Tübinger Fortbildung zu Heterogenität in Unterricht und Schule (TüFHUS)
Konzeption
Die Heterogenität von Schüler*innen wird in der Regel als ein ‚naturalistischer‘ Sachverhalt behandelt, mit dem die professionelle Praxis in Schule und Unterricht zwar zu rechnen, den sie jedoch nicht zu verantworten hat. Im Unterschied dazu betrachtet der Tübinger Fortbildungsansatz ‚Heterogenität‘ als ein von Beobachtung abhängiges Phänomen, das nicht von außen in die Schule hineingetragen, sondern durch institutionelle und professionelle Unterscheidungspraxen schul- und unterrichtsintern generiert wird (vgl. Emmerich/Hormel 2013). Dieser Perspektivwechsel eröffnet neues Reflexionspotenzial in Bezug auf den ‚Umgang mit Heterogenität‘: Die Frage ist nicht mehr, wie vermeintlich reale Unterschiede zwischen Lernenden in der pädagogischen Praxis erkannt werden und wie Lehrkräfte mit diesen (besser) umgehen können, sondern wie und auf Basis welcher personenbezogenen Unterscheidungen Lehrkräfte Heterogenität zu einem für sie relevanten Sachverhalt machen und welche Unterrichtsprobleme damit möglicherweise selbst erzeugt werden. Im Fokus des Reflexionsansatzes stehen entsprechend nicht mehr die Schüler*innen und ihre Eigenschaften, sondern die Lehrkräfte selbst: Analysiert wird die eigene Beobachtungspraxis, insbesondere die situative Anwendung von Heterogenitätsdimensionen und die unterrichtspraktischen Anforderungen, die mit der Konstruktion von Unterschieden (Diagnose) bewältigt werden.
Ziel des Fortbildungskonzepts ist es entsprechend, die Kontingenz pädagogischen Beobachtens im Unterrichtsgeschehen sichtbar und der professionellen (Selbst-)Reflexion zugänglich zu machen:
- Anhand videographierter Unterrichtssequenzen und Interviewaussagen von Lehrkräften werden die Teilnehmer*innen der Fortbildung in einem ersten Schritt dazu angeleitet, die Kontingenz von Beobachtungsweisen anhand fremder, d.h. Beobachtungsdistanz ermöglichender ‚Fälle‘ zu rekonstruieren.
- In einem zweiten Schritt erstellen die Teilnehmer*innen dichte Beschreibungen sowie Gedankenprotokolle zu erlebten Situationen in ihrem eigenen Unterricht, um eigene schüler*innenbezogene Unterscheidungen sowie deren Situierung im Kontext des Unterrichtsgeschehens sichtbar zu machen.
- In einem dritten Schritt analysieren die Teilnehmenden ihre eigenen Beobachtungen entlang der Leitfrage, welche alternativen Unterscheidungen und Situationsdeutungen in der jeweiligen Situation mögliche gewesen wären. Den Teilnehmer*innen wird damit die Möglichkeit gegeben, ‚Heterogenität‘ als eigenes Kausalschema zu hinterfragen und auf die Beobachtung eigener Heterogenitätszuschreibungen umzustellen.
- In einem vierten und letzten Schritt setzen sich die Teilnehmenden mit den Folgen einer ‚alternativen‘ Beobachtungspraxis auseinander: Sie werden aufgefordert, in wiederkehrend als problematisch erachteten Unterrichtssituationen eine gegenüber dem Schema ‚Heterogenität‘ alternative Situationsdeutung zu erproben und Handlungsroutinen zu variieren. Der ‚Praxistest‘ wird ebenfalls dokumentiert und bietet die Grundlage, um die praktischen Folgen der veränderten Beobachtungspraxis zu analysieren.
Der innovative Ansatz des Fortbildungskonzepts besteht darin, Lehrkräfte im Rahmen der 3. Phase zu befähigen, sich selbst als Beobachtende zu beobachten, d.h. sich ihre eigene Praxis reflexiv anzueignen und zu transformieren. Lehrkräfte werden hierbei als erfahrene und kompetente Professionelle ernstgenommen, die bereits ‚funktionierende‘ Problem-Lösungs-Muster für die alltäglichen Anforderungen des Unterrichts in ‚heterogenen‘ Lerngruppen entwickelt und routinisiert haben. Die Teilnehmenden setzen sich mit der Kontingenz eigener Heterogenisierungsperspektiven auseinander und entwickeln idealtypisch die Fähigkeit, alternative Problem-Lösungs-Muster zu generieren und damit ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Eine universitäre Fortbildung entlastet hierbei nicht nur vom Erwartungsdruck unmittelbarer, quasi-technologischer Anwendbarkeit; sie bietet insbesondere die Möglichkeit, praxeologisch gebildete Kausalschemata zu hinterfragen und fungiert insofern als Reflexionsagent, als die unterrichtlichen Entscheidungen, Heterogenitätskonstruktionen situativ zu nutzen, im Verantwortungsbereich der Professionellen verbleiben.
Dieses intensive und anforderungsreiche Fortbildungsformat ist gezielt auf die Situation erfahrener Lehrkräfte zugeschnitten, die bereits über eine langjährige Berufserfahrung verfügen. In allen Phasen der Fortbildung arbeiten die Teilnehmenden als Gruppe, die lernt, Unterrichtssituationen als Fälle zu analysieren, ohne das Handelns der Lehrkräfte und Schüler*innen normativ zu bewerten. Das Tübinger Fortbildungsformat fördert mit der Befähigung zur Reflexion nicht nur eine zentrale professionelle Kompetenz von Lehrkräften (vgl. Helsper 2001, Berndt/Häcker/Leonhard 2017), sondern stärkt sie in ihrem eigenen, heterogenitätssensiblen Professionalisierungsprozess im schulischen Alltag.
Literatur
- Berndt, C., T. Häcker & T. Leonhard (2017). Reflexive Lehrerbildung revisited: Traditionen - Zugänge - Perspektiven. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, Julius.
- Emmerich, M. & Hormel, U. (2013). Heterogenität - Diversity - Intersektionalität. Zur Logik sozialer Unterscheidungen in pädagogischen Semantiken der Differenz. Wiesbaden: Springer VS.
- Helsper, W. (2001). Praxis und Reflexion – die Notwendigkeit einer „doppelten Professionalisierung“. Journal für LehrerInnenbildung 1: 7–15.
Autoren
- Prof. Dr. Marcus Emmerich, Universität Tübingen/Tübingen School of Education
- Dr. Daniel Goldmann, Universität Tübingen/Tübingen School of Education
Das Projekt wird im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.