Unter dem Titel "Mirroring Society in Neuroscience" organisierte das College of Fellows am 9. Juli eine interdisziplinäre Podiumsdiskussion zwischen Vittorio Gallese und Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin, in welcher sie aus unterschiedlichen Perspektiven die Spiegelungsverhältnisse von Gesellschaft und Neurowissenschaften erörterten und sich unter anderem folgenden Fragen widmeten:
Wo ist mein Verstand? Welchen Einfluss hat das Paradigma der embodied cognition (der ‚verkörperten‘ Kognition), die ihn nicht (allein) im Kopf lokalisiert, auf das Verständnis menschlicher Entwicklung und sozialer Interaktionen? Wie spiegeln neurowissenschaftliche Paradigmen oder auch pathologisierende psychiatrische Diagnosen gesellschaftliche Überzeugungen wider?
In diesem interdisziplinären Podiumsgespräch erörterten mit Prof. Vittorio Gallese und Prof. Andreas Heinz zwei Forschende, die angemessen komplexe Fragen an Gehirnfunktionen wie an psychische Gesundheit und Krankheit zu stellen suchen, aus unterschiedlichen Perspektiven die Spiegelungsverhältnisse von Gesellschaft und Neurowissenschaften. Denn die Funktionsweisen des Gehirns sind nicht zu beschreiben, wenn dessen kontinuierliche Wechselwirkungen mit dem Körper und dem sozialen Umfeld außer Acht gelassen werden. Auch medizinische und psychiatrische Diagnosen stehen immer im Kontext gesellschaftlicher Diskurse etwa über psychische Krankheit oder Gesundheit.
Gallese und Heinz hielten jeweils einen kurzen Impuls-Vortrag und führten im Anschluss eine moderierte Diskussion; beide sind nicht nur führende Fachvertreter ihrer jeweiligen Disziplinen, sondern auch versierte Verfechter des interdisziplinären Dialogs.
Die Diskussion moderierte PD Dr. Niels Weidtmann (College of Fellows) und Prof. Andreas Bartels (Neurowissenschaften/ Werner Reichardt Centre for Integrative Neuroscience).
Focus Group "Neuroscience and Society"
Die Veranstaltung findet als eine der Aktivitäten der Focus Group "Neuroscience and Society" am College of Fellows statt.
Die Focus Group Neuroscience and Society arbeitet an interdisziplinären Fragestellungen an der Schnittstelle von Neurowissenschaft und Geisteswissenschaften. Sie untersucht, inwiefern neurowissenschaftliche Forschungen Relevanz für die Geistes- und Sozialwissenschaften haben – und umgekehrt. Dass menschliches Verhalten und Handeln immer häufiger auf neuronale Prozesse zurückgeführt werden, stellt die Geistes- und Sozialwissenschaften, in deren Kompetenzbereich solche Fragen bislang fielen, vor Herausforderungen, bietet aber auch die Chance zu interdisziplinärer Forschungsarbeit. Durch das Überschreiten von Fächergrenzen öffnen sich hier unerwartete Perspektiven, sodass sich fachspezifische Fragen neu perspektivieren und gemeinsam Antworten finden lassen.
Die Focus Group zielt auf einen Austausch zwischen Neuro- und Kognitionswissenschaften, Psychiatrie und Geistes- und Sozialwissenschaften wie Philosophie und Literaturwissenschaft und steht damit in der Tradition der vom Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften und dem College of Fellows co-organisierten „CIN Dialogues at the Interface of the Neurosciences and the Arts and Humanities“. Sie bietet einen Ort für den interdisziplinären Dialog und die fächerübergreifende Zusammenarbeit an der Universität Tübingen, an der international renommierte Neurowissenschaften auf starke Geistes- und Sozialwissenschaften treffen. Ihre Aktivitäten organisiert sie im Sommersemester 2024 um den Aufenthalt und die Forschungsarbeiten von Prof. Vittorio Gallese. Mehr Informationen zur Focus Group finden Sie hier.
Prof. Dr. Vittorio Gallese, seit 2006 Professor für Psychobiologie an der Università degli Studi di Parma, gilt als einer der weltweit führenden Experten im Bereich der sozialen Neurowissenschaften. Er war Professor für experimentelle Ästhetik an der University of London (2016-2018), Einstein Visiting Fellow an der Berlin School of Mind and Brain (2016-2020), KOSMOS Fellow an der Humboldt Universität Berlin (2013-2014) und Visiting Professor an der University of California, Berkeley, USA (2002). Im Sommersemester 2024 ist er als Humboldt-Forschungspreisträger an der
Universität Tübingen zu Gast.
Gallese ist Experte für Neurophysiologie, kognitive Neurowissenschaften, soziale Neurowissenschaften und Philosophie des Geistes und einer der Entdecker der Spiegelneuronen. In seiner Forschung sucht er die funktionelle Organisation der Gehirnmechanismen zu ergründen, die der sozialen Kognition zugrunde liegen, wie etwa Empathie und Sympathie, Sprache und ästhetische Erfahrung. In seine interdisziplinäre Arbeit fließen Erkenntnisse und Ansätze sowohl aus Philosophie als auch aus Psychologie und Neurowissenschaften ein.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Heinz, seit 2002 Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin, studierte Medizin, Philosophie und Anthropologie. Er habilitierte sich 1998 für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie und promovierte 2013 über den Begriff der psychischen Gesundheit. Seit 2012 ist er stellvertretender Vorsitzender der Organisation Aktion für Psychisch Kranke. 2010-2014 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP). 2008-2011 war er Sprecher der Konferenz der Universitätslehrstühle für Psychiatrie in Deutschland. Seit 2009 ist er Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde.
Er forscht u. a. zu Neurourbanistik, den Auswirkungen von Migration und sozialer Exklusion auf die psychische Gesundheit, den Folgen von Armut im sozialen Nachbarschaftskontext und den Auswirkungen städtischer Risikofaktoren auf die Manifestation psychotischer und Suchterkrankungen. Heinz ist Befürworter eines personenzentrierten Ansatzes und offener Stationen in der Psychiatrie. 2011 wurde er auf den Leibnitz-Lehrstuhl des Leibnitz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg gewählt, in Anerkennung herausragender Forschung in den Neurowissenschaften.