Deutsches Seminar

17. Nachwuchsforum: Tübingen 2010

Handschriften, Edition, Interpretation

Am 19. und 20. März 2010 traf sich das Mediävistische Nachwuchsforum in Tübingen zu seinem mittlerweile siebzehnten Austausch. In einem dichten und vielschichtigen Programm mit 15 Beiträgen wurden vor allem Dissertationsprojekte diskutiert, aber auch andere Forschungsvorhaben vorgestellt. Zudem boten zwei Beiträge einen Einblick in Berufsfelder und eröffneten damit eine Perspektive auf die Zeit nach der Promotion.

Eine Reihe von Beiträgen widmete sich editorischen Fragen: MATTHIAS KIRCHHOFF (Tübingen) stellte ein Editionsvorhaben zu dem 1468 in Nürnberg abgeschlossenen Gedenkbuch des Niklas Muffel vor. Anhand einer Beispielpassage wurde Einblick in die Editionspraxis gegeben, so wurde etwa der Charakter und Umfang des Kommentars diskutiert, der angesichts der Tücken des Frühneuhochdeutschen neben Sachinformationen auch umfangreiche sprachliche Erläuterungen und Übersetzungshilfen bieten soll. Die von GUDRUN FELDER (Düsseldorf) vorbereitete Leseausgabe der ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin bot die Möglichkeit, über Fragen der Normalisierung z.B. im Bereich der Metrik nachzudenken. Die auf ein studentisches Publikum zielende Ausgabe soll neben dem Lesartenapparat umfangreiche Übersetzungshilfen und Worterläuterungen bereitstellen, die bereits in frühen Studiensemestern die Beschäftigung mit dem Originaltext ermöglichen. ANNE AUDITOR (Tübingen) sprach über ihr Dissertationsprojekt zur 1391 geschriebenen Innsbrucker Spiel-Handschrift (Universitätsbibliothek Innsbruck, Codex 960), die ein Mariä-Himmelfahrt-Spiel, ein Osterspiel und ein Fronleichnamsspiel enthält. Hier ging es vor allem um die bei Editionen mittelalterlicher Spiele relevante Frage, wie man die Aufführungssituation der Texte in der Ausgabe angemessen berücksichtigen kann und wie editorisch mit den Randbemerkungen in der Handschrift umzugehen ist.

Ebenfalls von der Arbeit mit Handschriften berichtete REBEKKA NÖCKER (Tübingen), die einen schlesischen Überlieferungsverbund des ›Proverbia Esopi‹-Kommentars des Anonymus Neveleti präsentierte und nach den Entstehungs- und Gebrauchskontexten der Handschrift BUWr, II Q 33 fragte. Nach einem Überblick zum dominikanischen Schulsystem in der polnischen Ordensprovinz wurde das Programm der Handschrift analysiert, in der sich der Fabelkommentar als einziger Artes-Text von den übrigen, stärker auf die liturgische und seelsorgerische Praxis bezogenen Schriften absetzt. Aus einem ganz anderen Blickwinkel beleuchtete ANNE SEDLMAYER (Berlin) den Umgang mit Wissen, indem sie die Kontextualisierung der Kriegslehren und die Pragmatisierung des Wissens in Wittenwilers ›Ring‹ untersuchte. Es konnte gezeigt werden, wie die Figuren verschiedene Wissenspositionen agonal gegeneinander führen und der Autor das Wissen als ein Instrument zur Modellierung der narrativen Welt nutzt. Mit der Wissensvermittlung in der Lehrdichtung beschäftigte sich CHRISTOPH SCHANZE (Gießen), der eine Gesamtgliederung seines Promotionsprojekts zum ›Welschen Gast‹ des Thomasin von Zerclaere vorstellte. Die Analyse soll vor allem den systematischen Aufbau des Werks darlegen und damit die Strategie der lehrhaften Vermittlung herausstellen, wobei auf den theoretischen Zugriff über den Wissensbegriff fokussiert wurde. Erfahrungs- und Buchwissen spielten auch im Beitrag von JULIA GOLD (Würzburg) eine Rolle, die mit der von Ulrich Molitoris verfassten Schrift ›Von den unholden oder hexen‹ (1489) den ersten deutschsprachigen Hexentraktat zur Diskussion stellte. Der Traktat ist bisher noch nicht literaturwissenschaftlich erschlossen und verhandelt in Form eines Streitgesprächs Kriterien der Hexennatur, was sich en passant zu einer Erörterung über Verführungsstrategien des Teufels wandelt.

Zur Gattung des Romans leitete SANDRA LINDEN (Tübingen) über, die sich im Rahmen ihres Habilprojekts mit der Frage beschäftigte, wie Exkurse im höfischen Roman eingeleitet werden. In einer Beispielreihe wurde gezeigt, mit welchen rhetorischen Techniken die Handlungsebene hin zu einem reflexiv-normativen Sprechen entgrenzt werden kann und wie die Darstellung am Ende des Exkurses wieder zur Narration überleitet. Einer Fragestellung aus dem Bereich der Narrativik widmete sich auch REINHARD BERRON (Tübingen), der die Funktion der Epitheta ornantia in der Dietrichepik (›Rabenschlacht‹, ›Rosengarten zu Worms‹ in der Version A, ›Laurin‹) untersuchte und zeigen konnte, dass die aus der Oral Poetry stammende formelhafte Kennzeichnung der Figuren über Epitheta keineswegs beliebig erfolgt, sondern zu einer sehr ökonomischen Methode der Charakterisierung avanciert, wobei die Strategien der Zuschreibung je nach Text variieren. Den Bereich des Prosaromans behandelte ROMY STEIGER (Chemnitz), die erste Überlegungen zu ihrem Promotionsprojekt über Sinnstiftung und Erlösung in Thürings von Ringoltingen ›Melusine‹ vorstellte. Es wurde die These aufgestellt, dass Thüring mit Melusines Söhnen alternative Wege der Sinnfindung durchspiele und die Sinn- und Glückserfahrung zugleich problematisiere.

Das Panorama der Beiträge erstreckte sich auch auf den Bereich des geistlichen Sprechens, vor allem in mystischen Texten: ULRICH BARTON (Tübingen) zeigte für den Affekt des Mitleids Parallelen zwischen der Gattung Passionsspiel und der Passionsmystik Heinrich Seuses auf und konnte so eine spezifische Passionsspiellust aus dem ästhetischen geformten mystischen Mitleiden mit Christus herausarbeiten, was durch Überlegungen zu einer Ästhetisierung des Leidens ergänzt wurde. LEA KOHLMEYER (Münster) stellte ihr Dissertationsprojekt zur Darstellung der Seele im ›Fließenden Licht‹ Mechthilds von Magdeburg vor und zeigte in einem narratologischen Zugriff die varianten Sprech- und Erzählinstanzen auf. Neben dem redaktionellen Status der Überschriften wurde vor allem die personifizierte Seele in ihrer Funktion als Sprecherin diskutiert.

Welche Fragen sich bei der Veröffentlichung der Dissertation stellen, diskutierte ANTJE WITTSTOCK (Berlin) anhand ihres Projekts zur Rezeption von Ficinos Melancholiebegriff im deutschsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts. Neben der Vorstellung des Inhaltsverzeichnisses kreisten die Überlegungen vor allem um einen passenden Titel und die Frage, wie man im Titel die nötigen Sachinformationen möglichst präzise formulieren kann.

ASTRID BREITH (Berlin) bot den Forumsteilnehmern einen Einblick in ihre Arbeit bei der Arbeitsstelle ›Deutsche Texte des Mittelalters‹ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und stellte die Erschließung von Handschriften im Handschriftenarchiv (HSA) vor. Im HSA warten 20.000 Handschriftenbeschreibungen auf ihre Erschließung, seit 2005 (›HSA online‹) sind ca. 6000 davon digitalsiert und eingestellt worden. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem bisher wenig erforschten Sprachraum des Ostmitteldeutschen. Einen weiteren Einblick in ein für germanistische Mediävisten relevantes Berufsfeld bot uns PAMELA KALNING (Heidelberg) anhand des Digitalisierungs- und Katalogisierungsprojekts der Heidelberger Universitätsbibliothek. An einigen Beispielen von medizinischen und alchemistischen Handschriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert konnte gezeigt werden, wie die Grundlagenarbeit der Handschriftenerschließung aussieht, wobei vor allem die Frage nach dem Nachweis der Autoritätenbezüge diskutiert wurde.

Der Bericht dürfte das breite Panorama der verhandelten Beiträge veranschaulicht haben. Zugleich lassen sich trotz der Vielfalt doch einige rote Fäden durch die beiden Tage des Forums ziehen, die es den Teilnehmern ermöglichten, Querverbindungen zwischen ihren Projekten zu sehen und sich einmal jenseits universitärer Hierarchien auszutauschen. Dabei lag neben den textinterpretatorisch vorgehenden Arbeiten ein Schwerpunkt auf der handschriftlichen und editorischen Erschließung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte – eine Ausrichtung, die durch die beiden Vorstellungen aus dem bibliothekarischen Berufsfeld abgerundet wurde.

Organisation und Bericht: Sandra Linden (Tübingen)