Herausforderungen durch Kontroversität in Schule und Hochschule
Die Herausforderungen eines angemessenen Umgangs mit Kontroversität in (außer-)schulischen Kontexten sowie einer entsprechenden Ausbildung von Lehrkräften an Hochschulen standen im Mittelpunkt des Fachgesprächs »Herausforderung Kontroversität in Schule und Hochschule«, das vom 12.-13.2.2024 im LpB-Tagungszentrum Haus auf der Alb in Bad Urach stattfand. Initiiert und durchgeführt wurde das Gespräch von der Special Interest Group (SIG) »Kritisches Denken und darüber hinaus – Normative Fragen in der Lehrerbildung« gemeinsam mit der LpB. Die SIG ist eine Gruppe von Forscher*innen der Universität Tübingen, die sich mit normativen Fragen (in) der Lehramtsausbildung auseinandersetzt. Sie ist an der Tübingen School of Education angesiedelt. Aus dem IZEW gehören ihr Uta Müller, Simon Meisch und Thomas Potthast an.
Ausgangspunkt des Fachgesprächs war die Beobachtung, dass kontroverse Themen unabhängig vom Schulfach zunehmend Gegenstand des schulischen Unterrichts werden. Teilweise wird diese Entwicklung durch die Bildungspläne gefördert, teilweise tauchen gesellschaftliche Kontroversen ungeplant im Unterricht auf. Sie fordern auch die Schule als soziales System heraus. Nun ist die Tatsache, dass Themen kontrovers diskutiert werden, Ausdruck einer lebendigen politischen Kultur in pluralistischen Gesellschaften und als solche noch nicht problematisch. Herausforderungen ergeben sich aber, wenn etwa in polarisierten Gesellschaften der Bezug auf gemeinsame Standards oder Situationsbeschreibungen fraglicher wird. Gleichzeitig stellen sich spezifische Herausforderungen für Bildungskontexte. Viele Lehrende suchen dabei nach Orientierung. Hier sind auch die anwendungsorientierte Ethik und die Ethikdidaktik gefragt.
Eine solche Orientierungsmarke ist der Beutelsbacher Konsens, auf den man sich in den 1970er Jahren für die politische Bildung verständigte. Dieser Konsens besteht aus drei Grundsätzen: Das Überwältigungsverbot untersagt es, die Lernenden »im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ›Gewinnung eines selbständigen Urteils‹ zu hindern«. Das Kontroversitätsgebot fordert, dass »[was] in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, […] auch im Unterricht kontrovers erscheinen« muss. Die Orientierung an den Lernenden besagt, dass sie in die Lage versetzt werden müssen, eine politische Situation und ihre eigenen Interessen zu analysieren. Es ist leicht einzusehen, warum der Konsens für viele Lehrkräfte so attraktiv erscheint, wenn sie mit kontroversen Themen konfrontiert werden.
In der Praxis zeigen sich jedoch immer wieder Herausforderungen bei der Anwendung und Auslegung des Beutelsbacher Konsenses. Hier ergibt sich auch eine Aufgabe für die Ethik. Oft wird der Beutelsbacher Konsens von Lehrpersonen als eine Verpflichtung zur Wertneutralität verstanden. Tatsächlich ist dies gerade nicht geboten, denn Lehrkräfte sind der freiheitlich demokratischen Grundordnung (FDGO) verpflichtet und müssen den Konsens auch in dieser Hinsicht auslegen. In der politischen Bildung wird zur Bestimmung der Grenzen von Kontroversität oft die FDGO und dazugehörige Rechtsprechung herangezogen. Aus Sicht der Ethik kann eine derart pragmatische Lösung allerdings die Rekonstruktion und Begründung von moralischen Urteilen zum angemessenen Umgang mit Kontroversität nicht ersetzen.
Inzwischen zeigt sich, dass der Beutelbacher Konsens auch von Lehrenden außerhalb der Politikdidaktik genutzt wird. Kontroverse Themen können und sollen schließlich in allen Fächern auftauchen. Dies wirft allerdings die Frage auf, ob der Konsens überhaupt eine Orientierung für andere Fächer bieten kann und wie diese seine Grundprinzipien in eigene fachdidaktische Leitlinien übersetzen können. Die Philosophie- und die Religionsdidaktik haben hier erste Schritte unternommen. Ihr Bezug auf den Beutelbacher Konsens liegt auf der Hand.
Die Diskussionen haben vielfältige Aufgaben für die anwendungsorientierte Ethik aufgezeigt. Dazu gehören Beiträge zum besseren Verständnis der Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses, insbesondere des Umgangs mit Kontroversität, oder zur Klärung wissenschaftstheoretischer und sozialethischer Herausforderungen.
Verfasst von: Dr. Simon Meisch