Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

16.12.2013

Mündliche Prüfung / Disputation von Claudia Bosch, M.A.

Mo, 16.12.2013, 13.00 Uhr

Ort: LUI, Ausstellungsraum

Mündliche Prüfung / Disputation von Claudia Bosch, M.A.

Berichterstatter: Prof. Dr. Kaspar Maase, Prof. Dr. Monique Scheer



Festzelte stehen auf vielen Volksfesten. Regelmäßig beziehen sich kultursoziologische und -
philosophische Arbeiten (meist abwertend) auf das dortige Vergnügen, obwohl die anzutreffenden
Unterhaltungsformen bislang nicht umfassend ethnografisch untersucht wurden. Diese Lücke schließt
die vorliegende Arbeit. Sie fragt nicht nur, was an einem idealtypischen Bierzeltabend auf dem Cannstatter
Volksfest geschieht, sondern welche Prozesse bedingen, dass eine festive Ausgelassenheit
entsteht, in der gewisse normal-übliche Ordnungen gebrochen werden. Um diese Ereignisse in den
Wasen-Bierzelten zu entschlüsseln, nutzt die Studie Victor Turners Konzept der Cultural Performance.
Gemäß diesem findet ein bedeutungsvoller Gesamtprozess kultureller Praktiken in der dreiteiligen
Form – Separierung (Herauslösung aus den alltäglichen Bezügen), Liminalität (Schwellenzustand)
und Reaggregation (Wiedereingliederung) – statt. Gerade im Ordnungsfreiraum der mittleren
Phase treten neben der Festcommunitas, dem Flow-Zustand und einer performativen Reflexivität
auch gesellschaftliche Beziehungsgefüge in umgeordneter Form als Anti-Struktur hervor.
Basierend auf einem Methodenmix von teilnehmender Beobachtung, Experteninterviews, einer
Umfrage unter Zeltbesuchswilligen sowie Webcam-Auswertungen (auch Youtube-Videos) beschreibt
die Arbeit detailliert, wie Besucher(innen) einen Bierzeltabend vom Einkleiden, der Anreise,
dem Singen, Tanzen und Trinken bis hin zum ‚Absacker‘ auf dem Heimweg begehen. In der prozessualen
Gesamtschau zeigt sich dabei, dass erstens der festive Ablauf einer sich auf- und abbauenden
Dynamik unterliegt. Zweitens kennzeichnet die Ereignisse im Zelt ein komplexes, fortwährendes
Zusammenspiel mehrerer Faktoren wie räumliche Inszenierung, Musik, Alkoholkonsum und nicht
zuletzt das intensive Mitwirken der Besucher(innen). Drittens weist das Feiern einen liminoid-liminalen
Mischcharakter auf und entspricht weder einem Ritual noch einem Folkloreabend. Vielmehr reflektieren
die vollzogenen Interaktionen den sozialen Wandel. Individuellere Vergnügungsmuster (wie Reihentanzen)
lösen eher geschlossen-kollektive Handlungen (wie Schunkeln) ab. Wenngleich liminalrituelle
Praktiken (das Zutrinken, ein gemeinsames Mahl oder das egalitäre ‚Hocken‘ auf den Bänken)
gepflegt werden, in denen ältere kulturelle Muster mitschwingen, präsentiert sich das Feiern gleichzeitig
als flexibel, unverpflichtend und individuell motiviert. Die Handlungen der Teilnehmer(innen) werden
synchronisiert. Kontrolliertes Agieren und spontane Ausbrüche existieren neben-, nach oder miteinander.
Und dies, obwohl von den Betreibern per Musikprogramm und amtlicher Vorschriften ein
Handlungsgerüst vorgegeben wird.
Diese festiven Routinen schaffen eine Sicherheit (Festigkeit), in der die Feiernden ausgelassen
(quasi ‚flüssig‘) sein können. Im Vergleich mit alltäglichen Normen finden Transgressionen statt,
die im Festzelt jedoch ‚gehörigem‘ Verhalten entsprechen. Von allen Beteiligten wird eine für das
Festzelt gewöhnliche Alterität kreiert, die den Besucher(inne)n Freiräume eröffnet, indem sie Zugehörigkeiten
schafft. Umkehrungen von sozialen Gegebenheiten (Anti-Struktur) und deren Affirmationen
(Struktur) fallen zusammen. Im scheinbar ungeordneten Schwellenzustand entsteht eine Ordnung,
die wiederum befreit.

Alle Mitglieder der Fakultät können nach Maßgabe der vorhandenen Plätze als Zuhörer an der mündlichen Prüfung
teilnehmen. Die Teilnahme erstreckt sich nicht auf die Beratung und auf die Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses.

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