Philologisches Seminar

Liebesdichtung


1. Carm. 2, 2b, 3: Catulls Sperling (passer) und der ‚doppelte Genderkampf‘ – (Dis-)Balance, Ambiguität und die Neuschaffung von Gender 

Simone Fritz, Daniel Hach, Verena Lazios

2197 Wörter, Lesedauer: ca. 7 Minuten

Carm. 2:

Sperling, Entzücken meines Mädchens,
mit dem zu spielen, den am Busen zu halten,
dem die Fingerspitze zu geben, wenn er danach pickt,
und den zu scharfen Bissen sie zu reizen pflegt,
wenn meiner strahlenden Liebsten   5
irgendein netter Scherz gefällt
und ein kleiner Trost für ihren Kummer,
ich glaube, damit ihr heftiges Glühen dann sich abkühlt:
Könnte ich doch mit dir spielen wie deine Herrin
und die düsteren Sorgen meines Herzens lindern!   10

Passer, deliciae meae puellae,
quicum ludere, quem in sinu tenere,
cui primum digitum dare appetenti
et acris solet incitare morsus,
cum desiderio meo nitenti     5
carum nescio quid lubet iocari
et solaciolum sui doloris,
credo, ut tum gravis acquiescat ardor:
tecum ludere sicut ipsa possem
et tristis animi levare curas!  10

CARM. 2b:

* * * * *
es wäre mir so willkommen, wie der Sage nach dem Mädchen,
dem flinken, der goldene Apfel war,
der den Gürtel löste, den lange Zeit verschlossenen.
* * * * *

tam gratum est mihi, quam ferunt puellae
pernici aureolum fuisse malum,
quod zonam solvit diu ligatam.

CARM. 3:

Trauert, Liebesgöttinnen und Liebesgötter
und all ihr Menschen, die ihr zur Liebe eher geneigt seid als andere:
Der Sperling meines Mädchens ist tot,
der Sperling, das Entzücken meines Mädchens,
den sie mehr als ihre Augen liebte.   5
Denn er war honigsüß und kannte seine
Herrin so gut wie ein Mädchen seine Mutter,
und er bewegte sich nicht fort von ihrem Schoß,
sondern er hüpfte herum, bald hierhin, bald dorthin,
und piepste dabei allein seine Gebieterin immerfort an;     10
Jetzt geht er auf dem dunklen Weg
dorthin, von wo, wie man sagt, niemand zurückkehrt.
Doch böse ergehe es dir, böse Finsternis
des Orkus, die du alles Hübsche verschlingst:
Einen so hübschen Sperling hast du mir geraubt.     15
O böse Tat! O unseliger Sperling!
Du bist schuld daran, dass meines Mädchens
Augen vom Weinen geschwollen sind und rot.

Lugete, o Veneres Cupidinesque,
et quantum est hominum venustiorum:
passer mortuus est meae puellae,
passer, deliciae meae puellae,
quem plus illa oculis suis amabat.     5
nam mellitus erat suamque norat
ipsam tam bene quam puella matrem,
nec sese a gremio illius movebat,
sed circumsiliens modo huc modo illuc
ad solam dominam usque pipiabat.   10
qui nunc it per iter tenebricosum
illuc, unde negant redire quemquam.
at vobis male sit, malae tenebrae
Orci, quae omnia bella devoratis:
tam bellum mihi passerem abstulistis           15
o factum male! o miselle passer!
tua nunc opera meae puellae
flendo turgiduli rubent ocelli.

(Übersetzungen: Holzberg 2009, 7–9)

In Catulls carmina 2, 2b und 3 dient die Figur des Sperlings, des passer, als erotisches Reflexionssymbol, mit dessen Hilfe die scheinbar feststehenden Kategorien von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ an Eindeutigkeit verlieren. So spiegeln sich in dem kleinen Haustier auch Konzeptionen von Gender wider, die die augenscheinlich klar definierten Grenzen dieser sozialen Konstrukte aufweichen. Durch die Phänomene von Ambiguität und (Dis-)Balance sorgt Catull dafür, dass das ‚Spiel mit dem Sperling‘ einem ‚Genderkampf‘ auf verschiedenen Ebenen gleicht – und Genderkategorien und deren Bedeutung werden zur Disposition gestellt.

‚Genderkampf‘?

Die geschlechtliche Problematik in Catulls Werken als ‚Genderkampf‘ aufzufassen, lässt sich mithilfe von Judith Butlers Gender Trouble aus dem Jahre 1990 nachvollziehen (dt. Das Unbehagen der Geschlechter, 1991). In diesem wird das ‚soziale Geschlecht‘ gender als soziokulturell und psychologisch konstruierte Entität dem ‚biologischen Geschlecht‘ Sex entgegengestellt. Wenn also Kategorien des sozialen Geschlechts wie ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ nicht a priori gültig und monolithisch unveränderbar sind, sondern Ergebnisse von „Unterwerfungsprozess[en] in machtdurchzogenen, diskursiven Strukturen“ (Redecker 2011, 47) darstellen, kann die Analyse von deren performativem Charakter auf regelrechte Rebellion hinweisen: In dem Moment, in dem Catull geschlechtliche Kategorien einerseits als binär widerstreitend, andererseits jedoch auch als vage und unbestimmt charakterisiert, führt er einen doppelten ‚Genderkampf‘.

Male gaze und Differenz

In seinen passer-Gedichten schafft Catull antithetisch konstruierte Rollenvorstellungen von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, indem er den ‚Genderkampf‘ des lyrischen Ichs gegen die puella, das Mädchen, auf eine Weise entwirft, die sich durch das moderne Konzept des male gaze beschreiben lässt. Dieses Konzept des ‚männlichen Starrens‘ zeichnet die heteronormative Machtdynamik ab, aufgrund derer eine Frau durch lustvolles Starren eines Mannes zu einem sexuellen Objekt in dessen Blick degradiert wird. In carm. 2 tritt diese Objektifizierung äußerst prominent hervor, da das ‚Spiel mit dem Sperling‘ im gesamten Gedicht aus der Perspektive eines als männlich zu lesenden Beobachters in den ‚starrenden‘ Blick genommen wird. Mit den Worten desiderio meo in Vers 5 wird die puella so als Gegenstand seiner Sehnsucht beschrieben, wobei deren ‚strahlende‘ Schönheit durch das Kosewort nitenti hervorgehoben wird. Romantisierend betrachtet könnte man an dieser Stelle zwar argumentieren, dass das lyrische Ich von der Schönheit der puella geblendet wird und ihr mit dieser Beschreibung lediglich schmeicheln möchte. Faktisch gesehen ist die Schönheit jedoch das Einzige, was das lyrische Ich von seiner Geliebten vermittelt. Als außenstehender Beobachter scheint das lyrische Ich demnach lediglich diese Schönheit aus der Distanz begierig starrend wahrnehmen zu können.

Aus dem Konzept des male gaze lässt sich im Weiteren das Motiv der Jagd ableiten: Wenn die Frau lediglich zum Lustobjekt männlicher Begierde gemacht wird, ist es im ‚männlichen‘ Interesse, dieses Objekt als seine Beute anzusehen und es zu jagen. Oberstes Ziel dieser Jagd ist dabei der Besitz des gejagten Objektes und damit einhergehend das Stillen der eigenen Lust. Das lyrische Ich überträgt dieses Motiv in carm. 2 und 2b auf sich selbst, indem es seine Begierde nach dem Spiel mit dem passer – und damit die Annäherung an seine Geliebte – herbeisehnt. Durch das Konzept des male gaze ergibt sich somit eine klare, antithetische Gegenüberstellung von lyrischem Ich als Jäger auf der einen und der puella als Gejagten auf der anderen Seite, wodurch die beiden Kategorien des ‚Männlichen‘ und des ‚Weiblichen‘ zu diametralen Kräften stilisiert werden: Wie in einem Kampf widerstreitender Parteien wird die ‚männliche‘ Rolle durch ‚Aktivität‘, die ‚weibliche‘ durch ‚Passivität‘ gekennzeichnet.

Macht und Dysbalance

Diese hierarchische Machtstruktur zwischen ‚Aktivität‘ und ‚Passivität‘, die dem male gaze inhärent eingeschrieben ist, führt zu einem eklatanten Ungleichgewicht in der Konstellation der Figuren und somit der Kategorien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘. In der Analyse der Erzählstruktur zeigt sich, dass das lyrische Ich als autodiegetischer Erzähler für die interne Fokalisierung der Szene sorgt – d.h., dass es sowohl als Erzähler als auch als Figur innerhalb des Gedichts auftritt und aus seiner eigenen Sicht wiedergibt, wie sich die intime Szene zwischen puella und passer gestaltet. Gleiches geschieht in carm. 3, in welchem der Sprecher die Trauer um den verstorbenen passer ausschließlich aus seiner Perspektive beschreibt. Als wäre der passer sein eigenes Haustier und nicht das der puella gewesen, vermag der Sprecher auf eine solche Art und Weise zu klagen, dass er selbst die zentrale Rolle einnimmt. Obwohl die puella im Gegensatz zum lyrischen Ich selbst unmittelbar Teil des Geschehens ist, kommt diese nicht zu Wort: In beiden Gedichten steht das lyrische Ich im Vordergrund und überschreibt durch seinen eigenen Bewusstseinsbericht die Wahrnehmung der direkt betroffenen puella. Hierdurch wird offensichtlich, dass voice und agency in den passer-Gedichten eindeutig auf Seiten des lyrischen Ichs liegen, wohingegen die puella zum Verstummen gebracht und auch in narrativer Hinsicht in eine passive Rolle gedrängt wird. Neben der Macht, die das lyrische Ich über die puella als Objekt des male gaze ausübt, hat es zudem also auch die Macht über den Erzählakt inne. In der Folge wird eine Dysbalance zwischen männlich und weiblich auf mehreren Ebenen deutlich, die als Zuweisung von klaren Geschlechterrollen zu lesen sein scheint: ‚aktiv‘ und ‚mächtig‘ sei männlich; ‚passiv‘ und ‚schwach‘ sei weiblich.

Ambiguität und ‚innerer Genderkampf‘

Im Gegensatz zu dieser klar definierten, heteronormativ-sexuell aufgeladenen Machtdynamik findet sich in der Figur des passer jedoch ein weiterer ‚Genderkampf‘, der die Abgrenzung der Geschlechterrollen verschwimmen lässt. So lässt Catull das lyrische Ich in seinem zweiten Gedicht nicht den Wunsch äußern, die puella für sich zu gewinnen und damit in der Liebe Erfolg zu haben. Anstatt die Angebetete zu erobern und das ‚Ziel‘ der Liebe zu erreichen, wünscht sich das lyrische Ich mit der Aussage „Könnte ich doch mit dir spielen wie deine Herrin“ (tecum ludere sicut ipsa possem, v. 9), dem passer selbst so nahe kommen zu können, wie sie es tut. Das unbeschwerte Spiel mit einem Haustier – nicht das Liebesspiel mit der puella – wird zum Inbegriff der Sehnsucht, die das lyrische Ich verspürt. Einerseits lässt sich dieser unerwartete und irritierende Wunsch so auffassen, dass das lyrische Ich wie wohl auch die puella an Liebeskummer leidet und durch das Spiel mit dem Vogel dieselbe Zerstreuung sucht. Dadurch nimmt das männliche lyrische Ich aktiv die feminin konnotierte Eigenschaft des Liebeskummers auf, was der eigenen Männlichkeit entgegensteht. Durch diese effeminatio, (‚Verweiblichung‘), die als bewusste Herabsetzung der eigenen ‚Männlichkeit‘ des lyrischen Ichs gesehen werden kann, wird das Genderkostüm des lyrischen Ichs mit einem Mal ambig. Während die antithetische Konstruktion der sozialen Geschlechter die puella als klar weiblich definierte und das lyrische Ich ihr widerstreitend gegenüber als klar männlich gelesen werden konnte, scheint es an dieser Stelle nicht mehr eindeutig nach tradierten ‚männlichen‘ Rollenvorstellungen zu handeln. Andererseits drängt sich eine weitere Interpretation des Wunsches, selbst mit dem passer spielen zu können, auf, die das Motiv der effeminatio noch weiter verstärkt. So kann das lyrische Ich hier nicht nur als ein Mann gelesen werden, der sich dem ‚unmännlichen‘ – und somit ‚negativen‘ – Gefühl des Liebeskummers hingibt, sondern auch als Mann, der sich tatsächlich wünscht, an die Stelle einer Frau zu treten – und somit bis zu einem gewissen Grad selbst zur Frau zu werden. Das Spiel mit dem Sperling zeigt somit mehr als nur das Umlagern der eigenen Begierde auf ein Ersatzobjekt: Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten von Gender führt zur Ambiguität der geschlechtlichen Identität, ‚männliche‘ und ‚weibliche‘ Eigenschaften werden mithilfe der Reflexionsfigur des passer gleichermaßen heraufbeschworen und ein ‚innerer Genderkampf‘ des Protagonisten wird ersichtlich.

In carm. 3 findet sich das Motiv der effeminatio insbesondere im Aspekt des Fühlens. Emotional exzessive, extrovertierte Trauer kann als weiblich verstanden werden (S. dazu der Blogeintrag zu carm. 101). Indem also die Trauer um ein derart kleines Tier so prominent aus der männlichen Sicht des lyrischen Ichs dargestellt wird, scheint es die eigene Männlichkeit bewusst abzulegen. Durch diese Brille der Ambiguität erscheint auch die Darstellung der Geliebten in carm. 2 vielschichtiger als lediglich durch ‚männliche‘ Dominanz geprägt. Während dem Rollenbild einer Frau traditionell Werte wie Zurückhaltung und Unterordnung zugeschrieben worden sind (vgl. Holzberg 2015, 40–41), beschreibt das lyrische Ich das Gegenteil: Sie ist die Besitzerin des Sperlings und hat die Kontrolle über dessen Verhalten. Durch diese klare Machtverkehrung, die das eigentlich passive Weibliche aktiv und mächtig gestaltet, wird implizit nahegelegt, dass das lyrische Ich als das Männliche im Umkehrschluss passiv und schwach ist. Ebenso wie der passer scheint sich das lyrische Ich der puella ausgeliefert zu sehen, die es in Vers 10 sogar als domina bezeichnet, was ihr weitere ‚männliche‘ Attribute verleiht, die eigentlich dem lyrischen Ich vorbehalten wären. Einerseits erscheint es so als sexuell passiv und sklavisch untergeordnet, wodurch es nach traditioneller Vorstellung seine ‚Männlichkeit‘ verlöre (vgl. Steenblock 2013, 13); andererseits trifft die Passivität der puella in ihrer narrativen Präsentation auf deren ungewöhnliche Dominanz im ‚Spiel mit dem Sperling‘. Durch diese ambige Machtkonstellation der beiden Geschlechter verschärft sich in der Folge die Frage nach den Genderrollen des lyrischen Ichs und der puella.

Auflösung des doppelten ‚Genderkampfes‘?

Catulls passer-Gedichte als ‚Genderkampf‘ zu interpretieren, ermöglicht die Betrachtung geschlechtlicher Kategorien aus einer auch für uns hochaktuellen Perspektive. So stellt sich der Wettstreit des lyrischen Ichs mit dessen puella um (Handlungs-)Macht als ein Motiv heraus, das heteronormativen Machtstrukturen folgt: Tradierte Rollenvorstellungen von ‚Männlichkeit‘ werden denen von ‚Weiblichkeit‘ entgegengestellt, um letztere zu dominieren. Da das lyrische Ich bei eingehender Betrachtung jedoch nicht als derart eindimensional und – in binären Denkmustern gedacht – als ‚archetypisch männlich‘ verstanden werden kann, zeigt sich eine fluide Konzeption von gender. Anstatt klare Oppositionen zweier gegensätzlicher Geschlechter aufzubauen, verschwimmen deren Grenzen in der Geschlechtsidentität des lyrischen Ichs. Dieses Verschwimmen resultiert hierbei aus der Ambiguität, die Catull anhand der Figur des passer zeichnet; während die machtstrukturelle Disbalance der Kategorien von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ deren Grenzen betonen, weist Catull durch den Umgang mit dem Sperling und den darin reflektierten Vorstellungen von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ auf die Vagheit von gender hin.

In der Konsequenz drängt sich nun die Frage auf, ob – und, wenn ja, wie – diese Uneindeutigkeit zu disambiguieren ist. Da geschlechtliche Idealvorstellungen im modernen Genderdiskurs als durch die Gesellschaft konstruierte Kategorien aufgefasst werden, erscheint es spannend, auch in Catulls Gedichten eine ähnliche Auseinandersetzung zu beobachten. Ein ‚männliches‘ lyrisches Ich, das mit derart viel Energie große Emotionen wie die Trauer um einen scheinbar bedeutungslosen, kleinen Sperling zeigt, scheint einen Affront geradezu erzwungen zu haben. So kann es als politisches Statement verstanden werden, dass Catull durch den strategischen Einsatz von geschlechtlicher Ambiguität Gendergrenzen aufweicht. Für dieses Statement ist es jedoch nicht notwendig, ja sogar hinderlich, zu disambiguieren: Eben dadurch, dass durch die Figur des passer Fragen nach geschlechtlicher (Un-)Eindeutigkeit aufgeworfen, diese jedoch nicht direkt beantwortet werden, entfaltet sich die volle Wirkung des ‚Genderkampfes‘. Catull nimmt sich demnach mithilfe des passer Denkmustern an, die in der Folge ihre unreflektierte Einfachheit und ihren daraus resultierenden Machtanspruch einbüßen – und gender muss gesellschaftlich neu diskutiert, neu verhandelt werden.

Literatur

Ausgaben und Übersetzungen:
Bardon, Henry (1973). Catulli Veronensis Carmina. Stuttgart.
Holzberg, Niklas (2009). C. Valerius Catullus. Carmina, Gedichte (Sammlung Tusculum). Düsseldorf.
Mynors, R. A. B. (1958). C. Valerii Catulli Carmina. Oxford.

Sekundärliteratur:
Butler, Judith P. (1990). Gender Trouble – Feminism and the Subversion of Identity. New York / London.
Holzberg, Niklas (2015). Ovids Metamorphosen, 2. Aufl. München.
Klugman, Jeni / Hanmer, Lucia / Twigg, Sarah / Hasan, Tazeen / McCleary-Sills, Jennifer / Santamaria, Julieth (2014). Voice and Agency. Empowering Women and Girls for Shared Prosperity. Washington DC.
​​​​​​​Niederhoff, Burkhard (2011). Art. „Focalization“. In: P. Hühn et al. (eds.), the living handbook of narratology, Hamburg: Hamburg University Press, URL: https://www.lhn.uni-hamburg.de/node/18.html (Stand: 25.03.2021).
Redecker, Eva von (2011). Zur Aktualität von Judith Butler: Einleitung in ihr Werk. Wiesbaden.
Sassatelli, Roberta (2011). „Interview with Laura Mulvey: Gender, Gaze and Technology in Film Culture“. In: Theory, Culture & Society, Bd. 28(5), Los Angeles, 123–143.
Steenblock, Maike (2013). Sexualmoral und politische Stabilität. Berlin / Boston.


2. Carm. 51: Catulls selbstzerstörerisches Lieben

Stephanie Reis, Jonas Walk, Eric Eichkorn

1782 Wörter, Lesedauer: ca. 6 Minuten

Jener scheint mir einem Gott gleich zu sein, jener, wenn
ich das sagen darf, die Götter zu übertreffen, der dir
gegenübersitzt und immer wieder dich
ansieht und hört

dein süßes Lachen, was mir Armem alle
Sinne raubt. Denn kaum hab ich dich,
Lesbia, erblickt, ist nichts mehr
übrig von der Stimme in meinem Mund,
nein, gelähmt ist die Zunge, eine feine Flamme
fließt herab in die Glieder, vom eigenen Dröhnen
klingen die Ohren, von doppelter Nacht werden bedeckt
die Augen.

Muße, Catull, bringt dir Schwierigkeiten,
durch Muße wirst du übermütig und begehrst zu viel.
Muße hat einst Könige und reiche
Städte vernichtet.

(Übersetzung: Holzberg 2009, 64–65)

Ille mi par esse deo videtur,
ille, si fas est, superare divos,
qui sedens adversus identidem te
spectat et audit

dulce ridentem, misero quod omnis  5
eripit sensus mihi: nam simul te,
Lesbia, aspexi, nihil est super mi
vocis in ore

lingua sed torpet, tenuis sub artus
flamma demanat, sonitu suopte        10
tintinant aures, gemina teguntur
lumina nocte.

otium, Catulle, tibi molestum est:
otio exsultas nimiumque gestis:
tium et reges prius et beatas           15
perdidit urbes.

Catull schildert hier den zerstörerischen Effekt seiner als asymmetrisch empfundenen Liebesbeziehung zu Lesbia. Durch sie droht er letztlich gar seine Identität zu verlieren. Dabei zeigt sich ein Vorbild im Fragment 31 der von Catull verehrten griechischen Dichterin Sappho, welches er allerdings zu einer Dichtung sui generis weiterentwickelt. Ein Mittel hierfür stellt die Ambiguierung der Rollen- und insbesondere Geschlechterverhältnisse dar. Dies gilt es aufzuzeigen und für eine Interpretation nutzbar zu machen.

Der schmerzende Blick auf fremdes Glück aus der Distanz

Seit jeher Gegenstand der Diskussion ist die von Sappho übernommene (siehe 2.) Frage um die Ausgangssituation des Gedichts: preisendes Hochzeitsgedicht (vgl. für Sappho: Schadewaldt 1950), Ausdruck nagender Eifersucht oder überhaupt nicht real? Gottgleich gepriesen wird der unbekannte Dritte (ille, carm. 51.1) – doch um des Zusammenseins mit Lesbia willen, der geliebten puella des elegisch Liebenden. Durch die Apostrophe als ‚Catull‘ in v. 13 wird eine Ähnlichkeit zwischen dem Dichter C. Valerius Catullus und diesem textinternen amator erzeugt (siehe 3.). Im Folgenden wird diese Textfigur als ‚Catull‘ bezeichnet, womit nicht der historische poeta gemeint ist. Was verwundert, dass dieser amator beim Anblick ,seiner‘ puella in solch intimer und von Heiterkeit geprägter Szene, einen schmerzhaften Stich der Eifersucht empfindet? Denn er selbst ist aus dieser ausgeschlossen – eine Variation des Paraklausithyrons –, kann ihr süßes Lachen nur beobachten, nicht aber hören (!). Die Identität ‚Catulls‘ als amator Lesbias ist in Gefahr, die Rolle an ihrer Seite nimmt ein anderer ein. Distanz und Stille (vgl. Stevens 2013) prägen das Gedicht. Und dennoch verursachen gerade sie in ‚Catull‘ die niederschmetternden Symptome einer Ohnmacht. Diese körperlichen Schmerzen sind real; es ist völlig unerheblich, ob es auch die Ausgangssituation ist (so Holtermann 2003, 17–18).

Im Kontrast: Die heroische Weiblichkeit

Für das Gedicht carm. 51 fand Catull ein Vorbild in Sapphos Frg. 31 (Lobel/Page 1955). Von ihr übernahm er sogar das Metrum, den sapphischen Elfsilber, der sonst nur noch in carm. 11 vorkommt. Über die archaische Dichterfürstin aus Lesbos (7./6. Jh. v. Chr.) ist selbst nur wenig Gesichertes bekannt (vgl. Giebel 1980). So entzündeten sich hier sehr schnell die Diskussionen um die Situierung ihres Gedichts, wie sie dann auch auf Catull übergingen. Die Figurenkonstellation gleicht sich. Auch bei Sappho empfindet das weibliche lyrische Ich eine Reihe von körperlichen ,Leiden‘ (παθήματα, pathēmata) und findet sich dadurch dem Tod nahe. Stimmen unsere Informationen über Sappho, so war sie der homoerotischen Liebe zugeneigt (daher die Bezeichnung ‚lesbisch‘). Somit scheint es sich bei der Erzählstimme in ihren Gedichten um eine Persona der lesbischen Dichterin zu handeln: eine homosexuelle Frau, hier neidisch auf die heterosexuelle Beziehung eines Mannes zu ihrer Geliebten. Durch die Adaptation homerischer Sprache (vgl. D’Angour 2013) scheint sie dabei gar die zerstörerischen Kämpfe der Ilias zu durchleiden, bevor dann der einzig erhaltene Vers der Strophe fünf eine heroische Überwindung derselben andeutet. In (zeitgenössisch) männlich verstandenem Heldenmut ringt das weibliche lyrische Ich in Sapphos Frg. 31 ihr Leiden nieder und wird dadurch maskulinisiert.

Nur mit diesem Vorverständnis lässt sich nun erkennen, wie Catull sein carmen verändert, um seine ganz eigenen verderblichen Erfahrungen in der Liebesbeziehung zu Lesbia zum Ausdruck zu bringen.

aemulatio Sapphūs – die unheroische Männlichkeit

In carm. 51 leidet (wie in der römischen Liebeselegie üblich) ein männlicher amator – die fiktive Persona unseres Dichters selbst, die als ‚Catull‘ (carm. 51.13) angesprochen wird. Über diesen für uns nur in den Gedichten existenten amator erzählt wiederum der poeta C. Valerius Catullus. Es muss also zunächst zwischen diesen beiden unterschieden werden. Gleichzeitig besteht aber auch eine Verbindung: Durch die dichterische Tätigkeit des poeta Catull entsteht überhaupt erst das Leid des amators ‚Catull‘ („Muße, Catull, bringt dir Schwierigkeiten“, otium, Catulle tibi molestum est, carm. 51.13). Paradoxerweise können poeta und amator ohneeinander nicht existieren; das besungene Leid entsteht aus sich selbst und erhält sich selbst. Auch bei Sappho lässt sich das weibliche lyrische Ich als Persona der Dichterin fassen. Bei Catull muss diese metapoetische Ebene ebenso mitgelesen werden. Diese beiden Rollen werden durch die (Selbst)Ansprache des poeta Catull an den amator ,Catull‘ in der vierten Strophe zugleich offenbar und in eins gesetzt. In den ersten drei Strophen nimmt dabei der amator ,Catull‘ die Rolle des weiblichen lyrischen Ichs bei Sappho ein – doch kann er seine Schmerzen nicht heldenhaft niederringen. Statt heroischem Sieg über die Todesnähe im Kampf erleidet er einen schmählichen Ohnmachtsanfall, der ihn niederwirft und aus der ihn nur die quasi auktoriale Apostrophe seines Schöpfers, des poeta Catulls, erretten kann. Kein Wort vom heroisch-männlichen Ertragen dieser Schmerzen beim weiblichen lyrischen Ich Sapphos (vgl. ‚ertragbar, ertragenswert‘, τολματόν, tolmaton: Sapph. Frg. 31.16). In den Vorstellungen der Antike bleibt der amator ,Catull‘ (der ja ohnehin schon im Gedicht an die Stelle einer Frau tritt) in einer femininen Rolle stecken, in die er sich durch die verhängnisvolle Wirkung seiner Eifersucht gedrängt sieht. Nicht kriegerischen und manneswürdigen Ruhm erwirbt er sich durch deren Überwindung. Sondern er bleibt schwach bei diesem Anblick, den er nicht verwinden kann. Diese Feminisierung (vgl. Stevens 2013, 247–248) droht zum Identitätsverlust, zum Vergehen des eigenen Selbst, zu werden, aus dem nur noch der poeta den amator retten kann.

Die puella als Gewalttäterin – völliger Identitätsverlust

An carm. 51 fügt sich schon allein aus metrischen Gründen carm. 11 bestens an. Litt unser amator bislang nur durch die bloße Beobachtung seiner untreuen puella, fügte sie ihm bislang durch ihre Passivität schon schlimme Schmerzen zu, so ist sie nun selbst zur aktiven Gewalttäterin geworden:

Und sie soll nicht wie früher auf meine Liebe zählen,
die durch ihre Schuld dahinsank wie an der Wiese
Rand die Blume, nachdem sie vom vorüberziehenden
Pflug berührt worden ist.

(Übersetzung: Holzberg 2009, 21)

nec meum respectet, ut ante, amorem,       21
qui illius culpa cecidit velut prati
ultimi flos, praetereunte postquam
tactus aratro est.

Auch diese ausdrucksstarke Allegorie ist aus Sapphos Frg. 105 (Lobel/Page 1955) übernommen. Wiederum befleißigt sich unser römischer Dichter also eines Ausdrucks der griechischen Dichterin. Aber auch hier sind die Rollen verkehrt: Während das männliche lyrische Ich als liebliche Blume – ein klassisches Symbol der Weiblichkeit – erblüht, wird er von der puella als harter, unerbittlicher Pflug niedergemäht. Sie nimmt also noch deutlicher als zuvor eine mit Männlichkeit assoziierte Rolle ein. Das Bild vom Pflücken der Blume als sexuelle Metapher ist bekannt – doch ist es hier eben paradoxerweise nicht der männliche Part, der diese süße weibliche Blume pflückt; und sie wird auch nicht sanft gepflückt, sondern gewaltvoll vernichtet. Hinzu kommt, dass in der Zerstörung ein zufälliges Moment liegt (vgl. Haig Gaisser 2012, 148). Die Blume wird nicht gezielt abgeschnitten, sie ist schlicht ein Kollateralschaden. Es ist keine geplante Zerstörung – im Unterschied zu einem militärischen Kriegszug. Dieser Gewaltakt ist bereits passiert (Vergangenheitstempus!) und lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Er ist mit roher Brutalität (vgl. Fitzgerald 1995, 234–236), sinnlos und von der den amator niedermähenden puella absolut rücksichtslos begangen worden. Und dem nicht genug: sie führt diesen sexuellen Vernichtungskampf, so wird im gleichen Gedicht ausgeführt (carm. 11.17–20), mit einer hyperbolischen Zahl an Liebhabern ungeniert fort. Die Liebe des amators kam gegen diese niederschmetternde Gewalt von Weiblichkeit nicht an. Seine in der asymmetrischen Beziehung ohnehin prekäre Identität als Liebender ist im Bild der Blume zerstört – aus der Gewalttat ist ein Raubmord geworden (vgl. Greene 2006, 62–64). Und so bleibt nur noch, die so verhängnisvolle Liebschaft zu beenden und sich den letzten Rest an Würde zu bewahren. Wie fühlt man sich, wenn man sich verliebt hat und erfährt, dass die Angebetete kein Interesse an einer ernsthaften Beziehung hat? Der vorangehende erste Teil des Gedichts (carm. 11.1–14) stellt in seinem Katalog der Errungenschaften männlicher Welt eine verzweifelte Selbstversicherung eigener männlicher Identität dar, aus der der amator durch die puella vertrieben worden ist. Er muss sich lossagen, um sich nun noch Größerem und Würdigerem widmen zu können (vgl. Onetti 1976, 70–72).

Fazit

Welchen Interpretationsansatz gewinnen wir aus der Betrachtung der Ambiguierung von (Geschlechter)Rollen, der durch den Kontrast zum sapphischen Vorbild deutlich hervortritt? Elementar ist die Erkenntnis, dass es sich bei Catulls carm. 51 nicht einfach um ein ‚Zitat‘ des bekannten Sappho-Gedichts handelt (so Schmidt 1985, 108). Unser Dichter fügt dem sapphischen Rohbau noch einige subtile Zwischentöne ein und verknüpft so eine Darstellung sui generis gekonnt mit dem Vorgefundenen. Die puella drängt den amator rücksichtslos in eine passive weibliche und von ihr gewaltsam dominierte Rolle, seine unerwiderte Liebe zu ihr zwingt ihn bis zur Aufgabe seiner eigenen Identität. Zwar entspricht dabei die Rollenverteilung, nicht aber deren Ausgestaltung den Konventionen der römischen Liebeselegie. Der amator ist aufs Extremste feminisiert; Lesbias Extremismus übersteigert die Rolle der ,unerbittlichen Geliebten‘ (dura puella), sie übersteigert durch ihre weibliche Brutalität vielleicht auch jede Maskulinisierung.

Ist diese Beziehung historisch? Hatte Catull tatsächlich eine Affäre mit einer berüchtigten femme fatale seiner Zeit? Man ist davon abgekommen, diese nicht zu klärende Frage wieder und wieder zu formulieren. Stattdessen sollte man die Frage anders stellen: Was verrät uns die Art und Weise, wie der Dichter sich in dieser Beziehung zur Geliebten darstellt, über seine Selbstwahrnehmung, seine Haltung, aber auch über Motive und Zielsetzungen des gesamten corpus Catullianum? Es spielt letztlich keine Rolle, ob diese Beziehung real war oder nicht – aber die in ihr kolportierten Emotionen, Wahrnehmungen und Perspektiven sind es; und sie sind zeitlos. Können solche Ansätze, wie sie hier für die Umdeutung und (negative) Übersteigerung der (Geschlechter)Rollen aufgezeigt wurden, auch außerhalb der Lesbia- Gedichte für das corpus Catullianum fruchtbar gemacht werden? Sind diese der Schlüssel zu einer ganz eigenen Wahrnehmung von Welt, die sich im Dichten des C. Valerius Catullus spiegelt? Kommt in dieser poetisch erzählten Beziehung – ganz allgemein gesprochen – das Selbstzeugnis eines stolzen römischen Bürgers, der sich vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Erfahrungswelt existentiell bedroht sieht, zum Ausdruck?

Literatur

Ausgaben und Übersetzungen:
Bardon, Henry (1973). Catulli Veronensis Carmina. Stuttgart.
Holzberg, Niklas (2009). C. Valerius Catullus. Carmina, Gedichte (Sammlung Tusculum). Düsseldorf.
Mynors, R. A. B. (1958). C. Valerii Catulli Carmina. Oxford.

Sekundärliteratur:
D’Angour, Armand (2013). “Love’s Battlefield: Rethinking Sappho fr. 31.” In: Sanders, Ed / Thumiger, Chiara / Carey, Christopher / Lowe, Nick (eds.). Erôs in Ancient Greece, Oxford.
Fitzgerald, William (1995). Catullan Provocations. Lyric Poetry and the Drama of Position. Berkeley.
Giebel, Marion (1980). Sappho. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek.
Greene, Ellen (2006). “Catullus, Caesar and Roman Masculine Identity“. In: Antichthon 40, 49–64.
Haig Gaisser, Julia (2012). Catull. Dichter der Leidenschaft. Darmstadt.
Holtermann, Martin (2003). “Catull, Sappho und Kallimachos. Intertextuelle Interpretation im lateinischen Lektüreunterricht.” In: Pegasus-Onlinezeitschrift III, 1, 15–30. <www.pegasus-onlinezeitschrift.de/2003_1/pegasus_2003-1_holtermann.pdf> [Stand 02.03.2021].
Lobel, Edgar / Page, Denys (eds.) (1955). Poetarum Lesbiorum Fragmenta, Oxford.
Onetti, Sira (1976). “The Technique of Counterbalancing in Catullus.” In: Acta Classica 19, 59–74.
Schadewaldt, Wolfgang (1950). Sappho. Welt und Dichtung. Dasein in der Liebe, Potsdam.
Schmidt, Ernst A. (1985). Catull. Heidelberg.
Stevens, Benjamin E. (2013). Silence in Catullus. Madison.


3. Carm. 72: Catulls Liebe – Eine Balance zwischen Chauvinismus und Selbstbestimmung 

Hannes Killguss, Fabienne Schober

2078 Wörter, Lesedauer: ca. 7 Minuten

Du pflegtest einst zu sagen, du kenntest nur Catull, Lesbia,
und nicht lieber als mich wolltest du Jupiter im Arm halten.
Ich liebte dich damals sehr, aber nicht wie der gemeine Mann seine Freundin,
sondern wie ein Vater seine Söhne liebt und seine Schwiegersöhne.
Jetzt kenne ich dich. Deshalb bist du, wenn ich auch heißer brenne,
für mich dennoch viel mehr zu verachten und weniger wert.
„Wie ist das möglich?“ fragst du. Weil einen Liebenden solches Unrecht zwingt,
mehr zu begehren, aber weniger Zuneigung zu empfinden.

(Übersetzung: Holzberg 2009, 165)

Dīcēbās quōndām sōlūm tē nōssĕ Că|tūllŭm,
⠀ Lēsbĭă, nēc prāē mē vēllĕ tĕnērĕ Iŏvĕm.
Dīlēxī tūm tē nōn tānt(um) ūt vūlgŭs ămīcăm,
⠀ sēd pătĕr ūt gnātōs dīlĭgĭt ēt gĕnĕrōs.
Nūnc tē cōgnōvī: quā|r(e) ēts(i) īmpēnsĭŭs ūrŏr,      5
⠀ mūltō mī tămĕn ēs vīlĭŏr ēt lĕvĭŏr.
Quī pŏtĭs ēst, īnquīs? Quŏd ămānt(em) īniūrĭă tālĭs
⠀ cōgĭt ămārĕ măgīs, sēd bĕnĕ vēllĕ mĭnŭs

„All you need is love“ singen die Beatles – und mögen damit in vielerlei Hinsicht recht haben. Die Liebe ist schön und viele Menschen sehen darin ein Stück Lebensglück; sie wird in Literatur, Kunst, Musik und Filmen fortwährend thematisiert, zur Schau gestellt, beschrieben, besungen. Denn sie fasziniert uns. Paradoxerweise fasziniert die Liebe jedoch umso mehr, je weniger Gelingen ihr zugrunde liegt, wenn sie sich nicht auf Anhieb entfalten kann oder ihr gar in dramatischer Weise aversive Haltungen beiwohnen. Wer einmal verliebt war und bitter enttäuscht wurde, kann das gut nachvollziehen. Diese Dramatik birgt zuweilen für Außenstehende Unterhaltungswert – und gleichzeitig versetzt sie die Liebenden in einen seelischen Zustand der inneren Zerrissenheit, voller emotionaler Konflikte und seelischer Ambivalenz. Diese innere Qual beschreibt schon der römische Dichter Catull in seinen Epigrammen, wenn er um seine Geliebte Lesbia eifert. Die in den Gedichten geschilderte Liebesbeziehung durchläuft nämlich eine solche Entwicklung, angefangen bei inniger und romantischer Liebe, über gegenseitige Treuebekundungen und Liebesbeteuerungen sowie einer devoten Hingabe der elegischen persona Catulls an seine dominante Lesbia, bis hin zum großen Bruch der Liebe, woraus Empörung, Beschimpfung und sogar die Bereitschaft zur Trennung folgt, die jedoch nie vollzogen wird.

Eine Möglichkeit des Umgangs mit dem Scheitern der Liebe schildert uns der Dichter Catull: Entgegen den leidvollen Erfahrungen in einer Liebesbeziehung verliert er sich nicht in Selbstmitleid, sondern entledigt sich rasch seiner Gefühle - nicht aber seiner körperlichen Begehren. Die Frage, ob es sich dabei um Chauvinismus oder um Selbstbestimmung handelt, soll durch die folgende Analyse geklärt werden.

„Ich hasse und ich liebe.“

Dieser Konflikt der Emotionen kulminiert in Catulls berühmten Epigramm carm. 85: Odi et amo (‚Ich hasse und ich liebe‘). Diese zwei Verben drücken seinen emotionalen Zustand, seine innere Ambivalenz, aus. Bevor Catull in diesen beiden Worten jene Dramatik äußert, führt er in einem vorausgehenden Epigramm die Gründe für seine innere Zerrissenheit aus. So artikuliert er in carm. 72 erstmals die Thematik, die für die folgenden Gedichte über Lesbia dominierend sein wird, nämlich die Unfähigkeit des Dichters, seine Geliebte zu schätzen oder sie nicht mehr lieben zu können, da er von ihr bitter enttäuscht wurde. Die Liebe mischt sich mit Leiden. Es entsteht eine innere Zerrissenheit. Denn in gleichem Maße, wie die romantische Liebe enttäuscht wird und abnimmt, steigt seine Begierde und das Verlangen nach Lesbia. Hans Peter Syndikus beschreibt diese emotionale Krise als „die Absurdität der Situation, von einem Menschen, den man nicht mehr achten kann, doch nicht lassen zu können […]“ (2001, 12).

‚Wie ist das möglich?‘ – Zwischen sinnlicher Liebe und freundschaftlicher Zuneigung

Das letzte Distichon von carm. 72 stellt die alles entscheidende Frage: Wie ist dieser innere Widerspruch zwischen Verlangen und Verachtung, den Catull spürt, überhaupt möglich? (Qui potis est? Inquis) Catull formuliert seine Erklärung für dieses Problem unpersönlich, ähnlich wie eine allgemeingültige Wahrheit: ‚Weil einen Liebenden solches Unrecht zwing, mehr zu begehren (amare), aber weniger Zuneigung zu empfinden (bene velle)‘.

Bei Catull gibt es somit nicht nur eine einzige Form der Liebe, sondern er unterscheidet zwei Arten davon: die sinnliche Liebe (amare) und die freundschaftliche Zuneigung (bene velle). Folgen wir Catull, so steigt nach einem Vertrauensbruch die sinnliche Liebe, weil die Eifersucht die Leidenschaft von Neuem anregt. Dagegen nimmt die freundschaftliche Zuneigung durch ein solches Unrecht ab. Das liegt daran, dass die Basis für eine freundschaftliche Zuneigung eben Vertrauen und Verlässlichkeit ist. Auf Catulls Situation übertragen bedeutet das, dass er Lesbia immer noch sinnlich begehrt. Seine herzliche und selbstlose Liebe, die er in der Vergangenheit für Lesbia empfand, kann den Verrat von ihr allerdings nicht überdauern.

Um deutlich zu machen, dass seine frühere Liebe zu Lesbia eben nicht (nur) sexuell war, sondern fürsorgend und uneigennützig, vergleicht Catull seine Liebe mit der eines Vaters zu seinen Söhnen und Schwiegersöhnen. Dabei vermeidet er gekonnt alle anderen zur Verfügung stehenden Begriffe für Vater wie zum Beispiel Gatte oder Ehemann, mit denen eine sexuelle Konnotation ausgedrückt werden könnte. Während der Vergleich der sorgenden Liebe zu den Söhnen in der Antike keinesfalls ungewöhnlich ist, gilt das doch für die Schwiegersöhne. Beziehungen und Ehen waren damals ja nicht aus den Gefühlen zum künftigen Schwiegersohn entstanden. Ein Vater wählte für seine Tochter nicht den Kandidaten, der ihm oder der künftigen Braut besonders sympathisch war. Einzig politische Allianzen, materielle Gewinne und geschäftliche Vorteile zählten.

Durch diesen Vergleich verlässt Catulls vormalige Liebe zu Lesbia den Bereich der puren Sexualität und erreicht sogar die Sphäre einer römischen ‚Freundschaft‘ (amicitia). Unter einer Freundschaft versteht man aus antiker Perspektive eigentlich ein Treuebündnis zwischen intellektuell und sozial gleichgestellten Männern, die sich gegenseitig unterstützen. Catull wagte es als erster Dichter, eine romantische Beziehung zwischen Mann und Frau – in seinem Fall zwischen ihm und Lesbia – auch als Freundschaft zwischen zwei Gleichgestellten darzustellen. Er unterscheidet nicht zwischen romantischen Beziehungen, privaten Freundschaften oder politisch-familiären Allianzen. Für alle drei verwendet er das gleiche politisch angehauchte Vokabular und das auch an Stellen, an denen man es nicht erwarten würde. Das zeigt sich besonders an dem Schlüsselbegriff ‚Unrecht‘ (iniuria). Auf Lesbia bezogen beschreibt es ihre Treuelosigkeit Catull gegenüber, die ihn fast in den Wahnsinn stürzt. Auf politischer Ebene bezeichnet ein Unrecht hingegen ein schlechtes und schädliches Verhalten, das normalerweise in einer formellen Auflösung der freundschaftlichen Verbindung resultiert. Catull kann das Liebesverhältnis zu Lesbia aber weder auflösen noch hinter sich lassen. Trotz seiner Verbitterung über ihren Verrat begehrt er sie nur noch mehr.

Wegen dieser krankhaften Leidenschaft zu Lesbia befindet sich Catull in einem emotionalen Konflikt. Trotzdem zeigt das Gedicht keinen emotionalen Schmerzausbruch von Catull. Es liest sich eher wie eine rationale Analyse, in der Catull seine Erfahrung als Startpunkt für die Beobachtung psychologischer und emotionaler Zustände nimmt. Dabei blicken seine Beschreibungen von außen auf ihn und seine innere Erregung. Sie schildern ihn aus der Distanz. Seine ausgearbeitete Analyse steht aber natürlich trotzdem im starken Kontrast zu seinem Startpunkt, der durch das Unrecht angeschwollenen Leidenschaft.

Catulls Liebe in der Vergangenheit und in der Gegenwart

Wer liebt, liebt sowohl sinnlich als auch freundschaftlich. Was überwiegt, hängt davon ab, in welcher Lage sich die romantische Beziehung aktuell befindet. Catull beschreibt in seinem Gedicht aber nicht nur die aktuelle Situation, nämlich seinen emotionalen Konflikt zwischen Verlangen und Verachtung, sondern auch seine tiefe Liebe zu Lesbia in der Vergangenheit. Das Verhältnis zwischen den beiden Zeitebenen ist dabei gleichmäßig aufgeteilt: Während die ersten vier Verse als abgeschlossene Einheit Catulls Liebe in der Vergangenheit thematisieren, befassen sich die anderen vier mit der Liebe in der Gegenwart und Catulls Zwiespalt. Syndikus spricht deshalb zu Recht von einer „klaren Architektur des Gedichtaufbaus“ (2001, 9).

Dass die Zeit der Liebe der Vergangenheit angehört, wird in der ersten Hälfte nicht nur durch die Adverbien ‚einst‘ und ‚damals‘ gezeigt, sondern auch durch die Verwendung von Tempora der Vergangenheit. Catull vergleicht seine frühere Liebe zu Lesbia aber nicht nur mit der uneigennützigen Liebe eines sorgenden Vaters zu seinen Söhnen und Schwiegersöhnen, sondern spricht auch von ihren Liebesbekundungen. Nicht einmal den Himmelsvater Jupiter, den für seine zahlreichen Liebensabenteuer berüchtigten Gott, habe Lesbia lieber im Arm halten wollen als ihn. Catull glaubte anscheinend ihren Treuerufen und sah in ihrer Liebe eine Grundlage für eine treue und dauerhafte Bindung.

Mit dem Beginn der zweiten Hälfte des Gedichts findet man eine veränderte Situation vor. ‚Jetzt kenne ich dich‘ (nunc te cognovi: v. 5) bricht jäh mit der Erzählung aus der Vergangenheit. Es holt die Leserschaft in die Gegenwart, in der die Beziehung zwischen Catull und Lesbia zwar zerstört ist, er aber dennoch von der Liebe nicht ablassen kann und ihr auch keine klare Absage erteilen kann. Trotz seiner Verachtung gegenüber Lesbia glüht seine Leidenschaft immer noch für sie. Zuletzt formuliert Catull sein persönliches Fazit aus der Liebe zu Lesbia und seinem persönlichen Zustand: Das Unrecht verleitet ihn als unglücklich Liebenden, seinem körperlichen Begehren nachzugehen, ohne dabei eine freundschaftliche Liebe zu empfinden. Für Catull liegt die Beziehung und freundschaftliche Zuneigung in der Vergangenheit, die Leidenschaft allerdings in der Gegenwart nicht.

Aktivität und Passivität

Der innere Kontrast und die emotionale Ambivalenz des Dichters, der zwischen amare und bene velle hin- und hergerissen ist, versinnbildlicht das Verhältnis zwischen Lesbia und Catull. Geschickt drückt das der Dichter durch den Wechsel von direkter und indirekter Rede aus. Diese äußere Form des Sprechens ist in carm. 72 jedoch ambig und kann sich – je nach Lesart – entweder auf eine pendelnde Sprechzuweisung der beteiligten Akteure richten oder aber die Form des Sprechens wird zwischen einer nicht aufzulösenden Spannung von Aktivität und Passivität des Dichters gehalten.

Catull legt, ähnlich wie in den Gedichten carm. 70, 87 und 92, gleich zu Beginn des Epigramms Lesbia die Worte in den Mund, er macht sie also zum Sprachrohr seiner Worte: ‚Du pflegtest einst zu sagen, du kenntest nur Catull, Lesbia‘ (Dicebas quondam solum te nosse Catullum, Lesbia: v. 1–2). In der Struktur des lateinischen Satzes sind die Akkusative te und Catullum syntaktisch ambig. Es geht aus der Konstruktion nicht eindeutig hervor, wer das Subjekt und wer das Objekt der Bekanntschaft ist. Aufgrund der indirekten Formulierung stellt sich hier die Frage: Wer hat die Stimme? Wer spricht und wer schweigt? Die aktiv und passiv verteilten Sprachhandlungen sind in beide Richtungen denkbar: Catull spricht aktiv und klagt Lesbia an, legt ihr dafür seine Worte in den Mund. Er benutzt Lesbia als sein Sprechmedium. Aber der Sprechakt kann ebenso andersherum aufgefasst werden: Catull gibt tatsächlich nur das wieder, was Lesbia einst sagte; führt man dieses Sprechverständnis weiter, könnte es sogar sein, dass Catull aufgrund seines Gemütszustandes gar nicht mehr in der Lage ist, selbst zu sprechen. Das erlittene ‚Unrecht‘ (invidia) macht ihn im ersten Distichon eventuell sogar sprachlos und er kann nur die Worte der Lesbia wiedergeben. Sein eigenes Gedicht ließe ihn demnach passiv erscheinen.

Dieses raffinierte Spiel der Sprache findet seinen Höhepunkt im siebten Vers des Epigramms: ‚Wie ist das möglich? Fragst du‘ (Qui potis est? Inquis: v. 7). Einerseits können wir diese Frage als erneut als Wechsel zwischen direkter und indirekter Rede auffassen, soll heißen, das Epigramm wäre ein Dialog zwischen Catull und Lesbia. Betrachten wir das Wort inquis (‚du fragst‘) jedoch gleichfalls unter dem Aspekt der Ambiguität, so kann die eingeschobene Frage nicht mehr nur auf Lesbia bezogen werden: Genauso könnte die Frage rhetorisch an die Leserinnen und Leser gerichtet sein. Dies würde bedeuten, dass die Präsenz von Lesbia in carm. 72 vom Anfang bis zum Ende immer weiter schwinden und an ihre Stelle die Leserschaft treten würde, mit der der Dichter die Konversation weiterführt. Catull hätte in diesem Fall wieder eine eindeutig aktive Rolle.

Was sagt uns Catull heute?

Catull zeigt sowohl Chauvinismus als auch Selbstbestimmung. Lesbia hat als Objekt der sexuellen Begierde in seiner gedanklichen und auch praktischen Umwelt ihren festen Platz. Gleichzeitig schützt ihn seine rationale Analyse der Beziehung vor den Fängen des Selbstmitleids und einer depressiven und lähmenden Haltung. Catull unterliegt stellvertretend für uns der Notwendigkeit, mit der zerbrochenen Beziehung umzugehen.

Dabei beeinflussen die aktiven und passiven Rollen der beteiligten Akteure natürlich die Leserinnen und Leser. Nicht zuletzt geht es auch darum, wie die Liebenden mit dem Scheitern ihrer Liebe umgehen, wer nach einem Liebesdrama aktiv und zum Handeln fähig bleibt und wer sich eher in die Passivität zurückzieht. Und ob es möglich ist, dass man sich im Liebeskummer über die emotionalen Konflikte erheben und rational über die Beziehung nachdenken kann? Dies sind Fragen, die uns heute vielleicht sogar noch eher betreffen als die Menschen in der Antike, werden wir als moderne Menschen doch viel mehr durch Individualismus, Selbstbestimmung, Macht und Stärke charakterisiert. Und auch nach dem Scheitern einer Liebe gilt, wie schon die Beatles wussten: „There’s nothing you can do that can’t be done“.

Literatur

Ausgaben und Übersetzungen
Bardon, Henry (1973). Catulli Veronensis Carmina. Stuttgart.
Mynors, R. A. B. (1958). C. Valerii Catulli Carmina. Oxford.
Albrecht, Michael von (2008). C. Valerius Catullus. Sämtliche Gedichte Lateinisch – deutsch / Übersetzt und herausgegeben. Stuttgart.
Holzberg, Niklas (2009). C. Valerius Catullus. Carmina, Gedichte (Sammlung Tusculum). Düsseldorf.
Mulroy, David D. (ed.). The Complete Poetry of Catullus. Madison 2010.

Kommentare
Kroll, Wilhelm (1968). C. Valerius Catullus. Herausgegeben und erklärt. 5. Aufl. Stuttgart.
Thomson, Douglas (2003). Catullus. Edited with a Textual and Interpretative Commentary. 2. Aufl. Toronto.

Sekundärliteratur
Konstan, David (1972). “Two Kinds of Love”. In: The Classical Journal 68, 102-106.
Skinner, Marilyn B. (ed.) (2011). A Companion to Catullus, Malden /MA.
Stevens, Benjamin Eldon (2013). Silence in Catullus. Madison.
Syndikus, Hans Peter (2001). Catull. Eine Interpretation. Dritter Teil. Die Epigramme (69-116). Darmstadt.


4. Carm. 87: Von Catull und Elliot Page – ‚Inversion of gender‘ in Antike und Gegenwart 

Christian Gänzle, Franziska Hirth, Jana Kemmler

1936 Wörter, Lesedauer: ca. 6 Minuten

Keine Frau kann mit Recht sagen, sie sei so sehr geliebt worden,
wie meine Lesbia von mir geliebt worden ist.
Keine so große Treue gab es jemals in irgendeinem Bund,
wie sie sich in der Liebe zu dir auf meiner Seite gezeigt hat.

(Übersetzung: Holzberg 2009, 177)

Nulla potest mulier tantum se dicere amatam
   vere, quantum a me Lesbia amata mea est.
Nulla fides ullo fuit umquam foedere tanta,
   quanta in amore tuo ex parte reperta mea est.

„We know who we are. People cling to these firm ideas about gender because it makes people feel safe. But if we could just celebrate all the wonderful complexities of people, the world would be such a better place.“ (Elliot Page, zit. nach Steinmetz 2021)

Gesellschaftliche Konstruktion von gender in Antike und Gegenwart

Elliot Page hat mit seinem öffentlichen Transgender- Outing den safespace der gesellschaftlichen Komfortzone verlassen und auf die Trennung von Körperlichkeit und geschlechtlicher Zugehörigkeit aufmerksam gemacht. Die Abgrenzung der sogenannten Genderidentität (gender) vom biologischen Geschlecht (sex) des heutigen Diskurses wird insbesondere durch Judith Butler hervorgehoben (s. oben der Beitrag zu carm. 2, 2b und 3). Diese Unterscheidung bildet den Grundstein für den Fortgang dieses Essays. Eine Verbindung von Page und Butler zu Catulls Gedichten scheint bedingt durch den zeitlichen Abstand von 2000 Jahren auf den ersten Blick weit hergeholt. Doch die scheinbare Geschlechternorm ist in ihrer Dynamik tief im historischen Kontext verankert.

In der Antike waren die Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit weniger an das biologische Geschlecht, sondern vielmehr an Machtverhältnisse im Hinblick auf physische und psychische Aktivität und Passivität gebunden. Beiden Diskursen, sowohl dem antiken als auch dem modernen, bleibt dabei die konstruierende Praxis (doing gender) von Geschlechtsidentitäten als sozialer Prozess gemeinsam. Wie auch Simone de Beauvoir bereits feststellte, wird das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Geschlecht durch die Gesellschaft geschaffen: Man fühlt sich somit nicht aufgrund des biologischen sex dem weiblichen Geschlecht zugehörig, sondern aufgrund von weiblich konnotierten Eigenschaften: Man wird zur Frau gemacht.

Catull scheint diesen Prozess des ‚Geschlecht-Werdens‘ in seinen Texten in besonderem Maße aufzugreifen: So wie Elliot Page das Konstrukt von Männlichkeit und Weiblichkeit im modernen Diskurs neu definiert, löst der antike Autor in seinen Gedichten die gesellschaftlichen Machtverhältnisse von aktiv und passiv auf. So soll im Folgenden deutlich gemacht werden, dass das Normgeschlecht durch Sozialisationsprozesse der vorherrschenden gesellschaftlichen Ordnung geschaffen wird und nicht an das biologische Geschlecht gebunden ist. Durch das Phänomen der gesellschaftlichen Normierung entsteht ebenso viel Raum zur Dekonstruktion von sozial normierten Geschlechtergrenzen, den Catull und Page sich auf ihre Weise zu Nutze machen.

Beide verdeutlichen, dass die „wonderful complexities of people“ (Steinmetz, 2021) die Mehrdimensionalität der nicht biologischen Geschlechtlichkeit widerspiegeln. Diese schlagen sich in carm. 87 sowohl auf sprachlicher als auch auf inhaltlicher Ebene nieder. Daher soll ausgehend von antiken Vorstellungen der Weiblichkeit und Männlichkeit auf die ins Wanken geratenen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern eingegangen werden. Daraufhin wird die gender inversion Catulls unter dem Begriff der Effemination verdeutlicht und in den Kontrast zu Elliot Pages Entwicklung gestellt.

Antike Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit

In der Antike waren die sozialen Geschlechterverhältnisse klar strukturiert. Neben der binären Kategorisierung in Männlichkeit und Weiblichkeit, war es hauptsächlich die Einteilung in Aktivität und Passivität, Macht und Machtlosigkeit, die diese Verhältnisse prägte. Die aktive Rolle wurde mit Männlichkeit assoziiert und war in der Regel eben auch solch biologisch männlichen Akteuren vorbehalten. Somit konnte Männlichkeit durch Macht und Aktivität erworben werden. Diese ist jedoch nicht statisch zu verstehen: der Verlust drohte durch die Ausübung unmännlicher Verhaltensweisen. Darunter fällt neben der physischen und psychischen Passivität auch die Emotionalität (mollis), die der eigentlichen Aktivität und Unnachgiebigkeit bzw. Härte (durus) weichen.

Catull spielt in seinem Gedicht mit den römischen Geschlechterverhältnissen und kehrt sie um. Gerade in carm. 87 kommt dies zum Ausdruck, indem Lesbia entgegen römischen Gepflogenheiten den männlichen Catull kontrolliert und sich in ihrer übergeordnete Position in eine ungewohnte Machtasymmetrie begibt (dura Lesbia). Dahingegen gibt sich Catull ungewohnt emotional (Catullus mollis).

Machtverhältnisse im Wanken – Balance und Dysbalance in carm. 87

Vordefinierte Machtverhältnisse geraten ins Wanken und reißen undefinierten Raum als Kluft zwischen sozial festgesetzten Strukturen auf. Was bisher auf der Makroebene der Gesellschaft thematisiert wurde, findet sich in Catulls Gedicht auf persönlicher Ebene wieder: Carm. 87 thematisiert die Liebesbeziehung zwischen dem lyrischen Ich und seiner Geliebten Lesbia. Die Komplexität einer solch zwischenmenschlichen, emotional tiefgreifenden Bindung bietet dabei viel Spielraum für Grenzverschiebungen im Hinblick auf die Mobilität von Geschlechterrollen. Catull greift diese Komplexität auf und formt sie in die Umkehrung der gesellschaftlich vorstrukturierten geschlechtlichen Machtverhältnisse (inversion of gender) um.

Dies erfolgt dadurch, dass Catull das lyrische Ich nicht endgültig an einen aktiven, und damit männlichen Part bindet. Denn die anfänglich scheinbare Balance der Liebesbeziehung in carm. 87 bleibt lediglich eine Illusion, die sich auflöst, sobald man den abschließenden Vers in amore tuo als ‚in der Liebe zu dir‘ und nicht ‚in deiner Liebe‘ versteht. Hierbei bedient sich Catull einer syntaktischen Ambiguität, die in der gegensätzlichen Lesart des Possessivpronomens tuo im Ausdruck deutlich wird. Diese besteht auf der einen Seite in der subjektiven Auslegung des Pronomens „in deiner Liebe“, oder dahingegen in einer objektiven Auslegung „in der Liebe zu dir“. Der gleichmäßig balancierten Sprache, die unter anderem im parallelen Aufbau des Distichons zum Ausdruck kommt, steht der nicht ausbalancierte Inhalt gegenüber, der sich beispielsweise durch die Ambiguität in amore tuo zeigt.

Denn nach der scheinbaren Klärung der Liebesbeziehung zu Beginn mit Catull als aktivem Liebhaber und Lesbia als Geliebter lässt er den Lesenden in einer neu aufgeworfenen Unsicherheit zurück. Mit Catulls aktiver Rolle geht nicht die Macht über die Beziehung einher, die er gerne verkörpern würde. Stattdessen wird Lesbia durch ihre Passivität und Distanz Macht zugeschrieben, indem sie Catulls stark ersehnte Liebe nicht erwidert. Dadurch neigt sich das Machtgefälle zu ihren Gunsten: Catull fordert etwas von ihr, das sie ihm nicht zugestehen möchte.

Die zwiespältige Lage und die unklaren Verhältnisse in seiner Beziehung zu Lesbia werden auch auf der sprachlichen Ebene greifbar und verstärken die ambige Grundstimmung der Liebe zwischen den beiden. Die Ambiguität stellt für den Lesenden die Brücke zwischen Inhalt und Sprache dar. Obwohl Lesbia durch ihre Stille augenscheinlich die passive Rolle einnimmt, hat sie gerade deshalb in der Beziehung zum lyrischen Ich die Oberhand. Ihre Passivität ist nicht Ausdruck von Machtlosigkeit, sondern zeigt die aktive Ablehnung Lesbias gegenüber Catull in ihrer ganz eigenen Machtdynamik. Lesbia kontrolliert entgegen römischen Gepflogenheiten den männlichen Catull und begibt sich in eine übergeordnete Position in einer ungewohnten Machtasymmetrie.

Effemination als Ausdruck von gender inversion

Durch diese Umkehr des Machtverhältnisses nimmt Catull eine klagende Rolle ein und gibt sich für die römische Zeit in seinem Gedicht ungewohnt emotional. Eine solche Adaption an eine gesellschaftlich vordefinierte Art von femininem Verhalten beschreibt das Phänomen der Effemination.

Diese ‚Verweiblichung‘ lässt sich nicht nur auf ihn selbst, sondern auch auf typisch römische Begriffe übertragen. Beispiele hierfür sind ‚Treue‘ (fides) und ‚Bündnis‘ (foedus), die normalerweise im römischen Vertragssystem zu finden sind. Diese werden aus ihrem typisch männlich geprägten Umfeld gerissen und von Catull auf die Welt der Liebeselegie übertragen, sozusagen effeminiert. Nicht ohne Grund kommt diesen in carm. 87 (fides und foedere in Vers 3) vorkommenden Begrifflichkeiten große Bedeutung zu. Sie erinnern an die Pflicht, die Lesbia nicht erfüllt, da die römische Bündniswelt reziproke Beziehungen erforderte. Dass nur ein Partner das Bündnis erfüllt, war nicht denkbar. Dies scheint hier jedoch der Fall zu sein: Lesbia reagiert nicht auf Catulls emotionalen Ausbruch, vielleicht hat sie es auch nicht nötig. Damit nimmt sie Eigenschaften an, die als typisch männlich gelten, so zum Beispiel die oben beschriebene Härte und Unnachgiebigkeit. Durch die Umkehr der Geschlechterrollen entsteht eine gender dissonance.

Wichtig zu bemerken bleibt indes, dass die Effemination eine abwertend gemeinte Verweiblichung darstellt. Somit erfüllt sie eher den Zweck eines sprachlich- stilistischen Mittels als einer empathischen Perspektivübernahme des dominierenden männlichen Geschlechts ins weibliche. Catull bewegt sich zeitweise weg von seinem biologischen hin zum weiblichen Geschlecht, verweilt dabei aber stets auf der sprachlichen Sinnebene im Sinne einer rein stilistischen Effemination. Im Gegensatz dazu grenzt sich Elliot Pages Intention ab, sie legt die Gewichtung auf die empowernde Funktion des gesellschaftlichen Geschlechterdiskurses. Die Lage der römischen Frauen wurde durch die kurzzeitige dichterische Umkehrung der Geschlechterrollen in Catulls Epigrammen natürlich nicht verbessert. Die Dysbalance der Macht bleibt, wie auch die sprachlich ambige Grundstimmung des Gedichts, erhalten. Gerade in der Übereinkunft der reziproken Dysbalancen zwischen Catull und Lesbia im Kleinen, der römischen Gesellschaft im Großen und der sprachlichen Darstellung im Gedicht entsteht eine einende Balance der Ungleichheit.

Hierbei wird durch Catulls geschickte Darstellung verdeutlicht, mit welchen Konflikten Männer in der römischen Zeit konfrontiert wurden: Durch die bereits beschriebene weiblich konnotierte Emotionalität gerät die damals gewollte Machtposition und Stärke des Mannes ins Wanken. Die geforderte Selbstkontrolle ließ Abschweifungen in ein solch weibliches Milieu nicht zu und verhindert eine solche Abweichung von männlichen Stereotypen durch sozialen Druck. Der Handelnde ist zwar im Rahmen der römisch männlichen Identität aktiv, ist durch diesen Zwang zur Männlichkeit und durch die Ablehnung ‚unmännlichen‘ Handelns allerdings seiner Freiheiten beraubt und wird in eine emotionale Passivität gezwungen.

Dekonstruktion der Geschlechtlichkeit bei Catull und Elliot Page

Abschließend lässt sich sagen, dass Catull es schafft, dieser emotionalen Unterdrückung literarisch zu entfliehen. Wie in der obigen Darstellung gezeigt wurde, bricht er in seinem Gedicht mit den römisch vorstrukturierten Geschlechterverhältnissen. Er nutzt dabei Stilmittel, die auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene die ambige Stimmung des Gedichts ergänzen und fördern. Die Umkehr des Geschlechts (inversion of gender) kommt in einem starken Machtgefälle zum Ausdruck, das sich entgegen der römischen Norm zugunsten Lesbias neigt. Wichtig ist jedoch, dass Catull mit Geschlechterverhältnissen im Rahmen seiner poetischen Tätigkeit spielt. Dieses Spannungsfeld zwischen Aktiv und Passiv, Macht und Machtlosigkeit bleibt auf die Grenzen seiner Gedichte beschränkt. Catull kann daher schwerlich als Fürsprecher weiblicher Machtpositionen gesehen werden. Obwohl er im Gedicht die passive Rolle einnimmt, bleibt er als Dichter immer in der aktiven Rolle. Er entscheidet darüber, wer den aktiven oder passiven Part übernimmt. Somit behält er immer die größte Machtposition, auch wenn Lesbia mit einer gewissen Macht über das lyrische Ich ausgestattet zu sein scheint. Das Spiel mit den Geschlechter- und Machtverhältnissen und deren Umkehr ist im Gedicht nur möglich, da sie zuvor in der römischen Gesellschaft eindeutig festgelegt wurden. Durch ihre Beschränkung auf die literarische Welt werden sie indirekt in der tatsächlichen Realität der römischen Gesellschaft bestätigt. Dass Lesbia tatsächlich Macht und eine Stimme erhält, wäre in der Antike nicht denkbar gewesen.

Auch Elliot Page bewirkte mit seinem Outing eine, durch die mediale Aufmerksamkeit vorübergehende Dysbalance: Gesellschaftlich gefestigte Normen wurden abermals durchbrochen und stattfindende Verhandlungsprozesse der Genderthematik gewannen neuen Aufwind. Ausschlaggebender Unterschied zwischen Page und Catull ist, dass die gender inversion nicht als Mittel zum Zweck vollzogen wurde, sondern in der Moderne als Selbstzweck Bestand hat. Das Outing stellt kein sprachliches Stilmittel, sondern das empowerment des gesellschaftlichen Diskurses dar. Elliot Page setzt Catulls lyrisches Gedankenspiel in den realen Kontext der Genderthematik um. Beide Akteure finden im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Entwicklung großen Anklang in der Öffentlichkeit.

Im Anschluss an die anfängliche These, dass durch das Phänomen der gesellschaftlichen Normierung ebenso viel Raum zur Dekonstruktion von sozial normierten Geschlechtergrenzen entsteht, den Catull und Page auf ihre Weise nutzen, lässt sich schlussfolgern, dass Page es in der Moderne im Gegensatz zu Catull vermag, Spannungen der Genderproblematik aktiv anzusprechen und Grenzen neu zu positionieren. Die Dysbalance wird durch die Konfrontierung langsam in ein Verhältnis der Balance gebracht, indem die Genderthematik neue soziale Aushandlungsprozesse generiert. Die normative Binarität scheint sich allmählich aufzulösen und in eine Kultur der Ambiguität überzugehen. Die Uneindeutigkeit von Geschlechtergrenzen wird in ihrem Spannungsfeld ausgehalten und ermöglicht einen fortwährenden gesellschaftlichen Kommunikationsdiskurs.

Literatur

Ausgaben und Übersetzungen
Bardon, Henry (1973). Catulli Veronensis Carmina. Stuttgart.
Mynors, R. A. B. (1958). C. Valerii Catulli Carmina. Oxford.
Holzberg, Niklas (2009). C. Valerius Catullus. Carmina, Gedichte (Sammlung Tusculum). Düsseldorf.

Sekundärliteratur
Beauvoir, Simone de (2018). Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. 18. Aufl. Reinbek bei Hamburg.
Greene, Ellen (2006). „Catullus, Caesar and Roman Masculine Identity“. In: Antichthon 40, 49–64.
Holzberg, Niklas (2002). Catull. Der Dichter und sein erotisches Werk, München.
Knape, Joachim (2021). “Seven Perspectives of Ambiguity and the Problem of Intentionality.” In: S. Frangoulidis / Th. Fuhrer / M. Vöhler (eds.), Strategies of Ambiguity in Ancient Literature, Berlin, 381–404. Link (letzter Zugriff: 07.04.2021)
Konstan, David (1972). “Two Kinds of Love”. In: The Classical Journal 68, 102–106.
Skinner, Marilyn B. (1997). “Ego mulier: The Construction of Male Sexuality in Catullus.” In: Judith P. Hallett / Marilyn B. Skinner (eds.), Roman Sexualities, Princeton University Press.
Steinmetz, Kathy (2021). “Elliot Page on His Identity and Where He Goes From Here”. In: Time Magazine. Link (letzter Zugriff: 26.03.21).
Stevens, Benjamin E. (2013). Silence in Catullus, Madison.
Syndikus, Hans Peter (2001). Catull. Eine Interpretation. Dritter Teil. Die Epigramme (69–116). Darmstadt.
Thomas, Richard (2021). “Catullan Ambiguity”. In: S. Frangoulidis / Th. Fuhrer / M. Vöhler (eds.), Strategies of Ambiguity in Ancient Literature, Berlin, 251–272. Link letzter Zugriff: 07.04.2021)