Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Empathiemaschine Computerspiel?

Wie Computerspiele Empathie erzeugen — und warum das nicht immer gut ist

von Theresa Krampe

01.08.2023 · Seit einigen Stunden spiele ich nun schon die Rolle von Amicia. Amicia ist ein Teenager, aufgewachsen im Frankreich des 14. Jahrhunderts und die Protagonistin des Computerspiels A Plague Tale: Innocence (2019). Im Laufe des Abends habe ich sie begleitet, wie sie nach einem Überfall aus dem elterlichen Anwesen flieht, den kleinen Bruder Hugo fest an der Hand. Wie die Geschwister im Dorf von Tür zu Tür eilen und doch überall abgewiesen werden, denn zu allem Überfluss geht die Pest um. Wie sich Amicia geschickt an Wachen vorbeischleicht, immer darauf bedacht, Hugo nicht zu lange allein zu lassen—immerhin ist er erst fünf und bekommt Angst ganz allein im Dunkeln. Doch nach einem Streit ist Hugo fortgelaufen und plötzlich fühle ich mich unsicher; vermisse seine tröstende Präsenz an Amicias—an meiner—Seite. Das Spiel, mit anderen Worten, erzeugt eine starke empathische Reaktion, die mich Amicias Einsamkeit und ihre Sorge um den kleinen Bruder nachempfinden lassen.[1]

In der Forschung[2] und im Computerspieljournalismus erhält Empathie seit einigen Jahren viel Aufmerksamkeit und das aus gutem Grund, birgt die Fähigkeit von Computerspielen, Empathie zu generieren, doch ein immenses Potenzial. Empathische Menschen können die Gefühle anderer besser verstehen und nachfühlen und sind dann auch eher geneigt, ihnen zu helfen.[3] Dass Rezipient*innen Empathie sowie weitere Emotionen auch gegenüber imaginären Personen entwickeln können, gilt mittlerweile als erwiesen.[4] Die Konfrontation mit den Erlebnissen und Gefühlen fiktionaler Figuren aktiviert beispielsweise ähnliche Gehirnareale wie „echte“ Empathie.[5] In Computerspielen können wir somit die Freude oder Wut der Figuren, ihre Angst vor dem Monster oder ihren Schmerz angesichts des Todes eines geliebten Freundes nachempfinden. Anders als in anderen Medien werden wir dabei nicht nur Zeuge (fiktionaler) Situationen und Emotionen, sondern können diese auch aktiv gestalten, werden also womöglich zu moralischem Handeln motiviert.

Es gibt zudem Hinweise, dass durch Spiele evozierte Empathie über diese hinauswirken und auch im realen Leben Einstellungen gegenüber Themen oder Personen(gruppen) sowie Wertvorstellungen beeinflussen und prosoziales Handeln motivieren kann. Computerspiele könnten also Vorurteile abbauen. Vor allem sogenannte „Empathy Games“ wollen dieses Potenzial einlösen. Oft mit didaktischem Hintergrund konzipiert, sollen diese Spiele Empathie erzeugen und ein besseres Verständnis für die Lebensrealität von Personen in prekären Lebenssituationen ermöglichen. Bekannte Beispiele sind Papo y Yo (2012), eine Allegorie einer Kindheit überschattet von der Alkoholkrankheit des Vaters, oder Hellblade: Senua’s Sacrifice (2017), in dem das Erleben einer Psychose nachvollziehbar wird. Path Out (2017) nimmt sich dem Thema Flucht und Migration an und That Dragon: Cancer (2016) erzählt autobiographisch und einfühlsam vom Verlust eines Kindes. Alle Beispiele werden im Allgemeinen als berührend empfunden und sehr positiv rezipiert. Doch obwohl, oder vielleicht gerade weil „Empathy Games“ so offensichtlich pädagogisch wertvoll erscheinen, gilt es, den Diskurs kritisch zu beleuchten: Welche Herausforderungen und Schattenseiten verbergen sich also hinter der „Empathiemaschine Computerspiel“?

 

  1. Meinen wir wirklich Empathie?

Mit dem Gebrauch von „Empathie“ als Buzzword oder Werbeslogan verwischt sich zunehmend die Bedeutung des Begriffs, was eine differenziertere Betrachtung nötig macht. Welche Gefühle genau werden von der Spielerfahrung ausgelöst und gegenüber wem? Fühlen wir uns in Spielen wie Path Out oder Bury Me, My Love (2019) wirklich in das Schicksal syrischer Geflüchteter ein? Empfinden wir nicht eher Mitleid oder identifizieren wir uns gar mit der Rolle der Helfer*innen? Auch letztere Varianten scheinen geeignet, Menschen zu prosozialem Denken und Verhalten zu motivieren. Jedoch laufen sie Gefahr, problematische Topoi wie den des „weißen Retters“ zu bestätigen. Viele „Empathy Games“ wirken dem entgegen, indem sie die Situation aus der Perspektive marginalisierter Personen erlebbar machen. Es ist jedoch unrealistisch, dass sich Spieler*innen bereits nach kurzer Spielerfahrung in die Extremsituation Geflüchteter einfühlen können. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass zumindest auch persönliche Erfahrungen, kulturell geprägte Wertvorstellungen und eigene Empfindungen wie Betroffenheit oder Schuld auf die im Spiel dargestellte Situation projiziert werden. Zudem können Emotionen in Computerspielen auch aus völlig anderer, nämlich spielmechanischer, Quelle rühren. Wenn ich bestürzt oder frustriert bin, weil Hugo und Amicia in Plague Tale von einem Rattenschwarm getötet werden oder weil meine Spielfigur in Darfur Is Dying (2006) von Milizen gefangen genommen wird, dann liegt das sicherlich auch am Game Over, mit dem das Spiel meine Fehlentscheidungen oder mein Ungeschick im Umgang mit dem Controller bestraft.  

 

  1. Killerspieldebatte reloaded?

Dieser Punkt richtet sich auch an einen möglichen Bias der Computerspielforschung selbst. Denn während manch einer bei Erwähnung der Killerspieldebatte genervt die Augen verdreht (berechtigterweise, angesichts einer populistischen und polemischen Diskussion) stößt die Empathie-Altruismus-Hypothese im Zusammenhang mit Computerspielen auf deutlich mehr Akzeptanz, gar Begeisterung. Doch wenn Computerspiele prosoziales Verhalten fördern können, liegt im Umkehrschluss nahe, dass dies auch bei antisozialem Verhalten der Fall ist. Letzteres könnte sogar durch Empathie verstärkt werden, etwa wenn Spieler*innen Empathie gegenüber den Antagonisten empfinden und aktiv versuchen, sich innerhalb der Spielwelt mit diesen zu verbünden. Gegenwärtig liefert die Forschung jedenfalls kein eindeutiges Ergebnis zu (Langzeit-)Effekten von Computerspielen auf Einstellungen und Verhalten, sodass dahingehende Äußerungen mindestens mit Vorsicht zu genießen sind.

 

  1.  Kommodifizierung von Diskriminierungserfahrungen

Dass man durch eine kurze Spielerfahrung Lebenssituationen und Emotionen im Kontext von Marginalisierung, Diskriminierung oder Trauma genuin nachvollziehen kann, ist zu bezweifeln. Doch genau das scheint der Diskurs um „Empathy Games“ zu versprechen und öffnet damit die Tür für unkritische Formen des Identitätstourismus.[6] Insbesondere in den Queer Game Studies wird das Label „Empathy Games“ daher stark kritisiert.[7] In einem kürzlich veröffentlichten Artikel[8]  fasst Bo Ruberg die Problematik wie folgt zusammen: Von „Empathy Games“ zu sprechen, verkläre die unrechtmäßige Aneignung und Kommodifizierung der Erfahrungen von Menschen aus der Queer Community. Queere Leben(sweisen) und Erfahrungen werden dabei zum Konsumgut, das ge- und verkauft; an- und ausgestellt werden kann. Bezeichnenderweise nutzten queere Entwickler*innen dieses Label daher in der Regel nicht, denn ihre Spiele seien nicht zur Erbauung von Spieler*innen in privilegierten Positionen gedacht.

 

  1. Die dunklen Seiten der Empathie

Schließlich ist zu hinterfragen, ob Empathie, wie allgemein angenommen, an sich immer gut ist, oder auch „dunkle Seiten“ hat. Letztere hat Fritz Breithaupt ausführlich in seinem gleichnamigen Buch[9] besprochen. Empathie führt nicht etwa automatisch zu ethischem Handeln, sondern kann im Gegenteil sogar polarisieren und kritische Reflexion verringern. Ein hohes Maß an Empathie mit einer Partei kann negative Gefühle gegenüber „den Anderen“ noch verstärken und somit Konflikte verschärfen. Besonders relevant für die durch Medien evozierte Empathie, wie wir sie in Computerspielen finden, erscheint jedoch eine Form, die Breithaupt als empathischen Sadismus bezeichnet. Für den empathischen Sadisten ist das Nachempfinden starker Emotionen an sich lohnend, egal ob es sich nun um Freud oder Leid handelt. Empathischer Sadismus kann dabei auch in Rezipient*innen mit grundsätzlich guten Intentionen auftreten. In literarischen Texten etwa beobachtet Breithaupt, dass Leser*innen die Strapazen der Figuren gutheißen oder jedenfalls billigend in Kauf nehmen, weil das die Euphorie des verdienten Happy Ends noch zu steigern vermag. Ausgehend von dieser These ließe sich in interaktiven Medien wie Computerspielen das Risiko ausmachen, dass Spieler*innen solche Situationen gezielt herbeiführen könnten, um ein stärkeres empathisches Erlebnis zu erzielen. Ob die Fähigkeit zur Empathie Spieler*innen tatsächlich zu ethisch fragwürdigem Handeln in Computerspielen verleitet, bleibt zu bestätigen. Zumindest aber zeigen die hier kurz vorgestellten Forschungsansätze eindrücklich auf, dass Empathie an sich weder inhärent gut noch schlecht ist und nicht zwangsläufig auch moralisches Denken und Handeln bedingt.

Die berechtigte Kritik an „Empathy Games“ und den „dunklen Seiten“ der Empathie bedeutet natürlich nicht, dass wir Spiele wie Path Out oder Dys4ia (2012) nicht mehr spielen, wertschätzen oder entwickeln sollten; ganz im Gegenteil. Jedoch bedürfen auch Spiele mit offensichtlichem Potenzial zur pädagogischen oder ethischen Reflexion einer nuancierten, kritischen Diskussion, die der Komplexität des Gegenstandes gerecht wird.

 

 

 

[1] Wer A Plague Tale kennt, dem wird zu Recht auffallen, dass die Beziehung zwischen Amicia und Hugo durchaus komplizierter ist als oben dargestellt. In der phantastischen Welt von A Plague Tale ist Hugo Träger eines mysteriösen Fluches, der ihm nicht nur die Fähigkeit verleiht, menschenfressende Rattenschwärme auf andere Menschen zu hetzen, sondern der ihn auch in mancher Hinsicht mitverantwortlich für die apokalyptischen Ereignisse macht. Es ist also naheliegend, dass Amicias Gefühle gegenüber Hugo neben Geschwisterliebe auch Abneigung, Ekel oder gar Hass umfassen. Das wird im Spiel jedoch nur ansatzweise thematisiert bzw. nachfühlbar. Im Detail lassen sich noch weitere Diskrepanzen zwischen den Gefühlen Amicias und denen der Spieler*in ausmachen. Zum Beispiel ist Hugo aus Sicht der Spieler*in auch eine Spielfigur, deren Sympathiewert sich in Teilen aus ihrer Nützlichkeit für das Erreichen der Spielziele ergibt und deren Tod mit einem Game Over verbunden ist. Zur nachempfundenen Sorge Amicias kommt also meine eigene Sorge um den Spielfortschritt.  

[2] So etwa kürzlich im Rahmen des Fellowships und Workshops „Gespielte Empathie“ an der Universität Innsbruck.

[3] Die Empathie-Altruismus-Hypothese geht davon aus, dass wir einer Person in Not aus uneigennützigen Motiven helfen, wenn wir ein hohes Maß an Empathie mit ihr empfinden. Siehe Batson, Daniel C., Bruce D. Duncan, Paula Ackerman, Terese Buckley und Kimberly Birch. 1981. „Is Empathic Emotion a Source of Altruistic Motivation? In: Journal of Personality and Social Psychology 40.2: 290-302.

[4] Auch wenn die konkrete Gestalt und Echtheit dieser durch fiktionale Medien erzeugten Emotionen zumindest in der Philosophie noch debattiert wird, z.B. im Kontext des berühmten Paradox der Fiktion. Siehe Radford, Colin. 1975. „How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina“. In: Proceedings of the Aristotelian Society. Supplementary Volumes 49: 67-80.

[5] Für einen Überblick über relevante Forschung aus den Bereichen Literaturwissenschaft, Philosophie, Psychologie und Kognitionswissenschaft, siehe Keen, Suzanne. 2006. „A Theory of Narrative Empathy.“ In: October 14.3: 207-236. www.jstor.org/stable/20107388.

[6] Nakamura, Lisa. 1995. Race In/For Cyberspace: Identity Tourism and Racial Passing on the Internet.https://smg.media.mit.edu/library/nakamura1995.html.

[7] Spielentwicklerin Anna Anthropy etwa prangert in der Installation „Empathy Game“ (2015) die Fehlvorstellung an, man könne durch Spiele Marginalisierungserfahrungen authentisch nachempfinden. Ihre Kritik resultiert aus der medialen Resonanz zu Dys4ia (2012), das für seine Einblicke in Anthropy’s autobiographische Erfahrungen mit Hormontherapien gelobt wurde.

[8] Ruberg, Bo. 2020. „Empathy and Its Alternatives: Deconstructing the Rhetoric of ‚Empathy‘ in Video Games.“ In: Commun Cult Crit 13.1: 54–71. DOI: 10.1093/ccc/tcz044.

[9] Breithaupt, Fritz. 2017. Die dunklen Seiten der Empathie. Suhrkamp.

 

Kurz-Link zum Teilen des Beitrags: https://uni-tuebingen.de/de/252569