Quod erat expectandum – oder was unsere Erwartungen mit Ethik zu tun haben könnten
by Daniel Frank
07.04.2025
Wenn Sie diesen Beitrag lesen, dann tun Sie dies mit gewissen Erwartungen. Vielleicht haben Sie bereits andere Beiträge dieses Blogs gelesen, die Sie interessant fanden, und erwarten nun, dass auch die Lektüre dieses Beitrags keine Zeitverschwendung sein wird. Vielleicht erwarten Sie aber auch nicht zu viel, weil sie von den bisherigen Blogbeiträgen eher enttäuscht waren und sich mehr erwartet hatten. Vermutlich haben Sie bei dem Titel auch schon bestimmte Erwartungen an den Inhalt des Textes – etwa, dass er irgendetwas mit Ethik oder Moral zu tun hat. Also, was haben Erwartungen mit Ethik und Moral zu tun?
Zunächst können wir konstatieren, dass Erwartungen in der Ethik häufig nur implizit oder en passant thematisiert werden, ja, dass allgemein Erwartungen in der Philosophie nur (noch) eine untergeordnete Rolle spielen und ihre Untersuchung in Soziologie und Psychologie ‚ausgewandert‘ ist (vgl. Tiefensee 2013: 28). Schauen wir daher zunächst in die Soziologie, wo sich insbesondere Niklas Luhmann ausführlich mit Erwartungen beschäftigt hat. Nach Luhmann dienen Erwartungen der Komplexitätsreduktion, indem sie eine Vorauswahl an Möglichkeiten dessen selektieren, was geschehen kann. Ich muss mein Handeln nur auf eine begrenzte Anzahl an Möglichkeiten einstellen, nämlich auf die, die ich erwarte. Dabei haben wir nicht nur Erwartungen unpersönlicher Art, wie wir etwa aufgrund unserer vielfachen Erfahrungen erwarten, dass im Frühling die Bäume ausschlagen oder dass eine orange leuchtende Ampel gleich auf rot umschalten wird – und nicht auf grün. Wir haben auch persönliche Erwartungen bezüglich unserer Mitmenschen und deren Handeln und Verhalten.[1] Und diese Erwartungen beruhen nicht nur auf der Regelmäßigkeit ihres Verhaltens. Ich kann zwar erwarten, dass meine Tochter heute Nachmittag ihre Hausaufgaben erledigen wird, weil sie dies gestern und vorgestern getan hat und ebenso an den Schultagen der vergangenen Woche. Doch auch wenn sich mit der Zeit bei ihr eine zunehmende Unlust einstellen sollte und sie das Erledigen ihrer Hausaufgaben immer mehr vernachlässigt, ändert dies nichts an meiner Erwartung, dass sie ihre Hausaufgaben erledigt. Denn dabei handelt es sich nicht um eine kognitive Erwartung, sondern um eine normative. Ebenso, wie das Finanzamt auch dann, wenn ich mehrfach bestimmte Einnahmen unversteuert lasse, nicht von der Erwartung abrücken wird, dass ich diese versteuere. Damit sind zwar einerseits nur manche Erwartungen normativ, Normen hingegen immer auf Erwartungen aufbauend. Denn Normen sind dadurch bestimmt, dass sie irgendeine Form von Sollen beinhalten. Daher können soziale Normen geradezu als Erwartungen und Erwartungserwartungen aufgefasst werden: „Soziale Normen sind Erwartungen und Erwartungserwartungen, die unter den Mitgliedern sozialer Systeme als Rollenspieler gelten. Sie sind deshalb ein Strukturbestandteil sozialer Systeme.“ (Preyer 2012: 77)
Luhmann macht den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Erwartungen daran deutlich, wie wir auf deren Fehlschlagen reagieren, d.h. wenn wir erkennen, dass es eine Differenz gibt zwischen unserer Erwartung und der Realität. Während wir für gewöhnlich davon ausgehen können, dass unsere Erwartungen erfüllt werden, müssen wir in komplexen Situationen davon ausgehen, dass diese enttäuscht werden. Während wir auf die Enttäuschung von Erwartungen, die lediglich auf der regelmäßigen Erfahrung beruhen, mit Lernen, reagieren, bleibt das Lernen bei der Enttäuschung von normativen Erwartungen aus. D.h. wir halten an unseren normativen Erwartungen tendenziell fest, auch wenn sie enttäuscht werden. Während wir bei der Enttäuschung unserer kognitiven Erwartungen den Fehler bei uns bzw. in unserer Sicht auf die Welt diagnostizieren, sind wir der Ansicht, dass etwas in der Welt falsch läuft und diese sich ändern muss, wenn unsere normativen Erwartungen enttäuscht werden. Oder mit Luhmann gesprochen, es handelt sich um „Verhaltenserwartungen, die sich durch faktisches Verhalten nicht irritieren lassen, sondern auch dann festgehalten werden, wenn sie enttäuscht werden“ (Luhmann 1992: 231).[2] Auch wenn ich mein Auto regelmäßig ohne einen Parkschein in einer der Tübinger Parkzonen parke, kann ich beim Ordnungsamt kaum auf einen Lerneffekt hoffen, der die dortigen Erwartungen meinem Verhalten anpasst.[3] Denn dieses normative Erwarten ist im Sinne eines Forderns oder Einforderns bzw. eines Verlangens zu verstehen. Hier wird ein Anspruch erhoben, der über die Enttäuschung hinaus aufrechterhalten wird, und zwar zunächst einmal unabhängig davon, ob er berechtigt ist oder nicht.
Damit haben wir zwar normative von kognitiven Erwartungen unterschieden. Doch muss dies noch nicht unbedingt etwas mit Moral und Ethik zu tun haben. Schließlich kennen wir unterschiedliche soziale Normen außerhalb der Moral, etwa juridische Gesetze, Konventionen der Rechtschreibung oder Normen der Höflichkeit und der Etikette. Gerade letztere sind oft nur schwer von moralischen Normen zu unterscheiden und es ist durchaus umstritten, ob eine Abgrenzung überhaupt möglich ist. Allerdings wird in der Ethik überwiegend davon ausgegangen, dass es tatsächlich einen Unterschied gibt und dieser sich gerade am Universalisierungsanspruch moralischer Normen zeigt (vgl. Birnbacher 2007: 51f.). Demnach erheben nur Moralnormen den Anspruch auf universale Zustimmung.[4] Wer es etwa für unmoralisch hält, zu lügen, der erwartet auch von anderen, dass sie nicht lügen. Und noch weitergehend: Er oder sie erwartet auch von anderen, dass diese wiederum von anderen erwarten, dass diese nicht lügen. Wer es für moralisch falsch hält, zu lügen, der erwartet von anderen, dass diese sich dafür einsetzen, dass nicht gelogen wird. Bei anderen sozialen Konventionen ist dies nicht der Fall. Wenn in der Region, in der ich lebe, bestimmte Kleidungskonventionen üblich sind, so muss ich nicht der Ansicht sein, dass diese auch woanders vorherrschen sollten. Und wenn in dem Land, in dem ich lebe, Linksverkehr herrscht, dann muss ich nicht erwarten, dass die Einwohner:innen anderer Länder, in denen Rechtsverkehr herrscht, sich auch dafür einsetzen sollten, dass in ihren Ländern auch Linksverkehr eingeführt wird. Ich erhebe keinen Universalisierungsanspruch (vgl. Hoerster 2022: 16f.).
Kurz: Moralische Normen gehen demnach mit bestimmten normativen Erwartungserwartungen einher.[5] Und diese wiederum sollten kommuniziert werden, wenn sie ihre normstabilisierende (oder normetablierende) Wirkung entfalten sollen. Dies wird daran deutlich, dass wir über die Kundgabe moralischer Gefühle wie Empörung und Entrüstung nicht nur versuchen, uns selbst ins rechte moralische Licht zu rücken, sondern auch bei anderen eine Verhaltenssteuerung bewirken möchten. Doch, ähnlich wie wir es im Bereich des Sozialen mit Erwartungen und Erwartungserwartungen zu tun haben, so finden wir hier auch primäre und sekundäre Sanktionen, mit denen wir auf die Enttäuschung unserer Erwartungen reagieren. (Siehe hierzu und für das Folgende Hallich 2020.) D.h. die Äußerung moralischer Gefühle dient einerseits als Sanktionsinstrument zur Handlungssteuerung, wird zugleich aber auch selbst wiederum durch Sanktionen gesteuert, indem ihr Ausbleiben sanktioniert wird. So empören wir uns häufig nicht nur über ein bestimmtes Verhalten oder einen Sachverhalt. Wir empören uns auch darüber, dass sich andere über diesen Sachverhalt nicht empören – wir haben normative Erwartungen an ihre Reaktion und fordern moralische Gefühle wie Empörung und deren sichtbare Performanz ein (vgl. ebd.: 72ff.). Doch sollten wir uns immer fragen: Tun wir dies zurecht? Was, wenn es sich bei dem empörenden Sachverhalt gar nicht um einen moralischen Verstoß handelt, sondern nur um einen Fauxpas gegen die üblichen Gepflogenheiten? Wir kennen keine ,zwei Modi‘ der Empörung und reagieren auf Verstöße gegen beide Normtypen ähnlich (vgl. ebd.: 75f.).
Daher müssen wir auf ein zweites Kriterium zur Abgrenzung zwischen moralischen Normen und anderen sozialen Konventionen zurückgreifen. Und dies wird aus Sicht universalistischer Ethik in der Begründung bzw. Begründbarkeit gesehen. Wenn ich erwarte, dass auch andere sich eine entsprechende Norm zu eigen machen und deren Einhaltung wiederum von Dritten einfordern, dann sollte ich dafür auch Gründe liefern können.
Kehren wir abschließend noch einmal zu Luhmann und der Unterscheidung zwischen kognitiven und normativen Erwartungen zurück. Luhmann gesteht unverhohlen zu, dass die „Ingredienzien des Sollens […] schon recht kompliziert“ (Luhmann 1992: 43) sind, und ist auch etwa in Bezug auf ihre Problemlösekompetenz der Moral eher skeptisch eingestellt – so skeptisch, dass er es sogar als „die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik [ansieht], vor Moral zu warnen“ und diese einzugrenzen (ebd.: 266). Doch auch wenn wir unsere normativen Erwartungen im Gegensatz zu kognitiven Erwartungen nicht alleine durch die Erfahrung von Enttäuschungen ändern mögen, besteht vielleicht die Möglichkeit, dass wir sie dann ändern, wenn wir gute Gründe finden, die für die enttäuschende Realität eine Rechtfertigung liefern. Mit Luhmann ist das zwar nicht unbedingt zu erwarten – aber mit der universalistischen Ethik vielleicht zu hoffen.
Fußnoten
[1] Im Umgang mit anderen Individuen kommt es zur doppelten Kontingenz, da diese selbst wieder, aufgrund ihrer Erwartungen, ihr Handeln ausrichten. Ich muss mein Handeln also nicht nur am erwarteten Handeln des anderen ausrichten, sondern auch an dessen Erwartungen. Dies lässt sich natürlich iterieren. Denn auch der andere hat Erwartungen über meine Erwartungen bezüglich seines Handelns und richtet sein Handeln danach aus usw.
[2] Luhmann geht auf diese Differenz in diesem und seinen anderen Werken vielfach ein. Allerdings weist er ebenso darauf hin, dass die beiden Formen von Erwartungen häufig auch ineinander übergehen und das „komplette Auseinanderziehen“ (Luhmann 1984: 437) kaum möglich ist.
[3] Dies schließt nicht aus, dass auf politischer Ebene massenhafte Regelverstöße bestimmte Verhaltenserwartungen faktisch oder sogar normativ verändern können.
[4] Dies bedeutet nicht, dass damit behauptet wird, dass moralische Normen faktisch überall gelten und anerkannt sind.
[5] Wohlgemerkt, dies bedeutet nicht, dass andere diese Erwartungen auch tatsächlich haben.
Literatur
Birnbacher, Dieter (2007): Analytische Einführung in die Ethik, 2. Aufl., Berlin.
Hallich, Oliver (2020): Was ist Moralismus? Ein Explikationsvorschlag, in: Neuhäuser, Christian/Seidel, Christian (Hg.): Kritik des Moralismus, Frankfurt am Main, S. 61-80.
Hoerster, Norbert (2022): Was ist Moral? Eine ganz kleine Einführung, Stuttgart.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme, Frankfurt am Main.
Luhmann, Niklas (1992): Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt.
Tiefensee, Eberhard (2013): Erwartung ist all das, was enttäuscht werden kann. Eine Hinführung aus philosophischer Sicht, in: Journal Tumorzentrum Erfurt e.V., Heft 1, S. 28-32.
Preyer, Gerhard (2012): Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe. Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen, Wiesbaden.
Autor: Daniel Frank
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