11.12.2021
Für Jahrhunderte gemacht und trotzdem hochaktuell
Welches Konzept taugt am ehesten zur Interpretation unserer Verfassung?
Habilitierenden eine Plattform zu bieten, im Diskurs mit der Hörerschaft ihre Forschungsprojekte zu präsentieren – das Forum Junge Rechtswissenschaft macht seiner engagierten Zielsetzung alle Ehre und hat in diesem Jahr bereits seine dritte Veranstaltung auf die Beine gestellt.
Ebenso jung und dynamisch, aber zugleich verbunden mit dem Gedanken der Rückbesinnung auf einen historischen, unveränderlichen Kern der Verfassung, präsentierte Referent Dr. Michael Müller ein methodisches Konzept zur Interpretation des Grundgesetzes. Zentrales Thema seines Vortrags am Donnerstag, dem 25. November, war die Frage, wie Verfassungsinterpretation mit dem zunehmenden Alter von Verfassungen umgehen kann. Immerhin feierte das Grundgesetz jüngst sein siebzigstes Jubiläum und ist damit in der deutschen Verfassungsgeschichte der Verfassungstext mit der längsten Geltungsdauer.
Zunächst stellte Müller die Methodik der Verfassungsinterpretation in einen internationalen, rechtsvergleichenden Kontext und erläuterte den in der US-amerikanischen Rechtswissenschaft entwickelten Ansatz eines „living originalism“ (Jack Balkin). Dieser geht vom hypothetischen Willen des Verfassungsgebers aus, kombiniert diesen „originalism“ aber mit der Möglichkeit einer Öffnung für dynamische Abläufe, die gesellschaftlichem, ökonomischem und technischem Wandel Rechnung tragen.
Müller stellte sein Verständnis einer eingeschränkt-dynamischen Auslegung des Grundgesetzes als Komplementärmodell zum Ansatz des „living originalism“ vor. Es geht von einer im Grundsatz dynamischen Auslegung aus. In Zweifelsfällen soll jedoch eine Rückführung der Verfassungsbestimmungen auf den änderungsfesten, den Willen des Verfassungsgebers konservierenden Kern des Grundgesetzes eine zweite Auslegungsebene eröffnen.
Der Vortragende führte aus, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bei der Beantwortung verfassungsrechtlicher Fragen im allgemeinen den Schwerpunkt auf die Bestimmung des Normzwecks als „objektive“ Auslegungsmethode lege. Das Verständnis der Norm selbst sei wandelbar, sodass diese Vorgehensweise erhöhte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit biete.
Allerdings, so Müller, werde beispielsweise anhand der Wunsiedel-Entscheidung offenkundig, dass auch die Rückbesinnung auf den historischen Grundkontext für die Verfassungsinterpretation gewinnbringend eingesetzt werden könne. In diesem Zusammenhang wurde das Grundgesetz aus dem historischen Gesamtverständnis heraus sogar über den Verfassungswortlaut hinaus als „Anti-Nazi-Verfassung“ zur Rechtfertigung von Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Stellung gebracht.
Müller verfolgt mit seinem Modell nicht den in der Literatur teilweise vertretenen radikalen Ansatz eines historischen Verfassungsverständnisses, wonach die in Art. 79 III GG niedergelegten, unveränderlichen Strukturentscheidungen die Grenzen der materiellen Auslegung setzen. Er betrachtet Art. 79 III GG vielmehr ebenfalls als ausfüllungsbedürftig und dessen Strukturentscheidungen als Orientierungspunkt in Zweifelsfällen. Anschaulich verdeutlichte er diesen Ansatz anhand eines „Schneckenmodells“: Die unveränderlichen Strukturentscheidungen des Grundgesetzes dienten dabei als Fixpunkte in der Mitte des Schneckenhauses. Während die Menschenwürde und Staatsstrukturprinzipien in der Mitte des Schneckenmodells anzusiedeln seien, würden die Grundrechte sowie die Ausgestaltung der Staatsstrukturprinzipien der Peripherie zugeordnet. Je weiter außen sich ein Bezugspunkt befinde, desto dynamischer sei dessen Gehalt in der Auslegung.
Bedeutung und Konsequenzen seines Ansatzes für die Praxis erläuterte Müller anhand von drei verfassungsrechtlich brisanten Fragen, die sich in der Vergangenheit stellten: Ist das Besitzrecht des Mieters Teil des von der Verfassung geschützten Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs.1 GG? Welche Grenze setzt das Grundgesetz den durch technischen Wandel vermittelten Überwachungsmöglichkeiten? Fällt die gleichgeschlechtliche Ehe unter den Ehebegriff der Verfassung?
Müller legte dar, dass das Bundesverfassungsgericht den Eigentumsbegriff des Grundgesetzes vom Kerngedanken der Eröffnung von Freiheitsräumen her zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung bestimme. Dieser lasse sich seinerseits als Ausdruck einer autonomie-sichernden Würdekonzeption begreifen. Besonders deutlich werde eine die Grundrechtsinterpretation steuernde Funktion der Menschenwürde in der Rechtsprechung zum Schutz der Privatheit. Die Menschenwürde verstärke dort nicht nur die allgemeine Handlungsfreiheit zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, das Schutz gegen neue Gefährdungslagen bieten solle. Sie markiere auch einen Bereich höchstpersönlicher Privatheit, der absoluten Schutz gegenüber Überwachungsmaßnahmen genieße.
Auch für die Konturierung des Ehebegriffs könnte laut Müller letztlich der autonomiesichernde Kern der Menschenwürde entscheidend sein. Dieser erlaube gerade ein dynamisches Verständnis des Ehebegriffs, welches der gesellschaftlichen Überwindung früherer Konventionen Rechnung trage und die Freiheit des Individuums bei der autonomen Gestaltung seines Lebens realisiere.
Der Vortragende präsentierte eine für die Rechtswissenschaft höchst interessante und kontroverse Thematik, was sich insbesondere in der anschließenden regen Diskussion zeigte. Grundlegende Fragen der Verfassungsinterpretation wurden ebenso lebhaft und freudig diskutiert wie Einzelheiten zum vorgestellten Konzept.
Die Ankündigung der Zoom-Gastgeberin Sabine Schäufler, Müllers Vortrag sei „gereift wie ein guter Wein“, bewahrheitete sich. Pandemiebedingt fand die Veranstaltung im rein digitalen Format statt.
Text: Alina Rehmann
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