Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Biodiversitätskrise, Klimakrise, Vielfachkrise

Von Herausforderungen und Lösungen

Christine von Weizsäcker war Festrednerin der diesjährigen Sustainability Lecture. Die Biologin und Umweltaktivistin verdeutlichte, weshalb insbesondere die Biodiversitätskrise im aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs häufig vernachlässigt wird. Wie in bestimmten Bereichen Lösungen gelingen können, veranschaulichten sechs Abschlussarbeiten, die mit dem Nachhaltigkeitspreis der Universität 2023 ausgezeichnet wurden.

Zu Beginn der Veranstaltung, die vom Kompetenzzentrum für Nachhaltige Entwicklung (KNE) am Ethikzentrum (IZEW) organisiert wurde, betonte Prof. Dr. Thomas Potthast, dass in diesem Jahr der Jury die Auswahl der sechs Arbeiten aus einer Vielzahl herausragender Bewerbungen nicht leichtgefallen sei.

Ausgezeichnet wurden je drei Bachelor- und Masterarbeiten. Die Bachelor-Preisträgerinnen sind Mareike Andert (Politikwissenschaft), Jana Mayer (Umweltnaturwissenschaften) und Leonie Sohr (Lehramt Ethik/Philosophie und Chemie). Mareike Andert widmete sich in ihrer Abschlussarbeit der geplanten Regionalstadtbahn Neckar-Alb und untersuchte, inwieweit die von Befürworter*innen und Gegner*innen des Projekts verwendeten Narrative zum Entscheid gegen die Innenstadtstrecke durch Tübingen führten. Um die Auswirkungen von Windparks auf kontinentaler Ebene abzuschätzen, untersuchte Jana Mayer in ihrer Arbeit Konflikte zwischen geplanten Windparks und Naturschutzgebieten auf dem afrikanischen Kontinent. Leonie Sohr bewertete unter ethischen Gesichtspunkten den Einsatz von Phosphonaten in Waschmitteln, deren Abbauprodukte als umweltkritisch einzustufen sind.

Die prämierten Masterarbeiten stammen von Niklas Best (Geoökologie), Carina Haller (International Economics) und Jonas Mertens (Molekulare Medizin). Niklas Best widmete sich in seiner Arbeit der Erfassung zweier Ökosystemleistungen im urbanen Raum und zeigte, wie Städte zum Umwelt- und Klimaschutz beitragen können. Carina Haller hat in ihrer Arbeit den Energieverbrauch einkommensschwacher Haushalte analysiert und daraus sozialpolitische Implikationen abgeleitet. Jonas Mertens untersuchte, durch welche Immunmechanismen sich die Ausbreitung des Malariaerregers Plasmodium in der Leber stoppen lässt und stellte den Bezug zum UN-Nachhaltigkeitsziel „Gesundheit und Wohlergehen“ her.

 „Wundern Sie sich bitte nicht, wenn ich nicht über Pandas, Orchideen und Wale rede.“ So eröffnete Christine von Weizsäcker im Anschluss an die Preisverleihung ihre Sustainability Lecture – und versprach einen differenzierten Blick auf die gegenwärtigen Krisen. Die vielfach für ihr Engagement ausgezeichnete Biologin saß an den Verhandlungstischen verschiedener internationaler Abkommen zum Schutz der Umwelt und ist bis heute Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Das UN-„Übereinkommen über die biologische Vielfalt“ (CBD/Biodiversitätskonvention von 1992) bezeichnete Frau von Weizsäcker zwar als Höhepunkt multilateraler Abkommen, benannte jedoch im gleichen Zuge Rückschläge und Herausforderungen. Globale Sachstandberichte zeigen, dass der Biodiversitätsverlust bis heute dramatisch anwächst, und entscheidende Treiber zwar identifiziert sind, aber mitnichten aufgehalten werden. Bis heute werde biodiversitätsschädigendes Verhalten in großen Teilen sogar ungebremst subventioniert: „Biodiversitätspolitik muss scheitern, solange so viel in Maßnahmen investiert wird, die Natur systematisch zerstören“. Fassungslos äußerte sie sich zu dem jüngsten Beschluss der EU-Kommission, die Zulassung des Totalherbizids Glyphosat um weitere zehn Jahre zu verlängern.

Dabei sei die Biodiversitätskrise ‘nur‘ eine unter vielen weiteren Krisen. Frau von Weizsäcker richtete den Blick u.a. auf Armut, Hunger, Kriege, Klimawandel und die Macht der Konzerne und Superreichen. Auf der Suche nach Antworten auf diese Krisen treffe man auf schwache Rechtssysteme, wachsende Unsicherheit, Polarisierung, tief verschuldete Staaten und reiche Länder, die ihr Gewissen lieber mit CO2-Zertifikaten reinwaschen als ihren Lebensstil anzupassen. Auch neue, vermeintlich naturbasierte Lösungen riefen in der Realität teilweise unlösbare Flächenkonflikte hervor. Echte Lösungsbeiträge sieht Frau von Weizsäcker hingegen in einer echten Verantwortungsübernahme reicher Länder, z.B. durch starke Lieferkettengesetze. Die Grundsätze der UN-Umweltkonferenz von Rio 1992 hätten bis heute keine Bedeutung eingebüßt. Problematischer seien die sektoralen Zielsetzungen der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele: Was tatsächlich zähle, seien konsolidierte Positionen als Konsens verschiedener Sektoren und die Integration verschiedener Politikfelder, wie die Festrednerin am Beispiel des Konzeptes „One Health“ verdeutlichte.

Auch im aktuellen Wissenschaftssystem identifizierte sie Hindernisse auf dem Weg zu Lösungen: So werde Wissenschaft zunehmend nur als Beitrag zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit gesehen und es gelte als unwissenschaftlich, politische Lösungen vorzuschlagen. Entsprechend appellierte sie an gestandene Wissenschaftler*innen, inter- und transdisziplinäre Exzellenz explizit zu fördern und bei Berufungen zu berücksichtigen. Zugleich forderte sie zu intellektueller Bescheidenheit auf: Das Hinweisen auf Wissenslücken helfe, interdisziplinäre und interkulturelle Zusammenarbeit voranzubringen.

Frau von Weizsäcker stellte schließlich in Frage, ob der Begriff der Krise überhaupt zutreffend sei: Denn viele der gegenwärtigen „Krisen“ seien nicht plötzlich und unerwartet eingetreten. Lieber spreche sie von einer „Suche nach einem lückenlos gangbaren, schadensminimierenden, ressourcenkonfliktvermeidenden und gerechten Weg des Übergangs zu einer nachhaltigeren Kultur“. Große Hoffnungen setze die Biologin auf eine Wissenschaft, die mit systemischen, multidimensionalen, inter- und transdisziplinären und partizipativen Herangehensweisen auf die multiplen Krisen reagiert und zu Lösungen beiträgt. Ganz in diesem Sinne – und dem der Nachhaltigkeitspreise – hob sie zum Abschluss die Rolle der Universitäten als „Orte des strukturell unterstützten, gemeinsamen, kreative Wissensdurchbrüche fördernden und feiernden Lernens“ hervor.

Eine Aufzeichnung der Sustainability Lecture kann hier abgerufen werden.

 

Charlotte Müller und Maximilian Irion