwand wurde beim modernen Einbau einer Sickergrube ausgebrochen. Die Entstehung des ältesten Hauses fällt in den Zeitraum zwischen Errichtung der Stadtmauer und der 1337 errichteten Nordwand. Zwei dendrochronologisch auf 1289/90 datierte Bauhölzer, die sich im aufgehenden Gebäude in Zweitverwendung vorfanden, könnten demnach zu dem ältesten Bau gehört haben.
Von einem Umbau des Ursprungsbaus zeugt das Schwellfundament der 1337 errichteten Nordwand. Das Fundament besteht aus in regelmäßigen Lagen mit Lehmmörtelbindung aufgeschichteten, grob bearbeiteten Kalksandsteinen. Es ist gegen das nördliche Ende des älteren Westfundamentes gesetzt und stößt westlich gegen das Stadtmauerfundament. Verknüpft man den archäologischen Befund mit den Ergebnissen der Bauaufnahme, so ergibt sich ein 1337 von Norden her an das bestehende Haus angefügter Bau, der ebenfalls unmittelbar an die Stadtmauer gesetzt wurde. Aus der Bauaufnahme geht jedoch hervor, daß auch das auf der untersuchten Parzelle stehende Haus im Zuge dieser Baumaßnahme verändert worden sein muß. Möglicherweise ist dieser baulichen Veränderung ein ungefähr in der Hausmitte Ost-West-verlaufendes Fundament einer Innenwand zuzuweisen. Der nur 0,25-0,3 m breite aus zwei trocken aufgeschichteten Steinlagen gebildete Fundamentstreifen ist gegen das Westfundament des ältesten Baus gesetzt. An seinem östlichen Ende greift das Fundament in die oberste Steinlage der Kellerwestwand ein. Die Anbindungen wurden jeweils mit festem, hellem Kalkmörtel verstärkt. Die punktfundamentartigen Mörtelverstärkungen lassen jeweils auf einen Ständer des aufgehenden Fachwerkgerüstes und damit auf die Binnengliederung des Erdgeschosses schließen.
Nur 27 Jahre nach dieser Baumaßnahme erfolgte ein Neubau auf dem Grundstück von Pfäfflinshofstr. 4. Dabei wurde die bis dahin bestehende Anbindung des Gebäudes an die Stadtmauer gelöst und die neue Westwand in ca. 1,3-1,5 m Entfernung zur Stadtmauer errichtet. Die massive Südwand wie auch die Nordwand von 1337 wurden dabei um diese Länge gekürzt. Das Fachwerk der neuen Rückwand wurde über einer mit 1,2-1,3 m Höhe auffallend hohen, 0,4-0,6 m starken Schwellmauer aufgeschlagen, welche aus Stabilitätsgründen in den unteren Steinlagen breiter angelegt wurde. Der entstandene Zwischenraum zwischen Gebäude und Stadtmauer wurde durch Aufplanieren eingeebnet und erhielt eine kräftige Kiesauflage, die nahezu im gesamten Hinterhofbereich erfaßt werden konnte. Das infolge der Aufplanierungen im Hofbereich nun erheblich tiefer liegende Fußbodenniveau im Innern des Gebäudes wurde dagegen weitgehend beibehalten. Ebenso wurde der flach gedeckte Keller fast unverändert in das neue Gebäude übernommen. In dem erheblichen Unterschied von innerem zu äußerem Fußbodenniveau ist die Erklärung für die erstaunliche Höhe des westlichen Schwellfundamentes zu suchen, welches das Schwellholz zum Schutz vor Feuchtigkeit ein Stück aus dem im Hofbereich aufplanierten Erd- und Schuttmaterial anheben mußte.
Im 16./17. Jh. erfolgte ein Umbau des Kellers durch Einwölbung mit einer flachen Nord-Süd-orientierten Tonne. Als Widerlager dienten die Kellerwest- und -ostwand, deren innere Mauerschale dazu im oberen Wandbereich ausgebrochen wurde. In keiner der mittelalterlichen Bauphasen konnten Spuren der einstigen Nutzung des Gebäudes gefunden werden. Erst für die Zeit nach der Einwölbung des Kellers kann aufgrund der Funde von Hornzapfen, Resten ungelöschten Kalkes, welcher häufig zum Enthaaren von Fellen benutzt wurde, sowie dem offenbar durch organische Einwirkung rot bis grünlichgelb verfärbtem Kiesboden die Tätigkeit eines Gerbers oder gerbenden Schuhmachers vermutet werden. Einen sicheren Anhaltspunkt für Gerbertätigkeit bieten schließlich zwei jüngere Gruben im Innern des Gebäudes, die sich in der Südwestecke eingetieft erhalten hatten. In der einen Grube fand sich ein kleiner Holzdaubenbottich, in der anderen war ein Holzdaubenfaß eingelassen. Beide Behälter erhielten einen wasserundurchlässigen Lehmmantel. Eindeutig zuweisbares Fundmaterial wie z.B. Lederreste konnten jedoch nicht geborgen werden.
Überreste der Sachkultur
Das Fundmaterial der ältesten, gesichert erfaßten Kulturschicht, in welche die Stadtmauer eingetieft wurde, belegt über Streufunde eine hochmittelalterliche Ansiedlung in der näheren Umgebung zumindest seit dem 11./12. Jahrhundert. Hierzu gehören Bruchstücke von Keramik der älteren gelbtonigen Drehscheibenware, darunter einzelne Fragmente von Ofenkacheln des 11./12. Jh. Dem 12. Jh. gehören neben wenigen Stücken der rotbemalten Feinware auch Fragmente von Gefäßen der älteren Albware an. In dieser Kulturschicht finden sich bereits Reste von Hornzapfen, welche als charakteristisches Abfallmaterial möglicherweise auf in der näheren Umgebung ausgeübtes Gerberhandwerk schließen lassen. Mehrere Metallschlacken deuten zudem auf Metallverarbeitung, die ebenso nicht näher lokalisiert werden kann. Die weit überwiegende Mehrzahl der keramischen Funde läßt sich der jüngeren, reduzierend gebrannten Drehscheibenware zuordnen. Leistenrandformen des 13. Jh. fanden sich vor allem in der Verfüllung der erwähnten Zisterne. Dem ersten, auf der Parzelle errichteten Haus konnten nur wenige Funde zugeordnet werden, unter anderem das Henkelfragment einer Bügelkanne. Dafür fanden sich auch hier wieder Hornzapfen.
Der umfangreichste Fundkomplex der Grabung dagegen entstammt einer der eindeutig in Zusammenhang mit den Baumaßnahmen von 1364 eingebrachten Planierschichten im Hofbereich, was für die zeitliche Einordung der Keramik von großer Bedeutung ist. Unter den zahlreichen Funden findet sich ein differenziertes Spektrum spätmittelalterlicher Haushaltskeramik, darunter Dreifußpfannen, Töpfe, Topfdeckel, Flüssigkeitsbehälter, Gluthauben und Lampenschälchen. Glasur tritt sehr selten auf und auch nur an der Gefäßinnenseite oder am Gefäßrand.Unter den verhältnismäßig wenigen Bruchstücken von Ofenkeramik dominieren Teile von runden Blattnapfkacheln, sowie viereckigen Schüsselkacheln. Mehrere Fragmente gehören zu einer grün glasierten Nischenkachel, die zu den Spitzenprodukten spätmittelalterlicher Ofenkeramik zu zählen ist. Zum Fundspektrum gehören auch mehrere Bruchstücke von Nuppengläsern, einige Eisennägel sowie zahlreiche Knochen aus Schlachtabfällen, darunter wiederum Hornzapfen.
Ergebnisse
Obwohl es nicht möglich war, das gesamte Grundstück vollständig archäologisch zu untersuchen, liefern die Ergebnisse der Grabung doch einige neue Aspekte zur hoch- und spätmittelalterlichen Stadtgeschichte Reutlingens. Hierzu gehören zunächst indirekte Anhaltspunkte für eine in der nächsten Umgebung liegende, vorstädtische Handwerkersiedlung des 11./12. Jh., die möglicherweise mit der sogenannten "Hofstatt" in Verbindung zu bringen ist.
Von besonderer Bedeutung sind jedoch die baulichen Vorgänge im Zuge des Neubaus des Hauses Pfäfflinshofstraße 4 im Jahre 1364. Das zunächst unmittelbar an die Stadtmauer angebaute Haus wurde offensichtlich zur Schaffung eines schmalen Zwischenraumes, der als Durchgang genutzt werden konnte, von der Stadtmauer abgetrennt. Die Einrichtung eines sogenannten "Rondenweges" entlang der Stadtmauer, welcher einen uneingeschränkten Zugang für Mensch und Material und damit eine bessere Verteidigungsfähigkeit der Stadtbefestigung gewährleistete, ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine obrigkeitliche Maßnahme zurückzuführen. Anlaß hierfür gab es genug hinsichtlich der langanhaltenden Spannungen zwischen der Reichstadt Reutlingen und den Württembergischen Herzögen, in deren Besitz die ortsnahe Burg Achalm war. Die daraus resultierende, ständige Bedrohung der Stadt fand nur wenig später im sogenannten Städtekrieg 1377 mit der Belagerung Reutlingens ihren Höhepunkt.
Die in Zusammenarbeit von Bauforschung und Archäologie gewonnenen Ergebnisse sollen im Rahmen einer für 1998 geplanten Ausstellung des Heimatmuseums Reutlingen der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Es ist zu hoffen, daß die beispielhaft unbürokratische Zusammenarbeit verschiedenster Institutionen bei der Durchführung dieses Projekts und das weit über das normale Maß hinausgehende Engagement der Studierenden hierbei eine Grundlage für weitere archäologische und baugeschichtliche Forschungen bilden werden.
Tilmann Marstaller