Deutsches Seminar

10. Nachwuchsforum: Münster 2004

Schachspiel und Ständeordnung

Vom 10.-12. Juni 2004 fand das 10. mediävistische Nachwuchsforum in Münster statt, wo inzwischen zwei Teilnehmerinnen des Nachwuchsforums, Pamela Kalning und Franziska Küenzlen, forschen und lehren. Dort bot uns das Institut für Deutsche Philologie I in der Johannisstraße die Möglichkeit, das über fünf Jahre erprobte Gespräch auch im Austausch mit Münsteraner Kolleginnen fortzuführen. Das dort im Teilprojekt im SFB 'Symbolische Kommunikation' verhandelte Schachspiel prägte mit seinen 'Zabelwortelîn', der Schachterminologie, auch den Tagungsverlauf; Fragen zur Ständedidaxe, die mit der Allegorese der Schachfiguren verbunden sind, verbanden sich mit einem geographischen Schwerpunkt um das spätmittelalterliche Nürnberg.

Der einleitende Vortrag von Carsten Kottmann: ›Was ist eine Perikopenhandschrift?‹, verband den Versuch einer Terminologie der deutschsprachigen Überlieferung mit grundsätzlicher Quellen- und Forschungskritik. Die Nennungen in Bibliothekskatalogen (ein plenirbuch mit epistel und ewangeli) wurden zur kritischen Überprüfungen der Lexikonartikel zum Plenarium herangezogen. Der reiche Nürnberger Bestand bietet u.a. die Möglichkeit, an den Handschriften die Beschreibungen der zeitgenössischen Kataloge konkret zu fassen. Welches literarisches Spektrum in der Zeit der Entstehung der Perikopenhandschriften, dem 14. Jahrhundert, sich bereits volkssprachlich entwickelt hatte, zeigte der Vortrag von Sandra Linden zur Intertextualität im ›Friedrich von Schwaben‹, in dem passagenweise Reden, Motive und Namen aus den höfischen Romanen des 13. Jahrhunderts zitiert und kontrafaziert werden, wenn sich etwa die Heldin von der Handlungsweise Gyburgs, der Frau Willehalms, absetzt, indem sie Dialoge aus dem ›Willehalm‹ zitiert; gemeinsam ist den reicher überlieferten Texten des beginnenden späten Mittelalters die Problematik des Umgang mit der Überlieferung, v.a. bei Editionen: wie stark soll etwa normalisierend in die Leithandschrift eingegriffen werden?

Zurück in die Zeit der klassischen höfischen Romane führte der Vortrag von Cora Dietl, der sich der Kategorie des Fremden anhand der Romanfiguren Isolt und des Feirefiz näherte, deren fremdländische Herkunft sich in ganz unterschiedlicher Weise äußert: Ist sie bei Feirefiz durch sein "gepariertes" Erscheinungsbild sichtbar (und mit der Art der Musterung auch die Verbindung zum Schachspiel hergestellt!), so läßt sich bei Isolde die Besonderheit, daß ihr Vater Gurmun aus Afrika kommt, nur indirekt als Fremdheitssignal eruieren, wenn man ihre Figur als Kontrafaktur des Feirefiz liest. Direkt zum Schachspiel sprach Pamela Kalning, die anhand eines Exempels zur Freundschaft die Probleme des Verhältnisses von Allegorese und Exempelgebrauch im Schachbuch Konrads von Ammenhausen erörterte. Henrike Lähnemann fragte anhand der Episode von der Belehrung der Bauern über die Ständeordnung des ›Renner‹ (aus der die titelgebende Illustration stammt) danach, welche Formen von Nachweisen und Lesehilfen für welches Publikum bei einer Internet-Präsentation sinnvoll integriert werden.

Der zweite Münstertag begann mit einem historischen Überblick über die mittelalterliche Stadtentwicklung bis zum Westfälischen Frieden bei einem Rundgang vom Friedenssaal zu den wichtigsten Kirchen und dem Westfälischen Landesmuseum. Der erste Nachmittagsvortrag führte uns dann auch weiter in Münsteraner Projekte ein: Unter dem Titel ›Schach spielen und Schachspiel in der deutschen Literatur des Mittelalters‹ erläuterte Marja Kolde-Loges die Spannbreite des Themas, das sich von der Lyrik über die Artusepik bis zur didaktischen Literatur in den verschiedensten Spiel-Arten findet. Im Vordergrund standen Überlegungen, wie das disparate Material sinnvoll zu erschließen sei: über einen Gattugnszugriff oder eher über die jeweilige Ebene, auf der das Spiel eingesetzt wird - als Allegorie, als Todessymbol, als Indiz höfischen Handelns? Die Hinweise des Vortags auf Nürnberger Belege und Quellen verdichteten sich in dem folgenden ›Nürnberg-Block‹, der mit der Analyse der Strategien von Gedächtnisbildung in Rosenplüts ›Lobspruch auf Nürnberg‹ von Matthias Kirchhoff begann. Gleichzeitig wies er daraufhin, wie sich die typische Nürnberger soziale Konstellation der zunftlosen Stadt literarisch niederschlägt und knüpfte damit auch an den ständischen Aspekt des Schachspiels an. Martina Schuler stellte dann ihre Überlegungen zur Neuedition und Kommentierung von vier gemeinsam überlieferten Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts vor, die bislang nur unzureichend ediert und entsprechend wenig in der Forschung beachtet sind.

Der Samstag war dann einerseits Projekten gewidmet, bei denen sich auch zeigte, wieviel an "Beratungskompetenz" sich inzwischen im Kreis des ›Nachwuchsforums‹ entwickelt hat. Bei Franziska Küenzlen ging es um Ideen und Konzeptionen für die Habilitation, die gemeinsam auf ihre Tragfähigkeit und Positionierung in der Forschungslandschaft (wie aktuell? wie ergiebig?) geprüft wurden, bei Antje Wittstock um Denkanstöße, die sie aus ihrem Proseminar zu "Denkräumen" mitbrachte und die wir gemeinsam didaktisch diskutierten. So war genug Diskussionsstoff vorhanden, um auch den abschließenden gemeinsamen Ausflug nach Rüschhaus, in das Wohnhaus von Annette von Droste-Hülshoff, zu füllen, sowie die unbeabsichtigt lange Rückfahrt nach Tübingen (mit dreifacher Zugverspätung).

Die Frauenkommission der Neuphilologischen Fakultät und das Graduiertenkolleg ›Ars und Scientia‹ haben in großzügiger Weise diese Ausweitung des Gesprächs über die Tübinger Universitätsgrenzen hinweg gefördert.

PD Dr. Henrike Lähnemann
(Deutsches Seminar)